Meine Freundin, Meine Schwester... von Doris Goertz

Home | Meine Freundin, Meine Schwester

Meine Freundin, Meine Schwester

von Doris Goertz


von
Doris Goertz

© Doris Goertz 1993
Published by MARANDA REPROGRAPHICS
Calgary, Alberta 2005
Printed in Canada

Erster Teil
MONTAG, 23.9.1946
Durch das zweistöckige Schulheim ertönte mahnend der Gongschlag zur Abendmahlzeit. Zur Zeit lebten dort vierundfünfzig Knaben und Mädchen des bekannten Münchner Kinderchores. Lachend und mit lautem Geschnatter drängten die Zehn-bis-Fünfzehnjährigen in den im Parterre gelegenen Speisesaal.
"Mei, mei, ned so wuiad!" rief Mimi, die Köchin. Die Kinder liebten diese kleine Frau, auch wenn sie sich untereinander manchmal über ihre Stupsnase und ihr spärliches Schwalbennest lustig machten. Wegen ihrer Körperfülle hatten sie ihr den Spitznamen 'Dampfnudel' gegeben. Mimi verteilte gerade die belegten Schnitten auf dem letzten Tisch, während einige Kinder bereits rätselten, was es am nächsten Tag zum Nachtisch geben würde. Überall scharrten Stühle auf dem Holzfußboden, und erst das Eintreten einiger Lehrkräfte, die auf den Lehrertisch zusteuerten, dämpfte die lauten Geräusche.
Angeführt wurden sie von der Hauslehrerin, dem großen, korpulenten Fräulein Bittrig, wie immer in würdevoller Haltung, die Haare zu einem festen Knoten frisiert. Ihr folgte Frau Martin, mit ihrem braunen, welligen Haar und ihrer zierlichen Figur das ganze Gegenteil von Fräulein Bittrig. Als letzter kam Musiklehrer Dr. Groll, kahlköpfig, mit hoher gewölbter Stirn, dicker Nase und strenger Miene.
Nach dem Tischgebet, das übliche leise Gemurmel und Löffelgeklapper hatte bereits begonnen, trat auf einmal eine weitere Schülerin in den Speisesaal. Ihr Gesicht, die Ärmel und der Rücken ihrer weißen Bluse zeigten schwarze Streifen und Flecken; ihre langen blonden Zöpfe waren leicht gelöst. Sie wollte gerade am Lehrertisch vorbei auf ihren Platz zugehen, als Fräulein Bittrig sie mit erhobener Stimme fragte: "Zu welcher Zeit wird gegessen, Christina?"
Erschrocken sah das Mädchen die Hauslehrerin an. Die anderen Kinder spitzten die Ohren.
"Um sechs."
"Sooo, und wie spät ist es jetzt?"
Christina zuckte die Achseln.
"Ich erwarte eine Antwort von dir!"
"Ich weiß nicht", flüsterte sie und spürte Dr.Grolls strengen Blick auf sich gerichtet.
"Wo bist du gewesen?" fragte Fräulein Bittrig weiter.
Christina suchte nach einer Ausrede, aber es fiel ihr keine passende ein. Hinter ihr erhob sich leises Getuschel.
"Ruhe!" rief Fräulein Bittrig. Daraufhin wiederholte die Hauslehrerin ihre Frage in noch schärferem Ton.
Doch Christina fand keine Antwort und biß sich verlegen auf die Unterlippe.
Jetzt meldete sich Dr.Groll zu Wort: "In unserem Haus ist es üblich, daß auf die Fragen der Lehrkräfte geantwortet wird. Zum anderen ist es üblich, daß man gewaschen und mit sauberer Kleidung bei Tisch erscheint. Ich muß dich bitten, den Speisesaal zu verlassen. Das gibt dir genügend Zeit, über dein Verhalten nachzudenken."
Christina lief blutrot an. Beschämt verließ sie den Speisesaal, ohne auf die schadenfrohen Gesichter der Kinder zu achten.
"Christinas Gesicht sah verweint aus, vielleicht fühlt sie sich nicht wohl", sagte nun Frau Martin. Sie war hauptberuflich Ballettmeisterin am Theater am Gärtnerplatz. Seit ihrer
1

Ausbombung erteilte sie nebenbei den Mädchen des Chores täglich eine Stunde Unterricht, gegen Unterkunft und Verpflegung im Heim. Deshalb verhielt sie sich ihren vollangestellten Kollegen gegenüber in allen Schulangelegenheiten äußerst vorsichtig.
"Ach was", wehrte Fräulein Bittrig entschieden ab, "das waren Abschiedstränen. Sie hatte Besuch von ihrem Bruder, ein richtiger Schlacks. Nein, Frau Martin, man bekommt nie etwas aus ihr heraus, entweder aus Trotz oder reiner Dummheit, ein eigenartiges Wesen."
Frau Martin mußte ihr im stillen recht geben. "Vielleicht ist es Schüchternheit", antwortete sie laut, "denn ihre Leistungen bei mir sind ausgezeichnet."
"Das kann ich von meinem Unterricht absolut nicht sagen", wandte Dr.Groll ein. "Was Traugard an ihrer Stimme gefunden hat, ist mir völlig unklar."
"Er gibt ihr täglich eine Extrastunde", fügte Fräulein Bittrig hinzu.
Groll nickte. "Er verschwendet nur seine Zeit."
"Schwache Leistungen und ein schwacher Charakter!" stimmte die Hauslehrerin zu. "Bereits zwei Tage nach ihrer Ankunft beklagte sie sich über ihre Kameradinnen, weil sie sich ein paar harmlose Streiche erlaubt hatten. Leider trifft Direktor Günther nie eine Entscheidung vor Abschluß eines halben Jahres, und Christina ist schließlich erst seit drei Wochen hier."
"Vielleicht verbessern sich ihre Leistungen bis dahin", beschwichtigte Frau Martin, doch darauf erhielt sie keine Antwort.
"Morgen früh gibt's a weichgekochtes Ei für alle", flüsterte Mimi im Vorbeigehen den Lehrkräften zu.
Bestimmt wieder von Hannelores Eltern. Wer gibt, ist beliebt. Was für Zeiten! dachte Frau Martin.
Trotz ihres fülligen Körpers schob sich die Köchin flink weiter durch die Tischreihen. Auf einem Tablett trug sie vorsichtig das Abendessen für den Herrn Direktor. Er wollte es im Büro zu sich nehmen, da er noch viel zu arbeiten hatte. Ebenfalls auf dem Tablett stand unauffällig ein zweites Kompottschüsselchen, das die Köchin von Christinas Platz geholt hatte, um es ihr auf diese Weise heimlich zukommen zu lassen. Eine Strafe durch Entzug von Speisen, bei der herrschenden Nahrungsknappheit, war in Mimis Sinne höchst gewissenlos.
Sie wollte gerade mit Schwung zur Tür hinaus, als sie direkt dem dünnen Herrn Wetzel in die Arme lief, der, gerade hereintretend, nicht so schnell beiseite springen konnte. Aber außer einer verschwappten Suppe war es noch mal gutgegangen.
Herr Wetzel war Lehrer für Erdkunde und Geschichte. Anfangs hatten sich die Kinder über sein hageres Aussehen lustig gemacht, ihn aber bald wegen seines Humors und seiner kameradschaftlichen Art liebgewonnen. Ihm blieb kaum Zeit "Guten Appetit!" zu wünschen, als auch schon die Kinder durcheinanderriefen. "Wann sehen wir die versprochenen Lichtbilder?"
Mit verschmitztem Lächeln wartete er, bis die Stimmen verebbten, und sagte dann endlich: "Na gut, heute abend!" Stürmische Begeisterungsrufe. Wetzel klatschte dreimal kräftig in die Hände und es wurde wieder ruhiger. "Wir treffen uns um acht Uhr im Tagesraum! Nach dem Essen hätte ich gern einige Jungen zum Beiseiteräumen der Tische und Aufstellen der Stühle!"
Dr. Grolls Befehl, den Speisesaal zu verlassen, war Christina nur recht gewesen. Sie war sofort in den Schlafraum hinaufgegangen.
Dieser war einst, genau wie die drei anderen Schlafräume hier im zweiten Stock, ein Klassenzimmer gewesen. Die von den Kindern mit Buntstift- und Tuschemalereien dekorierte Wandtafel ließ das noch deutlich erkennen. Vor der Tafel standen drei Reihen von jeweils sechs weißen Eisenbetten mit knappem Zwischenraum nebeneinander. Auf der kleinen
2

Holztruhe vor jedem Bett lag nachts die Tageswäsche. Außerdem verfügte jedes Kind über einen schmalen grauen Metallspind. Diese Schränke standen neben den Bettreihen bis zur Tür hinunter an der Wand entlang, gegenüber den drei hohen kahlen Fenstern. Zwei von der Decke hängende nackte Glühbirnen sorgten bei Dunkelheit nur für eine schwache Beleuchtung. Wie in den gesamten Räumen dieses Schulgebäudes, herrschte auch hier musterhafte Ordnung. Nachts standen links neben jedem Bett die Schuhe, tagsüber sah man vereinzelt eine Puppe auf den Kopfkissen.
Christina sah sich ihre Bluse an und stutzte: Rücken und Ärmel zeigten Kohlenschwärze von den verrußten Wänden des zur Zeit noch unbenutzten Heizraumes. Der Tadel war gerechtfertigt. Hatte sie damit etwa ihr Versteck verraten? Nein, man konnte sich auch woanders so beschmieren, und nie würde sie es Fräulein Bittrig erzählen. Der Heizraum, der sollte ihr Geheimnis bleiben.
Säuberlich hängte sie ihre waschreife Bluse über einen Bügel in ihren Spind und zog dann einen Brief aus ihrer Rocktasche. Es war ihr Brief an die Eltern, den sie vor Kurts Ankunft im Heizraum geschrieben hatte, und den er hätte mitnehmen sollen. Oh Kurt! Wie recht er gehabt hatte, daß sie darin um Reisegeld gebeten hatte. Fort von hier wollte sie, nur noch fort. Und jetzt? Trotz Verbot absenden? Nein. Sie zerriß den Brief. Nie, nie wieder würde sie um etwas bitten. Nie wollte sie Kurt wiedersehen, nie mehr wollte sie nach Kiel zurück, nie ...! Mit aller Kraft zerknüllte sie die Papierfetzen zu einem kleinen Bällchen. Am liebsten hätte sie es Kurt an den Kopf geschmissen.
Ein plötzlich ziehender Schmerz im Magen ließ sie in die Knie gehen, und mit zusammengebissenen Zähnen wartete sie, bis er abgeklungen war. Oh Kurt, heute hätte Vater dir nicht sagen können: große Klappe und nichts dahinter. Diesmal war viel dahinter. Gut, daß du hier warst. Sie preßte ihre Hände gegen den Magen. Ob du schon auf dem Bahnhof bist? Oder etwa schon im Zug? Fahr nur und komm nie wieder.
Kurt, ein schmaler, in die Höhe geschossener Achtzehnjähriger, lief eiligen Schrittes zum Bahnhof. Sein dünner Mantel war vom Regen bereits völlig durchnäßt, seine braunen Haare trieften, aber es störte ihn kaum — ungewöhnlich für Kurt, den sonst alles störte, was ihn persönlich betraf. Auch seine freudigen Erinnerungen an die gerade erlebten drei Urlaubswochen bei seinem Freund in Berchtesgaden schienen gewichen. Er hatte dieses Schulheim in München, mit seiner strengen und pedantischen Atmosphäre, eigentlich nie wieder betreten wollen, nachdem er Christina dort vor seiner Weiterreise abgeliefert hatte. Er war wütend auf Christina, auf seine Eltern, auf sich selbst.
War es nicht euer Gebettel gewesen, nochmal bei Stina vorbeizufahren? Nur weil ihr mir Reisegeld gegeben habt. Jawohl, verpflichtet hattet ihr mich, und das habt ihr nun davon: Ein gelungener Kontrollbesuch, so richtig nach Maß! Gleich mit zurückkommen wollte sie, diese Flennsuse, als schwämmen wir im Geld. Dabei hat sie genug zu futtern, die Hauptsache in dieser Zeit, und obendrein 'ne kostenlose Ausbildung. Aber dankbar? Nee, kein Pflichtgefühl, bloß Affentheater. Kurt fluchte in Gedanken. Aber was passiert war, war nun mal passiert. Und wenn sie es schreibt? Verdutzt schaute Kurt auf und blieb gerade noch rechtzeitig stehen: Ein von links kommender Bus rauschte an ihm vorbei. Die Räder spritzten das schmutzige Pfützenwasser wie eine Fontäne auf.
Mantel und Hosenbeine waren beschmutzt, doch das schien Kurt gar nicht bemerkt zu haben. Kaum auf den Verkehr achtend, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, trieb ihn das schlechte Gewissen weiter—in Richtung Bahnhof.
3

Ungesalzenes Kirschkompott, wer hätte da widerstehen können? Aber schon bald nach dem Verzehr des Kompotts fühlte Christina sich schlecht, und Fräulein Bittrig ordnete ihr Bettruhe an. Daß sie dadurch die Lichtbilder aus der Schweiz verpaßte, machte ihr nichts aus. Sie dachte im Augenblick nur an die Menschen, die bisher ihre Welt bedeutet hatten, und deren Denken und Handeln ihr nun unbegreiflich geworden war. Christina wünschte sich, daß dieser Vortrag endlos wäre, doch pünktlich zur Nachtruhe erschienen die anderen siebzehn Mädchen im Schlafraum.
Um neugierigen Fragen auszuweichen täuschte Christina einen ruhigen Schlaf vor. Doch sie lauschte angespannt dem Getuschel um sie herum : "Das verheulte Gesicht..., die schmutzige Kleidung..., die Sprotte..." - ihr heimlicher Spitzname. Dazwischen hörte sie Elkes und Hannelores Ermahnungen, wenn eine Stimme zu laut wurde.
Die beiden Mädchen hatten im Schlafraum für Ruhe zu sorgen, falls Christina schon schlafen sollte; ein eher pflichtbewußter als fürsorglicher Auftrag von Fräulein Bittrig. Doch die zwei nahmen ihre Aufgabe genau, denn die Sache mit dem versalzenen Kompott war noch einmal gutgegangen. Was hatte doch Direktor Günther nach dem Vortrag gesagt:
'Heute abend bin ich, offenbar durch eine peinliche Verwechslung, in den Genuß eines besonders gewürzten Kirschkompotts gekommen. Wer der Übeltäter war, möchte ich nicht wissen. Aber es ist äußerst beschämend, daß ihr eine solche Köstlichkeit nicht achtet, in einer Zeit, in der viele Menschen noch hungern müssen.'
Elke blickte mit schlechtem Gewissen auf Hannelore, die sich, scheinbar unbekümmert, auszog und die Wäsche auf ihrer kleinen Truhe ordnete.
Als Fräulein Bittrig in den Schlafraum trat, huschten die Mädchen flink in ihre Betten. Nachdem sie mit der Hauslehrerin das Nachtgebet gesprochen hatten, herrschte Ruhe.
Christina hörte Fräulein Bittrigs Schritte neben ihrem Bett und öffnete mißtrauisch die Augen.
"Geht es dir etwas besser?" Das war nicht der übliche scharfe Ton.
"Ja", flüsterte Christina.
Die Hauslehrerin fühlte den Puls. Ihr war unklar, wie man sich so über einen Besuch aufregen konnte. "Schlaf dich gut aus, bis morgen wird sich dein Magen wieder beruhigt haben. Gute Nacht."
Christina erwiderte den Gruß, schloß sogleich wieder die Augen, aber einschlafen konnte sie nicht.
Die Uhr im Schulturm schlug bereits die erste Morgenstunde. Immer noch drehte Christina sich ruhelos hin und her, bis sie sich schließlich aufsetzte. Während der drei Wochen, die sie nun schon hier war, hatte sie oft aus Heimweh nicht schlafen können. In dieser Nacht aber war sie verwirrt. Immer wieder fragte sie sich, wer sie war. Der Kopf schmerzte und die Augen brannten vom Weinen.
Christina horchte auf. Wie schaurig sich nachts der an die Scheiben prasselnde Regen anhörte, der den matten Schein der Straßenlampe noch mehr dämpfte. Die Köpfe der Schlafenden wirkten richtig gespenstisch. Schließlich schob Christina die Bettdecke zur Seite und verließ so geräuschlos wie möglich ihr Bett. Barfuß schlich sie sich durch die Bettenreihen ans vorderste Fenster und kletterte mit Hilfe eines Hockers auf die Fensterbank. Ihr Nachthemd über ihre angezogenen Beine gestrafft, kuschelte sie sich in die Ecke. Es tat ihr gut, die Stirn fest gegen die kühle Scheibe zu pressen. Dabei versuchte sie vergeblich, von der nahe gelegenen Kirche die Turmspitze zu sehen. Sie konnte nicht einmal die Schattenumrisse erkennen. Ob der gewaltige Gott, der dort regierte, sie jetzt hier so im Dunkeln sitzen sah? Ob er auf sie böse war? Sie war nie in seiner Kirche gewesen, und sie würde auch nie hineingehen. Aber hier beim Chor werde ich jetzt bleiben, auch wenn alle denken, daß ich anders sei und nicht dazu gehöre. Ich muß es schaffen, egal wie gemein alle sind. Oh Kurt, Heimweh hatte ich gehabt, richtiges Heimweh, so etwas hast du noch nie
4

gehabt. Und jetzt ist es weg. Und den Brief habe ich zerrissen, doch das weißt du nicht. Du sollst deine Angst behalten. Warum hättest du mich sonst so feige angefleht, nichts an die Eltern zu schreiben? Das hast du nun davon, Kurt. Wenn du meinen Brief mitgenommen hättest, wäre ich zurückgekommen, und alles wäre wie vorher gewesen.
"Nein!" Sie preßte erschrocken ihre Hand an den Mund und schaute verstohlen über die Schulter hinweg auf die Betten.
"He Sprotte, bist du das? Phantasierst du? Geh ins Bett."
Sofort sprang Christina zu Boden und lief zu ihrem Bett. Sie sah, wie Barbara den Schlafraum verließ. Vielleicht geht sie zur Toilette, vielleicht holt sie aber auch Fräulein Bittrig. Doch unter ihre Zudecke gekuschelt, dachte sie schon bald nicht mehr an die Hauslehrerin. Sie nahm sich ganz fest vor, fleißig für die bevorstehende Prüfung zu lernen. Gleich am nächsten Morgen, bei Frau Martin, wollte sie damit beginnen.
Am Dienstagmorgen stand als erstes Ballettunterricht auf dem Stundenplan. Der Übungsraum befand sich, wie alle Unterrichtsräume, im ersten Stock. Kurz vor acht Uhr trafen die Mädchen hier allmählich ein. Einige wiederholten vorher geübte Positionen, andere machten Übungen zum Aufwärmen, und da Frau Martin noch nicht da war, wurde dabei fleißig geplaudert. "Wie eine Leiche sieht die Sprotte aus, und jedem sagt sie, 'mir geht's gut.'" "Wißt ihr, ein Besuch von meinem Bruder würde mir auch auf den Magen schlagen. Wo er geht und steht da pfeift er, besonders wenn er Lehrer sieht, die liebt er nämlich." "Das Kürtchen hat aber nicht gepfiffen, oder habt ihr was gehört?" Alle lachten. "Heringe kommen und gehen, ohne daß man sie hört." "Und ohne, daß man sie sieht." "Außer unserem Hering." "Sprotte bitte, immer noch weiblich!" Und abermals lachten alle. "Stellt euch vor, heute morgen haben die zwei ihr wieder tüchtig Salz in den Brei geschüttet. Und den hat sie, ohne eine Miene zu verziehen, gegessen." "Kohldampf treibt's rein..."
Inmitten des allgemeinen Gelächters trat Christina in den Übungsraum, in der Hand einen kleinen Beutel. Sie bemerkte die auf sie gerichteten Blicke und ging schweigend ans Fenster. Sie sah hinunter in den Schulhof, auf dessen Sandboden sich vom unaufhörlichen Regen viele Pfützen gebildet hatten. Nochmals Wort für Wort sprach Christina sich vor, was sie Frau Martin sagen wollte. Dabei war sie so konzentriert, daß sie weder die plötzliche Stille noch Frau Martins Gruß bemerkte.
"Weißt du Christina, im Sommer sieht alles viel erfreulicher aus."
Erschrocken sah Christina in das freundlich lächelnde Gesicht der Ballettmeisterin.
Sieht das Kind elend aus, dachte Frau Martin. "Du solltest die heutige Stunde mal aussetzen. Gestern ging es dir doch nicht so gut."
"Oh, nein danke. Mir geht es wirklich besser, nur darf ich - ich möchte mich..." Sie begann zu stottern, und die Kinder grinsten.
"Du wolltest etwas sagen. Sprich doch bitte weiter."
Christina holte tief Luft. "Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, Frau Martin, ich habe nämlich schon drei Jahre Unterricht gehabt."
"Warum hast du mir das denn nicht gesagt, als ich dich danach fragte?"
Verlegen zuckte Christina die Achseln. Frau Martin war diese Reaktion bei ihr schon gewöhnt.
"Drei Jahre ", wiederholte sie nachdenklich, "soviel ich weiß, ist Kiel stark bombardiert worden?"
"Ja, aber die letzten zwei Kriegsjahre wohnten wir bei meiner Tante in Eutin, weil Kurt und ich in Kiel keinen Schulunterricht mehr hatten. Im Haus nebenan wohnte eine alte Ballettmeisterin aus Berlin zur Untermiete, die einigen Kindern Unterricht gegeben hat.
5

Klavierstunden hatte ich auch bei Frau Görlitz."
"Sagtest du Frau Görlitz?" fragte Frau Martin erstaunt nach. "Frau Görlitz aus Berlin? -Ja so was! Frau Görlitz war früher eine bekannte Tänzerin", erklärte sie den Kindern. "Später eröffnete sie in Berlin ihre eigene Ballettschule, die leider im Krieg zerstört wurde. Dir erinnert euch sicher an Anka Berger? Sie tanzte die Odette in 'Schwanensee'. Auch sie war eine Schülerin von Frau Görlitz gewesen." Dann wandte sie sich wieder Christina zu: "Aber du sprachst von drei Jahren."
"Ich hatte dann noch ein Jahr bei Frau Albrecht in Kiel."
Die war Frau Martin unbekannt. " Christina ist vielen von euch schon ein Stück voraus. Wenn sie sich wieder etwas besser fühlt, zeigt sie uns vielleicht mal, was sie bereits gelernt hat." Ihr Vorschlag stieß bei den Schülerinnen auf wenig Interesse.
"Wenn ich darf, möchte ich gerne den Blumenwalzer aus der 'Nußknackersuite' tanzen", und schon zog Christina ihre Ballettschuhe aus dem Beutel. "Ich habe sie extra von zu Hause mitgebracht."
Die plötzliche Gesprächigkeit und der Eifer verwunderten Frau Martin. "An einem anderen Tag, Christina. Heute ruhst du dich besser noch aus."
Das klang freundlich aber bestimmt. Christina steckte enttäuscht die Ballettschuhe in den Beutel zurück, knickste und verließ eilig den Raum.
Im Schlafraum warf sie sich auf ihr Bett und begann zu weinen, doch bald schon machte sich der geringe Schlaf der vergangenen Nacht bemerkbar.
6

MITTWOCH, 2.10.1946
An den Mittwochabenden gehörte Frau Merkel den Kindern, die Lust hatten, mit ihr Pfänderspiele zu machen oder Geschichten von ihr zu hören. Der Andrang war immer recht groß, denn die Englisch- und Französischlehrerin war sehr beliebt. Ihre große Vorliebe für das Schreiben von Klassenarbeiten - in ihren Worten 'Kleine anregende Einleitung der Stunde' -teilten die Kinder allerdings nicht mit ihr.
Diese Abende waren stets lebhaft und fröhlich, und daß es auch heute nicht anders war, hörte Frau Martin am vergnügten Lachen aus dem Tagesraum. Sie war gerade nach einem langen Arbeitstag aus dem Theater zurückgekommen. Ihren triefenden Schirm stellte sie aufgespannt neben die Treppe und ging müde die Stufen hinauf.
Als sie die erste Etage erreicht hatte, sah sie geradeaus durch die offenstehende Tür ins Schreibzimmer. Hier saßen, jeder für sich, Brigitte, Christina und Anton, die bei den herannahenden Schritten von ihrer Schreibarbeit aufschauten.
"Nein, so fleißig! Wie könnt ihr euch beim vergnügten Spiel der anderen nur konzentrieren?" fragte Frau Martin.
"Mein Aufsatz ist nicht fertig geworden", gestand Brigitte mürrisch.
"Und ich sollte endlich mal an meine Großmutter schreiben. Meine Mutter wird mich am Sonntag bestimmt wieder fragen", murrte Anton, dessen rundes Sommersprossengesicht selten so unlustig dreinschaute.
Christina sagte nichts, aber Frau Martin konnte selbst die mit wenigen Sätzen beschriebenen Schreibheftseiten sowie einige andere durchgestrichene Seiten sehen. Dazwischen lag eine Postkarte, lediglich mit einem zurückliegenden Datum versehen. "Christina, der dreißigste September war doch am Montag."
"Kein Wunder, sie schreibt schon seit drei Tagen an der Karte nach Hause", sagte Anton, "eine Rekordzeit."
"Heute werde ich aber fertig", verteidigte sich Christina. "Mir fehlt ja nur die Überschrift. Wenn ich alle einzeln aufzähle, wird die Karte alleine davon voll."
"Um so besser, das erspart das Brüten. Dann brauchst du nur noch: Mir geht es gut und den Gruß."
Brigitte lachte:"Der Ratgeber 'Anton Wechselberger'!"
"Bitte, immer noch Toni, elf Jahre alt, seit einem Jahr beim Chor, wohnhaft in München, hauptsächlich in der Schule, nebensächlich bei den Eltern. Noch Fragen zum Steckbrief Anton Wechselberger?"
"Danke, den kennt bereits jeder auswendig. Konzentrier dich lieber auf deine Großmutter, sonst brütest du auch noch in drei Tagen auf ihr herum", entgegnete Brigitte.
Frau Martin kümmerte sich nicht weiter um die beiden. "Hast du denn so viele Geschwister?"
Christina schüttelte den Kopf:"Zu Hause sind nur Gisela und Kurt. Hans-Jürgen und Gerhard sind noch in der Kriegsgefangenschaft."
"Aber dann brauchst du ja gar keine lange Anrede. Schreib doch einfach: Meine lieben Eltern und Geschwister."
"Das geht nicht. Da ist noch meine Oma, meine Cousine und Onkel und Tante."
"Eine Karte also für die Angehörigen und die Verwandtschaft zusammen. Ja, weißt du, Christina, dann würde ich 'Alle meine Lieben' schreiben. Da sind alle mit angesprochen."
Christina fiel ein Stein vom Herzen. Erleichtert schrieb sie die drei Worte und begann, mit sorgfältiger Schrift die Sätze der Schreibheftseiten auf die Karte zu übertragen.
7

"Wenn du fertig bist, kannst du sie mir ja nach oben bringen; ich muß morgen früh beizeiten im Theater sein, dann steck ich sie vorher in den Kasten. So, und nun könnt ihr mir sagen, wo Fräulein Bittrig ist, wenn ihr es wißt."
"In ihrem Zimmer", sagte Brigitte.
"Sie möchte aber nicht gestört werden. Sicherlich hat sie ihre heilige Sitzung mit der Bibel", murrte Anton.
"Wenn dein Brief heute noch fertig wird, bringst du ihn mir auch nach oben." Damit wandte Frau Martin sich zum Gehen.
"Der ist gleich fertig, schließlich muß ich noch Englischvokabeln pauken - für die eventuelle 'kleine anregende Einleitung der Stunde'!" rief Anton ihr nach.
Auf der Treppe hörte Frau Martin abermals Antons Stimme, allerdings etwas gedämpfter: "Für die kleine beschissene, Pardon, Einleitung der Stunde." Die Ballettmeisterin schmunzelte. Plötzlich hörte sie Kinderschritte hinter sich. Sie wandte sich um. "Christina, noch etwas vergessen?"
"Nein. Frau Martin, ich -", sie trat dicht neben die Ballettlehrerin, "ich möchte so gerne katholisch werden, bitte, kann ich?"
"Katholisch? - Aber nein, Christina, das geht nicht so ohne weiteres. Das bestimmen deine Eltern. Denk mal, was sie dazu sagen würden."
"Nichts. Ganz bestimmt nichts, solange ich bloß hierbleiben darf."
"Ach darum. Nein, das erreichst du ausschließlich durch deine Stimme und deinen Fleiß, egal ob du katholisch bist oder nicht."
"Bloß - wenn man evangelisch ist, dann ist man so anders."
"Ganz und gar nicht, die Menschen sind alle gleich, nur der Glauben ist unterschiedlich."
"Ja, und darum kommen auch nur alle Katholiken in den Himmel."
"Kind, wer hat dir denn so etwas eingeredet?" Frau Martin ließ sich auf einer Stufe nieder und forderte Christina auf, sich zu ihr zu setzen. "Schau, Christina, Protestanten wie Katholiken - der Herrgott schätzt alle Menschen. Er ist unser Schöpfer, unser Behüter, unser Vater, und wir sind alle seine Kinder."
"Der Herrgott ist unser Vater?"
Als Frau Martin in zwei große blaue Kinderaugen voller Staunen und Zweifel sah, war sie eigentümlich tief berührt. "So ist es, unser Leben liegt in Gottes Hand, und er gibt uns die nötige Kraft und Hilfe."
"Und er hat mich genauso lieb wie Sie?"
"Ja, ganz genauso."
"Aber mit einem richtigen Vater kann man sprechen und man sieht ihn auch."
"Nicht unseren Herrgott, man spürt nur, daß er uns ganz nahe ist, und er hört dich an, wenn du mit ihm sprichst. Er kennt jedes seiner Schäfchen ganz genau, auch seine Christina", liebevoll drückte Frau Martin sie dabei flüchtig an sich.
Und trotzdem sind alle zu Hause gegen die Kirche. Warum? Dabei ist Pastor Krause sogar ein guter Freund von den Eltern. Unser Herrgott ist ein richtiger Vater? Christina verstand das alles nur schwer, dennoch war sie glücklich. "Aber, ich würde mir so wünschen, daß Gott antwortet, wenn man ihn fragt. Er weiß bestimmt alles."
Im zweiten Stock befanden sich nicht nur die Kinderschlafräume, sondern auch die der Lehrkräfte und Angestellten. Frau Martin sah sofort, daß die Kinder ihr die richtige Auskunft gegeben hatten. In Fräulein Bittrigs Zimmer brannte Licht, das durch einen Spalt zwischen Tür und Rahmen schien.
Als Frau Martin anklopfte, war das harte Hinlegen eines Buches zu hören, gewiß die Bibel, dachte sie, da wurde auch schon die Tür geöffnet.
8

"Ja, bitte!" Der energische Ton schlug schnell zu übertriebener Freundlichkeit um. "Frau Martin, Sie sind's, so eine Überraschung, bitte kommen Sie herein."
"Nein, Fräulein Bittrig, danke, ich habe nur eine Frage..."
"Aber, ein paar Minuten haben Sie doch Zeit, so selten wie man Sie in den letzten Tagen sieht."
"Na gut, für ein paar Minuten." Frau Martin hängte ihren Mantel an einen Haken neben der Tür, und mit eimgen von Fräulein Bittrigs kleinen Eigenheiten vertraut, zog sie auf dem Flur auch ihre Schuhe aus, um den verschlissenen Teppich noch etwas zu erhalten, während die Hauslehrerin ausgiebig über das schlechte Wetter klagte. Auf der Kommode neben dem Bett sah Frau Martin die Bibel an ihrem üblichen Platz. Ein Buch, dessen buntbebildeter Einband auf einen Roman schließen ließ, lag auf dem Tisch. Die Störung war also nicht allzu groß.
"Ja, man sieht Sie nur noch selten", begann Fräulein Bittrig wieder, als sie Platz nahmen, "aber dafür wird zu Weihnachten die Nußknackersuite die Bühne beleben."
"Es bedarf noch vieler Arbeit, bis alles einwandfrei klappt. Vor allem ist es schade, daß Herr Günther gerade jetzt nicht da ist. Wann erwarten Sie ihn zurück?"
"Bis Donnerstag nächster Woche bleibt er in Köln, also wird er am folgenden Freitag wieder hier sein. Sie sind enttäuscht, Frau Martin, ist's etwas Dringendes?"
"Nun, da Christina nicht im Weihnachtskonzert mitsingt, wollte ich sie in der Nußknackersuite mittanzen lassen."
"Christina? In der...?" Ungläubig sah die Hauslehrerin sie an.
"Nur in einer kleinen Nebenpartie; es würde sie bestimmt anspornen. Immerhin hatte sie bereits drei Jahre Unterricht und davon zwei Jahre bei Frau Görlitz. Beide wohnten durch Zufall während des Krieges in Eutin. Christina erzählte es mir vor kurzem."
"So, Christina erzählte Ihnen das? Ich bitte Sie, Frau Martin, das klingt doch erfunden, ausgerechnet bei Frau Görlitz."
"Warum sollte es erfunden sein? Nein. Sie hätten selbst sehen sollen, wie sie uns den Blumenwalzer vortanzte."
'Trotzdem ..." Fräulein Bittrig setzte sich aufrecht hin, wodurch sie gleich um einige Zentimeter gewachsen zu sein schien. "Es tut mir leid, Sie zu enttäuschen, Sie erteilen den Mädchen ausschließlich Unterricht zur allgemeinen Elastizität. Im übrigen sind es Chorkinder, deren Hauptausbildung im Gesang liegt."
Eine Abwertung des Balletts? Das also ist Clara Bittrig. Ilona gib nach, aber laß dich nicht unterkriegen. "Entschuldigen Sie, Fräulein Bittrig", antwortete Frau Martin ruhig. "Ich hatte nicht die geringste Absicht, aus dem Chor eine Tanztruppe zu machen. Wenn aber in einem Kind das Talent vorhanden ist, und es bereits seit einigen Jahren Unterricht gehabt hat, sollte man es meiner Meinung nach weiterhin fördern, zumal Christina offenbar für den Chor ungeeignet ist, wie Dr. Groll meint."
"Bitte schön, da haben Sie es: Völlig ungeeignet für den Chor. In fünf Monaten wird sie wieder nach Hause geschickt. Wozu wollen Sie sich in der kurzen Zeit noch mit ihr befassen?"
"Es ist weniger, daß ich mich mit ihr befassen möchte; ich hätte sie lediglich gern in der Nußknackersuite mit eingesetzt. Das aber ist anscheinend unmöglich", sagte sie freundlich. Aber sie war verärgert über den Widerstand. "Nur sagen Sie bitte, wie ist Christina überhaupt nach München gekommen?"
"Durch unseren Traugard. Das wissen Sie nicht? Erinnern Sie sich noch, daß er kurz vor den Sommerferien in Hamburg war? Zur gleichen Zeit machte er einen Abstecher nach Kiel, um eine alte Bekannte von ihm dort zu besuchen, eine Rektorin an einem Lyzeum. Und denken Sie, diese gute alte Bekannte setzte Traugard die absurde Idee in den Kopf, den dortigen Kindern auch mal eine Chance zu geben. Prompt nahm er sich die Sextanerinnen vor. Das
9

Resultat, bitte schön, Christina."
Frau Martin nickte lediglich, sich darüber zu äußern wagte sie nicht, da sie die Idee der Rektorin für ausgezeichnet hielt.
"Ja, unser lieber Herr Traugard ist eben schon alt. Nur nach all' den Jahren, die er bei uns ist und noch dazu ohne Angehörige, soll er halt das Gefühl haben, daß er noch gebraucht wird. Da läßt er in seiner Torheit extra aus Kiel dieses Kind kommen. Ach, hat er dessen Stimme gepriesen, und dann war sie gar nicht vorhanden. Außerdem so ein eigenartiges Wesen, naja, vom Norden, eine typische Protestantin", fügte Fräulein Bittrig abfällig hinzu.
Frau Martin empfand diese Verachtung voller Bitterkeit: ihr eigener Mann - war er nicht auch so ein typischer Protestant vom Norden gewesen? Der formelle Übertritt zum katholischen Glauben hatte ihn nicht geändert. Nein. Und wie glücklich waren sie miteinander gewesen. Kurz entschlossen wechselte sie das Thema und begann vom Theater zu erzählen. Beim baldigen Abschied herrschte dadurch zwar wieder der gewohnt freundliche Ton zwischen ihnen, der aber über Frau Martins innere Mißstimmung nur hinwegtäuschte.
In ihrem Zimmer fand die Ballettmeisterin unter der Tür durchgeschoben einen zugeklebten, frankierten Umschlag mit dem doppeldeutigen Absender: 'Dein Enkel/Engel Toni', das 'k' und 'g' übereinandergeschrieben. Neben Tonis Brief an die Großmutter lag auch Christinas Karte, die Frau Martin rasch überflog:
München, 2.10.1946
Alle meine Lieben!
Ich bin nun schon über vier Wochen hier, aber Kurt hat Euch ja alles erzählt, auch daß ich genug zu essen bekomme. Es schmeckt nur anders als zu Hause. Zum Gottesdienst habe ich immer frei, weil hier alle heilig sind. Das bin ich aber auch bald, denn der Herrgott ist unser Vater, und wir alle sind seine Kinder. Ich verspreche Euch, fleißig zu sein, damit ich in fünf Monaten nicht fliege. Auch will ich den lieben Herrgott nicht enttäuschen. Eure Post habe ich bekommen, danke schön. Jetzt muß ich aufhören, meine Karte ist voll.
Viele Grüße von Eurer dankbaren Christina.
"Eure dankbare Christina." Verwundert steckte Frau Martin die Post in ihre Tasche.
Zwei Tage später wurde die Hauptpause des morgendlichen Schulunterrichts ausnahmsweise von fünfzehn Minuten auf eine halbe Stunde verlängert, denn der seit Tagen anhaltende Regen hatte aufgehört. Es war zwar noch kühl und trübe, der Boden stand voller Pfützen, die Kinder aber tollten nach Herzenslust auf dem Schulhof herum. Dazwischen schritt Fräulein Bittrig in ihrem schwarzen Wollmantel majestätisch auf und ab.
Frau Martin sah dem fröhlichen Treiben der Kinder vom Flurfenster im ersten Stock zu, während sie auf den verspäteten Beginn ihrer Unterrichtsstunde wartete. Plötzlich vernahm sie von nebenan aus Traugards Büro das Schließen des Fensters, und bald darauf erschien er selbst in der Tür. Wie gewöhnlich hatte er den Handstock über dem Arm, den er seit vier Jahren, nach einem gut geheilten Beinbruch, mit sich herumtrug. Nur bei Eis und Schnee stützte er sich damit ab.
Genauso unzertrennlich wie von seinem Handstock war er auch von seinem grauen Filzhut, der früher gewiß elegant ausgesehen und gut gepaßt hatte. Seit Jahren jedoch hing er ihm tief in die Stirn hinein, bedeckte sein weißgewordenes, aber noch volles Haar und ließ
10

sein geistvolles Gesicht noch älter erscheinen. Traugard, der allgemein sehr geschätzt wurde, hatte sein ganzes Leben immer der Musik gewidmet.
"Heute endlich mal wieder einen Spaziergang im Trockenen?"
"Ja, unsere Frau Martin lebt auch noch!" lachte Traugard überrascht, seinen Hut ziehend. "Wie ich hörte, sind Sie mit der Nußknackersuite stark beschäftigt?"
"So stark, daß ich nur noch zum Schlafen und Unterrichten hier bin."
"Ja, eine gute Inszenierung kostet viel Arbeit. Ich mute mir heute keine öffentlichen Konzerte mehr zu."
'Trotzdem ist es bewundernswert, daß Sie immer noch so viel Zeit für den Unterricht aufwenden."
"Wissen Sie, einem wird dabei das Gefühl genommen, völlig nutzloser Pensionär zu sein. Außerdem erteile ich nur einigen Kindern Einzelunterricht, oder sagen wir, ich helfe ihnen ein bißchen nach."
"Wie sind Sie eigentlich mit Christina Hoppe zufrieden?"
"Anscheinend ein kleines Problemkind hier im Hause."
"Ich glaube nicht nur ein 'kleines'..."
"Auch für Sie?" fragte Traugard mit forschendem Blick.
"Im Gegenteil, ich möchte ihr gerne helfen. Doch der Widerstand ist groß, und in meiner Position wage ich nicht, zu viel zu riskieren. Aber da wir gerade von Christina sprechen, noch etwas anderes, Herr Traugard. Es ist schwer für ein Kind, in der Gemeinschaft zu leben, wenn es keinen Kontakt zu anderen Kindern gewinnt."
"Sie meinen, Christina hat keinen Kontakt zu den anderen?"
"Bitte, schauen Sie nur mal hinunter in den Hof, da, rechts am Zaun - das heißt, jetzt spricht sie gerade mit einem Buben, ich glaube, es ist unser Wilfried."
"Der hatte anfangs auch Probleme. Noch heute hinkt er allem etwas hinterher."
"Er hat aber den einen und hier offenbar sehr wichtigen Vorteil gegenüber Christina, er ist Katholik."
"Ja, die Cousine von Herrn Günther, unser liebes Fräulein Bittrig..." Traugard schmunzelte und warf einen flüchtigen Blick auf das Kruzifix und die zwei leicht beschädigten Heiligenbilder an der Flurwand. "Das sind ihre geretteten Schätze aus den Trümmern. Unser früheres Schulheim hing voll von ihnen. Ja, ihr Fanatismus..., und obendrein spielt sie hier eine dominierende Rolle. Aber, Frau Martin, es ist beruhigend zu wissen, daß Herr Günther ein sehr gerechter Mensch ist. Ich gebe zu, Christinas Leistungen waren anfangs schwach, offenbar besonders in Herrn Grolls Unterricht. Sie hatte Heimweh, wie sie mir neulich sagte. Seit dem Besuch ihres Bruders arbeitet sie aber mit einer so unwahrscheinlichen Energie, daß ich jetzt noch mehr Zeit für sie aufwende. Und glauben Sie mir, der Tag kommt, an dem Christina Herrn Günther und alle anderen überzeugt: Von ihrer Stimme und von der Art ihres Vortrags, denn sie hat ein erstaunliches Einfühlungsvermögen."
11

SONNTAG, 16.2.1947
Es war der Tag vor Rosenmontag. Im Speisesaal herrschte nach dem Mittagessen reges Treiben. Peinlich genau überwacht von Herrn Göbel, hatten die ältesten Chorjungen sämtliche Tische in Hufeisenform aneinandergereiht. Auch das Aufstellen der Stühle wurde genauestens beobachtet.
Entschlossen nahm Fritz ein Lineal zu Hilfe. Diese Anspielung, von den anderen Jungen gleich verstanden, fand sofort Unterstützung.
"Immer nur ran, Herrschaften und bedenkt, jeder Stuhl gleicht der Note G. He, deiner steht auf F!" tat Fritz sich wichtig.
"Auf FIS möchte ich sagen, wenn schon so übertrieben."
Fritz sah verdutzt auf und Göbel nickte ihm schmunzelnd zu. Alle lachten.
Göbel war pausenlos in Bewegung, und auch Mimi, die das Tischdecken der ältesten Chormädchen dirigierte, war völlig ruhelos. Ihr standen vom vielen Hin- und Herlaufen Schweißtropfen auf der Stirn. Zu allem Überfluß kamen sich die Kinder noch gegenseitig in die Quere, Herr Göbel mußte für Ordnung sorgen, und dann wieder erklang Mimis aufgeregte Stimme, die um den Porzellanbestand fürchtete. Doch bald schon hatten die vielen flinken Hände eine festlich gedeckte Tafel hergerichtet, der Göbel die Sonderzensur 'sehr gut' verlieh.
Schließlich schoben der Hausmeister und Herr Hollinger, eine weitere Lehrkraft, das Klavier von der Wand vor die beiden Enden der Kaffeetafel. Es blieb noch eine Stunde Zeit bis zum Festbeginn, und die Kinder wurden zum Umziehen geschickt. Befriedigt über den feierlich geschmückten Speisesaal gingen auch die Lehrkräfte und der Hausmeister.
Pünktlich um drei Uhr gruppierten sich die Chorkinder zu beiden Seiten des Klaviers. War im Speisesaal plötzlich ein Wunder geschehen? Die Gemüter wurden in die Zeit zurückversetzt, als in den Geschäften noch alles erhältlich war. Auf der weißgedeckten Tafel brannten Kerzen; Wetzeis Tante hatte sie aus der Schweiz geschickt. Aus der Küche duftete es nach Kaffee und Kakao, von einigen Lehrkräften auf dem Schwarzmarkt erstanden. Die reichlich gefüllten Kuchenteller waren durch die Eier von Hannelores Eltern und das Fett von Ritas Eltern ermöglicht worden. Herbeigezaubert war eine Geburtstagstafel zu Ehren Direktor Günthers.
Seit der Ausbombung des eigentlichen Wohn-und Schulgebäudes im letzten Kriegsjahr, richteten sich die Bemühungen der Lehrkräfte unter der Leitung von Direktor Günther ausschließlich auf einen neuen Anfang. Heute wollten sie ihm Dank und Anerkennung für den Erfolg erweisen.
Die Angestellten erschienen in Sonntagskleidung und unterhielten sich lebhaft, während die Kinder wie angewiesen den Mund hielten. Um so ungeduldiger wanderten ihre Blicke von der verlockenden Tafel zur offenstehenden Tür, bis endlich Fräulein Bittrigs erlösender Ausruf ertönte: "Er kommt!"
Groll setzte sich sofort ans Klavier, warf einen prüfenden Blick auf den Chor, schlug den Ton an, und die Kinder setzten mit dem Lieblingswalzer des Direktors ein: Op.39 von Brahms, "Horch der erste Laut aus kahlem Dornengeäst..."
Da erschien der Direktor, staunend an der Tür innehaltend. Er trug wie gewohnt einen grauen Anzug, von dem man nie wußte, ob es der Sonntags- oder Alltagsanzug war, da er lediglich zwei besaß, beide in gleicher Ausführung, mal mit einer dunkelblauen, mal mit
12

grauer Krawatte. Sein bereits lichtes dunkelblondes Haar war glatt zurückgekämmt und ließ seine gewölbte Stirn noch höher erscheinen.
Die Kinder respektierten den Direktor, der ihnen durch den Wiederaufbau des Chores bewiesen hatte, daß selbst in schweren Zeiten hochgesetzte Ziele durch unermüdlichen Fleiß erreichbar waren. An diesem Tag bereiteten sie ihm mit einem Konzert seiner Lieblingslieder eine große Freude. Gerührt drückte der Direktor jedem der Lehrkräfte die Hand.
Als der letzte Takt des Walzers verklungen war, erscholl Beifall. "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!" rief der Chor. Ein Mädchen aus der vordersten Reihe überreichte dem Direktor ein hübsch verpacktes Buch, und abermals stimmte der gesamte Chor ein.
Von größeren Chorkindern verdeckt stand Christina an der Seite der hintersten Reihe, da Groll sie im September von seinem Gesangunterricht ausgeschlossen hatte. 'In zwei Wochen, Sprotte, kannst du wieder in der Ostsee schwimmen', hatten einige Kinder ihr am Morgen prophezeit. Christina war sich darüber im klaren, daß ihre Probezeit am ersten März abgelaufen war, aber in der Ostsee schwimmen? Sie spürte ihr Lampenfieber steigen, als jetzt Fritz mit seiner Solopartie einsetzte, zu der der Chor den Refrain sang. Ein Instrumentalquartett beschloß Grolls Konzert.
Er übergab seinen Platz Herrn Traugard, der mit einigen Schülern das Konzert fortsetzte. Wolfgang trat aus der mittleren Reihe nach vorne. Sein Gesang wurde von Traugard am Klavier, von Walter und Alois auf der Violine begleitet. Die Sopranstimme des Zwölfjährigen war bei Konzerten für Solopartien besonders beliebt. Auch diesmal erhielt er reichlich Beifall, während Christinas Herz vor Aufregung noch stärker schlug, denn jetzt war sie an der Reihe.
Dir Erscheinen neben dem Trio versetzte alle in Erstaunen. Direktor Günther, inzwischen von verschiedenen Seiten informiert, zeigte sich stark interessiert. Dr. Groll sah Göbel mit leichtem Kopfschütteln bedenklich an, Göbel reagierte mit Skepsis, und Fräulein Bittrig tadelte in Gedanken Traugards zunehmende Torheiten. Frau Martin nickte Christina ermutigend zu, doch die bemerkte es nicht.
Das Trio spielte die ersten Takte von Bernhard Fliess' Wiegenlied 'Schlafe, mein Prinzchen', und Augenblicke später füllte Christinas Stimme den Saal; so weich und klar, daß Dr. Groll plötzlich vor einem Rätsel stand: Was hatte dieses vestockte Kind so verändert?
Fräulein Bittrig überkamen die schlimmsten Befürchtungen. Die Stimme und das freudige Erstaunen der Kollegen konnten eine positive Entscheidung bedeuten, und damit vielleicht die Aufnahme einer Protestantin in dieses ausschließlich katholische Haus.
Frau Martin hätte Christina jetzt gerne an sich gedrückt. Auch Mimi war begeistert: "Mei, die Christin'." flüsterte sie ihrer Küchenhilfe zu.
Das Lied war verklungen und Christina durfte ihren ersten Applaus entgegennehmen. Sie hatte Traugard, der ihrem Erfolg, wie indirekt auch seinem, gespannt entgegengesehen hatte, nicht enttäuscht. Christina war froh und erleichtert.
Doch was Christina als Glück empfand, war Clara Bittrig gänzlich aufs Gemüt geschlagen. Sie entschuldigte sich wegen plötzlichen Unwohlseins und verließ eilig den Saal.
Direktor Günther, ungerührt angesichts des Befindens seiner Cousine, blieb in Feststimmung. "Das ist wahrhaftig ein Nachmittag voll freudiger Überraschungen. Mein lieber Herr Traugard, Ihnen habe ich ganz besonders zu danken. Mögen Sie noch recht lange bei uns bleiben und weiterhin am Wiederaufbau unseres Chores mithelfen, daß er nicht nur wieder nationalen, sondern auch internationalen Ruf erlangen möge. In diesem Sinne möchte ich ebenfalls allen Kollegen aufs herzlichste danken. Und jetzt", er wandte sich wieder den Kindern zu, "wollen wir uns zusammen den Kuchen schmecken lassen."
Diese Aufforderung brauchte nicht wiederholt zu werden, und während sich die anderen sogleich bedienten, saß Christina ganz still auf ihrem Platz. Sie war sehr glücklich über ihren Erfolg, denn nun wußte sie, daß sie keine Angst mehr zu haben brauchte. Sie würde beim
13

Chor bleiben dürfen - und damit erfüllte sich ihr größter Wunsch.
Bis zur Nachtruhe war es noch eine gute Stunde. Für die Chormädchen, die im Tagesraum Kriegsrat hielten, konnte der Moment nicht günstiger sein. Diese Sprotte! Sie hätte dem Direktor am Nachmittag eher frisch geräuchert als mit einer Gesangsdarbietung präsentiert werden sollen. Sie mußte unbedingt bekämpft werden, bevor sie womöglich noch die Spitze erreichte und die zur Zeit gefragtesten Solostimmen zur Seite drängte. "Und das schafft sie schnell", meinte Gabi, "denn wir müssen bei dem Fischgestank ja die Luft anhalten."
"Ein genußreiches Konzert mit Duftreklame für Kieler Sprotten!" meldete sich eine andere Stimme.
Die Mädchen riefen schließlich noch Alois Vierärpel, das 'Bierferkel' zu Hilfe, der mit zwei anderen Jungen in der entgegengesetzten Fensterecke heimlich Skat spielte. Er war allgemein bekannt für seine Streiche, und natürlich fehlten ihm auch diesmal nicht die nötigen Ideen, die ihm die gebührende Anerkennung bei den Mädchen einbrachte. Aus seinen tiefbraunen Augen blitzte der Schalk, als er seinen Plan unterbreitete.
Christina las noch einmal ihre soeben geschriebene Postkarte:
München, den 16.2.47
Alle meine Lieben!
Meine Probezeit ist erst in zwei Wochen um, aber unser Direktor hat sich bestimmt schon entschlossen, das Konzert heute hat ihm nämlich gut gefallen. Ich freue mich riesig. Singen macht viel Spaß.
Viele Grüße von Eurer glücklichen Christina.
"Hier sitzt du also. Ich habe schon in fast alle Klassenräume geschaut, denn irgendwo mußtest du ja hocken. Paß' auf, man hat dir Juckpulver ins Bett gestreut. Jetzt sind sie wieder unten. Wenn du dich beeilst, kannst du es rausschütteln. Nimm das linke Fenster, gegenüber von der Tür, den Haken habe ich schon geöffnet. Aber wehe, du verrätst mich, dann ergeht's dir schlecht."
"Natürlich nicht."
"Übrigens hast du prima gesungen, auch das sag nicht weiter. Du bleibst ganz bestimmt." Geschwind machte Barbara wieder kehrt, genauso leise wie sie gekommen war.
Christina schaute nachdenklich zur Tür. Nach all den Streichen, die sie hier gewohnt war, freute sie sich über das heimliche Warnsignal von Bärbel. Sie stand auf und verließ das Schreibzimmer.
Heute lagen die Kinder besonders pünktlich im Bett. Ihnen durfte Christinas Reaktion auf das Juckpulver nicht entgehen. Barbara hingegen wollte mit stiller Schadenfreude die Enttäuschung der anderen beobachten. Sie mußte nicht lange warten, denn bei vielen genügte alleine der Gedanke an das Juckpulver, um die Wirkung am eigenen Körper zu spüren. Zunächst versuchten sie unbemerkt Arme und Beine zu kratzen, bis schließlich aus dem erhofften Einpersonenstück ein Schauspiel mit vollem Ensemble wurde, Christina in der Partie der angeblich Ahnungslosen.
"Die Sprotte ist immun, wahrscheinlich gegen Juckreiz geimpft!" war schließlich im
14

Flüsterton eine ungeduldige Stimme zu hören. Oh, wenn bloß das Jucken nachlassen würde, denn Frau Martin trat in den Schlafraum. Sie trug noch ihr dunkelgrünes Samtkleid vom Nachmittag. Verwundert blickte sie über die Betten. "Mir scheint, hier herrscht die Krätze."
"Seit heute abend!" rief Hannelore, worauf die Kinder lachten.
"Ihr bedauernswerten Geschöpfe, in diesem Fall müßt ihr, vollkommen mit Salbe eingerieben, das Bett hüten. Und das ausgerechnet zum Rosenmontag. Ist das nicht ein Jammer?"
"Würden Sie uns pflegen?" fragte Ulrike.
Frau Martin holte tief Luft, während ihr Gesicht einen sehr ernsten Ausdruck bekam. Sie schaute auf die Kinder und antwortete dann in bestimmtem Ton: "Nein. Und zwar, weil mir aufgefallen ist, daß euch das erste Gebot für das Leben in der Gemeinschaft noch fremd zu sein scheint. Es lautet: 'Kameradschaft'. Das heißt nicht, Kameradschaft in einzelnen Cliquen, sondern alle zusammen in einer gemeinsamen Gruppe, aus der absolut niemand ausgeschlossen wird. Habt ihr das mal gelernt, würde ich euch sogar pflegen. Außerdem hegt in echter Kameradschaft die so oft gepredigte 'Nächstenliebe'. Da ihr alle euch einbildet, gute Gläubige zu sein, ist anzunehmen, daß auch ihr den Sinn dieses Wortes eines Tages verstehen werdet." Sie machte eine Pause. "Ihr wißt, daß Fräulein Bittrig sich nicht wohlfühlt. Deshalb spricht jetzt jede das Nachtgebet für sich alleine. Auch du Christina, denn vergiß nicht, der Herrgott macht keine Unterschiede."
Christina faltete ihre Hände. Wie konnte Frau Martin nur denken, daß sie es vergessen hätte. War es nicht der Herrgott, der ihr bei allem half? Auch beim Konzert am Nachmittag?
Der von Frau Martin so selten angewandte energische Ton, ließ die Mädchen jeglichen Juckreiz vergessen. Mit unschuldigen Mienen taten sie sogleich, was ihnen gesagt wurde.
Anschließend erwiderten sie den Gutenachtgruß, Frau Martin schaltete das Licht aus und verließ mit ernstem Gesicht den Schlafraum.
15

MITTWOCH, 23.6.1948
"Menschenkinder, wir leben im Schlaraffenland! Ihr müßt die Schaufenster sehen: Fahrräder, Schokolade, Eisenbahnen, Bonbons... Sie sind voll, ihr müßt sofort mitkommen!" Alois war ganz aus der Puste. Seine Jacke war offen, die Kniestrümpfe waren heruntergerutscht.
So hatten Fritz, Christina und Barbara ihn noch nie in die Schulhalle stürzen sehen. Mit Alois aber sofort auf und davon? Nein, ein Versprechen war ein Versprechen, sie warteten noch auf Hannelore und Gabi. Ungeduldig traten sie von einem Bein aufs andere. Sie wagten kaum zu glauben, was Alois ihnen alles erzählte. In den Geschäften schien tatsächlich ein Wunder geschehen zu sein.
Vor zwei Tagen kam die Nachricht, daß Westdeutschland eine wirtschaftliche Wende erlebe. Die Reichsmark würde durch die Deutsche Mark ersetzt werden, die alten Banknoten waren abzuliefern. Die Erstausstattung pro Kopf betrüge sechzig Deutsche Mark, wofür sechzig Reichsmark einzutauschen waren. Der Rest würde im allgemeinen im Verhältnis zehn zu eins umgetauscht werden. Dies alles verstanden die Chorkinder, aber daß in diesem Zusammenhang gleichzeitig in den Geschäften wieder alles erhältlich war, selbst Genüsse, die sie nur noch aus Büchern und Erzählungen kannten, das war ihnen nicht begreiflich. Davon mußten sie sich mit eigenen Augen überzeugen. An diesem Nachmittag hatten die Kinder endlich Gelegenheit zu einem Schaufensterbummel.
Alois war stolz, denn er wußte bereits mehr als die anderen, auch wenn er für einen Spinner gehalten wurde. Das würde sich gleich ändern.
"Wie lange dauert's denn noch, bis die beiden langweiligen Primadonnen im Rampenlicht erscheinen?!"
"Nicht im Rampenlicht, sondern auf der Treppe, wertes Bierferkel."
"Hannelore, na endlich! Kommt Gabi auch?"
"Gleich. Hier Sprotte, ein Brief von zu Hause, der lag auf deinem Bett."
Christina las den Absender: Ja, er war von zu Hause. Bestimmt schon Ratschläge für die Heimreise, denn es war nicht mehr lang bis zu den Sommerferien. Sie wandte sich von den anderen ab und ging die Treppe hinauf. "Christina, kommst du etwa nicht mit uns?" rief Barbara hinter ihr her. Den Umschlag aufreißend, schüttelte sie nur den Kopf. Im ersten Stock blieb sie stehen; es war niemand zu sehen, nur Herrn Göbels und Gabis Stimmen klangen vom zweiten Stock herunter. Also ging sie an das Fenster neben Traugards Büro und zog aus dem Umschlag einen voll beschriebenen Bogen mit Mutters Schrift: Traurige Nachricht... Die Währungsreform ... Das gesparte Geld für die Reise war dadurch geschrumpft... Die wenigen D-Mark am Anfang ... Nochmals Bedauern über die traurige Nachricht... Bis Weihnachten sei es bestimmt geschafft... "Bis Weihnachten..." Christinas Gesicht hellte sich auf. Bis dahin waren es noch viele Monate. Schnell überflog sie die nächsten Zeilen, doch die Aufbruchsgeräusche aus dem Parterre ließen sie aufhorchen. Der Rest des Briefes hatte Zeit. Rasch eilte Christina zur Treppe, die Stufen hinunter, jede zweite überspringend, so daß ihre langen Zöpfe flogen:"Bärbel, warte!"
"Was ist das denn für ein Benehmen, hier so zu schreien?"
Erschreckt blieb Christina stehen. "Entschuldigen Sie, Fräulein Bittrig."
Fräulein Bittrig schien ihr ausnahmsweise zu verzeihen, denn majestätisch marschierte sie an ihr vorbei nach oben.
Das war noch einmal gutgegangen. Schnell nahm Christina die letzten Stufen. Die Schulhalle war leer, aber zwischen Tür und Angel des Haupteingangs wurde ein Kaugummi
16

in die Länge gezogen: das konnte nur Bärbel sein. Sie hatte also gewartet.
"Mach schon, Sprotte, was ist?"
"Ich komm mit."
"So aufgekratzt, hat jemand bei euch das große Los gezogen?"
"Ach was, pleite sind sie."
"Das sind jetzt alle, als sei das ein Grund, um an die Decke zu springen. Und deine Heimreise?"
"Wovon, wenn alle pleite sind? Die fällt bis Weihnachten ins Wasser."
"Weltuntergang, Jubelsang. Briefe haben bei dir ungewöhnliche Wirkungen."
Christina steckte den Brief in ihre Manteltasche. Skeptisch schaute sie in den Himmel, der stark bewölkt war. Wenn es wirklich regnen sollte, hatte ihr Sommermantel ja eine Kapuze. Bärbel war wieder einmal leichtsinnig. In leichter Bluse und Faltenrock, war sie nicht unbedingt dem Wetter entsprechend angezogen. Oft schon hatte es ihr eine Erkältung und damit viele Rügen eingebracht. Eine Erkältung, des Sängers größter Feind, machte beim Chor gewöhnlich die Runde. Ob sie es jemals lernen würde? Christina bezweifelte es. Trotzdem, nichts gegen Bärbel! Schließlich hatte sie es ihr zu verdanken, daß sie sich mittlerweile von den meisten Kindern akzeptiert fühlte.
In der ersten Querstraße sahen sie ein ganzes Stück voraus Hannelore und Gabi zusammen mit einigen anderen Chorkindern - und auf die beiden hatten sie nun extra gewartet. "Marschiert nur", brummte Barbara.
Alois und Fritz entdeckten sie auch in dieser Straße, wie nicht anders zu erwarten vor dem Cafe.
"Da läuft einem ja das Wasser im Mund zusammen, wenn's wirklich so ist, daß man alles wieder kaufen kann. Glaub mir, Bärbel, Kaugummi gibt es sowieso noch nicht, und wenn, dann bestimmt nicht dort. Übrigens, gleich da drüben", Christina wies auf die gegenüberliegende Straßenseite, "da sind zwei Geschäfte: Spielsachen und Bekleidung."
Barbara war sofort einverstanden. Vielleicht gab es dort Blusen. Sie hatte eine Schwäche für Kaugummi und Blusen, und Christina wußte das.
Sie überquerten die Straße, und noch bevor sie das Schaufenster ganz erreicht hatten, rief Christina entzückt aus:"Oh, Bärbel, schau nur die Puppen!" Sie rannten an den vorübergehenden Passanten, vorwiegend Hausfrauen mit Einkaufstaschen, vorbei, und dann standen sie vor einer Auswahl von sechs Puppen und anderen Spielsachen.
"Weißt du, Bärbel, ich möchte noch mal klein sein, so klein, daß man noch einen Wunschzettel an den Weihnachtsmann schreiben kann."
"Den kannst du doch auch heute noch schreiben. Du solltest mal meine sehen. Die einzigen Briefe, die eine tadellose Länge erreichen. Frag bitte nicht, was ich davon bisher unterm Baum fand. Das ändert sich jetzt vielleicht ein bißchen."
"Aber eine Puppe?"
"Warum nicht, wenn du sie magst."
Vielleicht hat sie später einmal genug Geld, dachte Christina. Die schönsten Puppen würde sie sich dann kaufen und überall hinsetzen.
"Hast du keine?"
"Doch, zwei: Eine ganz alte von meiner Schwester und eine mit langen schwarzen Locken, ganz süß mit rosa Kleidchen und passendem Schutenhut. Angelika heißt sie. Meine Tante schenkte sie mir früher mal zu Weihnachten; seitdem sitzt sie in Kiel auf meinem Bett. Zum Spielen war sie zu schade."
"So feine Kleider haben meine nicht, im Gegenteil, die sehen alle aus, als seien sie schwerverwundet von der Front zurückgekommen. Mein Bruder ließ sie immer Fallschirmspringen. Dafür durfte ich dann mit seinem Stabilbaukasten spielen. Komm, gehn wir nach nebenan. - Dirndl! Christina, schau hier, drei Dirndlkleider und eine fesche
17

Trachtenjacke. Aber die Blusen fehlen, die sind bestimmt drinnen!"
Neue Kleidung brauchte Christina zwar auch, denn was ihr vor zwei Jahren bei ihrer Ankunft in München reichlich gepaßt hatte, war ihr allmählich zu klein geworden. Trotzdem konnte sie ihren Blick nicht von all den Spielsachen losmachen. "Wo mag das alles nur so schnell hergekommen sein? Praktisch über Nacht."
"Das magst' wohl sagen. Da liegt nun alles, und man kann nichts kaufen. Mir stinkt's!"
"Na, na, ned so arg. Drüben müßt's schauen, Schokolade und Bonbons, haufenweise." Das waren Alois und Fritz. "Zwar müßte man jetzt einen Sack Geld haben, aber der kommt später, wenn ich mein Orchester habe. Ihr werdet's sehen", brüstete sich Alois, und die Jungen trotteten weiter, vorbei an den alten braunen Mietshäusern, die das Bild dieses Stadtteils bestimmten.
"Du Aufschneider!" rief Barbara ihm nach, und zu Christina sagte sie: "An Minderwertigkeitskomplexen leidet das Bierferkel weiß Gott nicht. Aber schneidig aussehen tut er trotzdem, gell?" Sie schaute zu Christina hinüber; keine Bestätigung, kein Kommentar. "Dann nicht", murmelte sie. "Was meinst du, Sprotte, wir haben doch eigentlich genug gesehen, und kaufen kann man sowieso nichts, gehn wir zurück?!" rief sie mit Nachdruck. Christina jedoch wurde von einer anderen Stimme abgelenkt.
"Sag, bist du nicht die vom Chor?"
Ein Mädchen mit braunem, krausem Haar, das kess in die Stirn fiel, stand vor ihr. Christina kannte sie nicht, hingegen kamen ihr die anderen zwei Mädchen, die sich wenige Schritte abseits hielten, bekannt vor. Die eine hatte braune, die andere leicht rötliche Zöpfe. Alle trugen die gleichen grauen Kleider und Strickjacken, und waren ungefähr in ihrem Alter. Christina überlegte, woher sie sie kannte.
"Na klar, das bist du... Du schaust uns an, als wüßtest du es nicht mehr? Du hast bei uns gesungen, zu Weihnachten, erst mit allen und dann alleine."
"Natürlich, im Kinderheim, nicht wahr?"
"Ja, da hast du uns doch deine Bonbons geschenkt, die die Frau Oberin euch gegeben hat."
"Und daran erinnerst du dich noch?"
"Na klar, und gar gut gesungen hast. Du wirst bestimmt mal a gute Sängerin, das wett'i."
"Lieber nicht, beim Wetten verliert man nur. Was macht ihr denn hier?"
"Siehst ned unseren Ranzen?-Also kommen wir wohl aus der Schule, gell?"
"Aber mit einem Umweg, wir bummeln noch", fügte jetzt die mit den braunen Zöpfen hinzu, von der Redelustigen jedoch sofort wieder abgelöst. "Und was macht ihr?"
"Wir bummeln auch. Ihr aber solltet lieber zurück, sonst gibt's noch Ärger."
"Macht nix. Viel Geld müßte man haben, gell? Habt ihr welches?"
"Nur im Traum", entgegnete Barbara, die sich hinzugesellt hatte. "Wie heißt ihr eigentlich?"
"Elsbeth, und das ist Liselotte, und das ist Gerlinde", sprudelte es heraus, als hätten die anderen zwei Sprechverbot. "Und wie heißt ihr?"
"Christina."
"Und ich bin Barbara. Seht bloß zu, daß ihr nicht zu spät kommt."
"Ja, ja, wir geh'n schon, aber beeilen tun wir uns deswegen eh ned. Singt mal wieder bei uns, gell? Grüß Gott!"
Die anderen zwei verabschiedeten sich auch, und Barbara und Christina sahen ihnen nach.
"Oh Sünde, und an diesen geschwätzigen Papagei hast du deineBonbons verschwendet?"
"Quatsch. Die muß sie sich von der Rotblonden erbettelt haben..."
"Das war Gerlinde."
"Stimmt. Sie sollte sich die mit Liselotte teilen. Die zwei waren noch neu im Heim und
18

genauso schüchtern wie eben. Sag Bärbel, hast du auch schon mal erlebt, daß du einem Menschen begegnest und denkst, du kennst ihn, hast ihn aber noch nie vorher gesehen?"
"Ich nicht, aber meiner Mutter ist es mal passiert. Sie dachte ihrer Friseuse begegnet zu sein; sie grüßte sie und erkundigte sich bei der Fremden eingehend nach dem Befinden der Familie. Die hatte meine Mutter bestimmt für leicht verstört gehalten. Peinlich, was?"
"Das war klare Personenverwechslung, vielleicht aber ist das im Moment bei mir nichts anderes, nur - daß mir die Person, die der anderen ähnelt, nicht einfällt."
"Denkst du an den Papagei von eben?"
"Nein!" lachte Christina.
"Also die anderen zwei? Die hast du zu Weihnachten gesehen, und eben standen sie wieder vor dir."
"Kann sein, nur zu Weihnachten erging es mir genauso. Ist ja egal; schade ist nur, daß du an dem Konzertabend gerade krank warst."
"Warum?"
"Mal in so einem Heim gewesen zu sein und sich dann auszumalen, daß es ein ständiges Zuhause ist, immer unter fremden Menschen..."
"Unser Schulheim ist nicht viel anders."
"Da ist aber immer noch das Zuhause."
"Nicht für alle. Marianne zum Beispiel ist Vollwaise."
"Wirklich? Das wußte ich nicht. Nun, zu dumm, daß dieser Wasserfall dabei war. Ich hätte lieber mit Liselotte und Gerlinde gesprochen."
"Und du glaubst wirklich, daß die beiden dich angequatscht hätten? Die waren viel zu schüchtern."
Das sah Christina ein. Sie beobachtete, wie die drei in eine Querstraße nach links, entgegengesetzt von ihrem Schulheim, einbogen. Elsbeth schwang lustig ihren vom Rücken genommenen Ranzen im Kreis.
Barbara interessierte sich schon wieder für die Sachen im Schaufenster, begeistert an ihrem Kaugummi ziehend.
"Weißt du was, Bärbel", sagte Christina, "ich schreibe ganz einfach mal an Gerlinde und Liselotte."
"Weil der Papagei deinen Gesang gepriesen hat? Die hat dabei nur an die Bonbons gedacht."
"Nein, aber weil sie ganz alleine sind."
"Natürlich, da warten sie auf dich."
"Bärbel, dir fehlt das Verständnis."
"Für Kaugummi nie. Ob man das auch bei uns bald kaufen kann? Bisher versorgt mich meine Tante aus Amerika ja noch ganz gut."
"Pfundweise! Du siehst doch, ein neues Deutschland: Das haben wir unserem Herrgott zu verdanken."
"Du meinst wohl unserem Kanzler und Kaugummi den Amerikanern."
19

DONNERSTAG, 16.9.1948
Die Abendsonne überm Wald in gold'nen Wolken ruht, ein jeder legt sein Werkzeug hin und schwenkt zum Gruß den Hut...
Drei kurze, schallende Stockschläge aufs Pult, und jäh verklang der Gesang.
"Wo bleiben das Crescendo und das Diminuendo?! Konzentration, sage ich, konzentriert euch! Ludwig, was bedeutet Diminuendo?"
Sofort erhob sich der Knirps, der erst wenige Tage beim Chor war. Murmelnd kratzte er sich hinterm Ohr: "Diminuendo, Diminuendo ersten Tag erfahren."
"Wird's bald?!"
Da flüsterte hinter ihm eine rettende Stimme. Er wiederholte: "Zum Beispiel meine Hosen: sie müssen diminuiert werden, 'sind zu lang, Herr Doktor Groll." Die Kinder platzten los vor Lachen.
"Stramm gezogen werden muß dir die Hose! Verschwinde! Raus mit dir!"
Ludwig sputete sich. Von der Tür aus zeigte er den Kindern, ohne dass Groll es sah, die Faust, und dann verschwand er.
Auweia, mein Nachfolger, dachte Christina. Sie erinnerte sich zwei Jahre zurück, als auch sie rausgeflogen war. Von Groll hatte sie nichts mehr zu befürchten, aber sein Aufbrausen fand sie schrecklich.
Der Unterricht nahm schließlich noch einen friedlichen Verlauf. Die bebende Stimme hatte die Geister wachgerüttelt, und der Gesang stellte Groll nun zufrieden.
Das schrille Läuten der Schulglocke zeigte das Ende der Chorproben an. Beim Einordnen der Noten und Verlassen des Musikzimmers wurden dennoch laute Worte vermieden. Wie befreiend wirkte dagegen der lange Korridor.
"Sprotte", Barbara zupfte Christina von hinten am Rock, "he, du Seelsorgerin, was schreiben denn deine Schützlinge?"
"Gleich", wandte Christina sich zu ihr um. "Gehen wir hinunter auf den Hof."
Von Walter ertönte ein kurzer Jodelton aus dem Parterre: das Geheimzeichen für 'reine Luft'. Schon sausten einige Jungen auf dem Treppengeländer an ihnen vorbei hinunter. Verschmitzt blinzelten Barbara und Christina sich zu. Sie kannten die Ausreißer, die sich vor dem Abendessen noch rasch ein Stück Kuchen kauften.
Sie sahen sie durch die Haupttür entwischen, während sie selbst im Parterre durch die Tür neben der Treppe auf den Hof hinausliefen. Hier, vor neugierigen Blicken geschützt, gegen die Hauswand gekniet, zog Christina die gefalteten Briefe aus ihrer Rocktasche.
"Waren sie nicht platt über deinen Brief?"
"Gewundert haben sie sich und gefreut. Bitte lies nur selbst, von allen dreien einen Bogen."
"Das ist nur ein halber." Barbara hielt das Papier wedelnd mit zwei Fingern hoch.
"Elsbeths. Schließlich kommt's nicht auf die Länge an."
"Nein, sondern nur auf den Inhalt, und der zeigt, daß sie bloß Fressalien im Kopf hat, genau wie ich's dir gesagt habe. Und an Rechtschreibfehlern mangelt's bei der auch nicht."
"Schenk dir deine Kritik. Sie haßt die Schule, was sie auch ehrlich zugibt. Es ist nett, daß sie überhaupt geschrieben hat. Lies doch die anderen zwei. Liselotte und Gerlinde müssen übrigens ein Jahr älter sein als wir, sie hoffen dreiundfünfzig ihr Abitur zu machen."
"Vielleicht sind sie schon mal sitzen geblieben."
"Gerlinde will mal Mathe studieren, und Liselotte möchte Krankenschwester werden."
"Und dafür büffelt sie sich durch die Oberschule? Meine Tante hat das mit der
20

Volksschule geschafft."
"Na und? Wenn Liselotte den Kopf dazu hat? Du, komisch, von ihren Eltern schreiben sie gar nichts."
"Wenn sie keine haben? Außerdem binden sie dir bestimmt nicht alles auf die Nase, so wenig, wie sie dich kennen. Nun laß mich endlich lesen."
Doch Christina war nicht zu stoppen. Sie schnalzte mit den Fingern. "Ich hab's! Vielleicht singen wir zu Weihnachten wieder dort im Heim, und dann überrasche ich sie mit einer Tafel Schokolade. Ich schreib ihnen gleich heute noch. Was glaubst du wohl, was unser Herrgott dazu sagen würde, hm?"
"Daß du Mutter und Vater ehren sollst, daß du also erst mal nach Hause schreiben solltest, was du seit Tagen vor dir herschiebst. Die drei schreiben einmal und haben sofort den Vorrang."
"Brauchst mich gar nicht daran zu erinnern. Schließlich hat mich mein erster Brief noch Überwindung gekostet, und jetzt, wo der Faden einmal gesponnen ist, darf er nicht wieder zerreißen. Das verstehst du nicht."
"Da hast du ein wahres Wort gesprochen." Barbara sprang auf. "Da, nimm deine Briefe, ich muß noch Schularbeiten machen. Du hilfst mir mit meinem Englisch, gell, du Waisenmutter? Dafür darfst du deine Schützlinge von mir grüßen, Schokolade bekommen sie aber von mir nicht."
21

FREITAG, 24.12.1948
Drei Monate waren vergangen, und heute war Heiligabend. Der dritte seit Christinas Aufenthalt in München. Die Chorkinder hatten in den vergangenen zwei Wochen, wie so üblich, ihre Weihnachtskonzerte gegeben: In Krankenhäusern, Altersheimen und in einem Heim für körperlich behinderte Kinder. Nur in dem bestimmten Waisenhaus, auf das Christina sich bereits gefreut hatte, waren sie nicht gewesen.
Wurde es auf das nächste Fest verlegt? Vielleicht ein Oster- oder Pfingstkonzert? Oder war das Waisenhaus für künftige Konzerte gestrichen? Nein, diese Möglichkeit wies Christina entschieden von sich. Und die Tafel Schokolade, die hübsch verpackt mit einer roten Schleife im Spind lag, müsse warten, genau wie sie.
Für sich selbst fand Christina genügend Schokolade in ihrem Weihnachtspaket und obendrein, sie konnte es kaum glauben, drei Stücke echten Lübecker Marzipans in der Form kleiner Brote mit Schokolade überzogen. Einer solchen Köstlichkeit konnte man nicht widerstehen, und schließlich war ja Weihnachten. Wenn sie eins aß, blieben ihr immer noch zwei. Zudem war es ein gutes Gefühl, nicht vor den Augen der anderen zu naschen. Nur die Puppe vom Nachbarbett schaute ihr lächelnd zu. Die Kinder, bis auf die beiden, die gerade bei Herrn Göbel waren, feierten Weihnachten zu Hause. Still war es im Schlafraum - weihnachtlich still? Christina wußte nicht so recht was sie fühlte, aber Weihnachten war heute: Das Marzipan, ihre Lieblingsnascherei, zeigte es. Wie viele Jahre waren vergangen, seit sie das letzte Mal welches bekommen hatte! Bedächtig wickelte sie das Marzipanbrot aus der Zellophanhülle. Im Schneidersitz auf ihrem Bett hockend, knabberte sie es genießerisch, während sie interessiert in ihrem neuen Buch mit Tiergeschichten blätterte.
Diese Geschenke hätte sie in Kiel unter dem Weihnachtsbaum vorfinden sollen, doch der nach der Währungsreform im Sommer neu angesetzte Spargroschen mußte zum Fest wieder ausgegeben werden - zum tiefen Bedauern der Eltern, zur größten Freude Christinas.
Mögen noch viele Sparanfänge folgen! Sie freute sich über die gesandten Gaben: das Buch, die Näschereien und die Strickarbeiten von der Tante und der Großmutter, vor allem über einen neuen, passenden Rock.
Christina horchte auf: Aus der Nähe erklang Weihnachtsmusik. Schnell legte sie das Buch beiseite, sprang von ihrem Bett und lief ans Fenster. In der Dunkelheit und dem dichten Schneefall war aber nichts zu erkennen. Sie drehte das Licht aus und versuchte es noch mal, wobei sie die Stirn fest gegen die Scheibe preßte, doch nur die Schneeflocken waren jetzt im matten Schein der Straßenlampen deutlicher sichtbar. Dabei mußte die Musik ganz nah sein.
"Stille Nacht, heilige Nacht..." Wie feierlich das klang. In wenigen Minuten werden sie in Kiel das gleiche Lied singen, dachte Christina. Sie erinnerte sich an die Bescherung zu Hause, die dort traditionsgemäß abends um sechs stattfand. Gewiß hatte der Vater das Wohnzimmer in diesem Jahr mit besonderer Liebe geschmückt, weil es das erste Weihnachtsfest wieder mit Hans-Jürgen war und auch das erste Fest, für das die Mutter endlich keine Lebensmittelkarten für Backzutaten zu sparen brauchte. Die vielen Kerzen, die diesmal brennen würden, die frohe Stimmung. Ob sie jetzt auch mal an mich denken?
"Süßer die Glocken nie klingen..." Christina liebte diese Melodie. In Gedanken verfolgte sie den Refrain: Segne den Vater, die Mutter, das Kind. Den Vater, die Mutter...? Wie mochte es jetzt bei Liselotte und Gerlinde zugehen? Keines der Kinder hatte ein Zuhause. Sie alle feierten zusammen, genauso wie im vergangenen Jahr, und hier bei ihr lag die Schokolade. Wie gern hätte sie ihnen die Tafel jetzt gebracht, und nicht nur die eine, aus dem Paket könnte sie noch etwas dazu legen. Ja, das würde sie tun! Wäre nur das Verlassen des Schulgebäudes
22

nicht verboten, irgendwie würde sie dorthin finden. Und dann würde sie nicht bis zum nächsten Konzert warten müssen. Oder - Christina überlegte, da war zwar Bärbel, die mitunter nach Hause fuhr, aber ihr die Schokolade anzuvertrauen? Unmöglich, sie sorgte sicher für ihren eigenen Magen.
Licht wurde angeschaltet. Erschrocken wandte Christina sich zur Tür um.
"So ganz alleine und im Dunkeln?" fragte Frau Martin auf Christina zugehend.
"Ich wollte die Kapelle sehen, aber der Schnee ist zu dicht."
"Das ist eine kleine Musikantengruppe. Du kannst sie aber von hier aus nicht erkennen; sie spielt an der Ecke vom Altersheim. Hör, Christina, komm doch mit hinüber, wo wir alle sind."
Christina wußte vom Jahr zuvor, daß Herr Göbel sein kleines Zimmer für sich und die über Weihnachten ebenfalls hiergebliebenen Lehrkräfte Frau Martin und Herrn Traugard, sowie für Mimi und die wenigen Kinder gemütlich hergerichtet hatte. Dennoch wäre sie jetzt lieber alleine geblieben. Christina überlegte, wie sie das erreichen könnte, aber es fiel ihr keine passende Ausrede ein. So bat sie lediglich darum, hierbleiben zu dürfen.
"Daß du heute Heimweh hast, ist verständlich, Christina, aber glaube mir, deine Eltern sind sicher auch sehr traurig, daß sie dir das Geld für die Heimreise nicht schicken konnten. So ist unsere Zeit. Dafür scheint es aber jetzt für alle wieder hoffnungsvoller zu werden."
"Ich schrieb nach Kiel, daß sie sich über mich nicht sorgen sollen. Sie brauchen das Geld jetzt dringend für Kleidung für meinen Bruder Hans-Jürgen. Er ist nämlich aus der Gefangenschaft gekommen."
"Das ist ja ein Geschenk des Himmels. Ich hoffe, er ist gesund?"
"Doch, das glaub ich schon. Er hat mir einen langen Brief geschrieben." Plötzlich lächelte sie: "Ich mochte ihn immer von allen Geschwistern am liebsten."
"Dann wird das Wiedersehen ja eine doppelte Freude", sagte Frau Martin aufmunternd, "und vielleicht ist bis dahin auch dein anderer Bruder heimgekehrt. Wie heißt er doch noch?"
"Gerhard."
"Richtig, Gerhard. Ist er nicht der älteste von euch Geschwistern?"
Christina nickte. "Er muß schon sechsundzwanzig sein, denn Hans-Jürgen ist vierundzwanzig, und Gisela wurde vor wenigen Tagen einundzwanzig. Und Kurt, er ist der jüngste von ihnen."
"Dann bist du ja ein kleiner Nachkömmling, das Nesthäkchen in deiner Familie", scherzte Frau Martin. "Da sollst du mal sehen, bei so vielen Geschwistern, die schon verdienen, und dazu noch dein Vater, da ist das Reisegeld bis zu den nächsten Ferien ganz bestimmt beisammen." Frau Martin wies auf Christinas Bett, auf dem ausgebreitet ein buntes Durcheinander von Gaben, Verpackungsmaterial, Karten und Briefen lag. "Wie ich sehe, hast du viele schöne Geschenke bekommen."
Christina nickte erleichtert: das Thema Heimreise und Nachkömmling war beendet.
Gern zeigte sie jetzt, was alles in dem Paket aus Kiel gewesen war. Der dunkelblaue Wollrock, den Christinas Mutter genäht hatte, gefiel Frau Martin am besten. Spontan hielt sie ihn ihr vor.
"Nett siehst du darin aus, schon fast wie ein Teenager."
Christina freute sich über das Kompliment. Sie hatte sich schon oft gewünscht bald erwachsen zu sein, um endlich ihr eigenes Geld zu verdienen, aber andererseits hatte sie auch wieder Angst davor. Es gab noch so viel zu lernen.
"Etwas zum Lesen hast du auch bekommen." Frau Martin setzte sich zu Christina auf die Bettkante und blätterte das Buch durch. "Tiergeschichten. Du hast Tiere sicher gern?"
"Ja, besonders Pferde."
"Wer weiß, vielleicht hast du später mal dein eigenes. Sieh mal, ist dieser Schimmel nicht hübsch?" Frau Martin zeigte auf eine der Abbildungen.
23

"Ja, schon, aber so ein teures Pferd werde ich bestimmt nie besitzen, dafür müßte ich viel zu viel Geld verdienen, und außerdem: anderes wird dringender gebraucht."
Wie schon so oft wunderte sich Frau Martin über die ernste Antwort ihrer Schülerin. Daß Christina etwas bedrückte, hatte sie längst bemerkt, aber nie war es ihr während der seltenen Privatgespräche gelungen, etwas von ihr zu erfahren.
"Natürlich hast du recht, Christina, aber Kinder träumen doch nun mal gern von allem, was sie sich wünschen. Oft bauen sie sich im Traum eine ganz eigene Welt auf. Und wenn ich dich so beobachte, habe ich manchmal das Gefühl, als wäre das bei dir nicht anders."
Verlegen wickelte Christina sich den Bindfaden vom Paket um den Finger. "Manchmal schon", gestand sie flüsternd. "Herr Traugard übt täglich mit mir."
"Du möchtest Sängerin werden, nicht wahr?"
"Das ist mein größter Wunsch!" Und stockend fügte sie hinzu: "Ich möchte aber auch Tänzerin werden."
"Beides? Hm, ich glaube, Christina, da hast du dir ein bißchen zu viel vorgenommen. Du weißt, daß zu beidem ein hartes Training gehört, und wenn man sich zu viel vornimmt, wird weder aus dem einen noch aus dem anderen etwas. Bei deiner Stimme solltest du dich hauptsächlich auf die Gesangausbildung konzentrieren und das Ballett nebenbei als Hobby betreiben. Wichtig ist vor allem bei der harten Bühnenarbeit, daß du gesund bleibst."
Christina wußte, daß dies kein Problem sein würde, so gesund, wie sie immer war. Aber das Ballett würde sie nicht weniger ernst nehmen als den Gesang, das konnte ihr niemand ausreden. Ihr fiel das Gerücht ein, das sie am Morgen gehört hatte, und jetzt war ein günstiger Augenblick, danach zu fragen: "Frau Martin, stimmt es, daß Sie von hier wegziehen?"
Überrascht sah Frau Martin sie an. "Das hat sich bereits herumgesprochen?"
Also doch, durchfuhr es Christina, die gegen plötzlich aufsteigende Tränen ankämpfen mußte. "Ich freue mich ja, daß Ihr Mann aus der Gefangenschaft zurückgekehrt ist, ganz bestimmt, aber darüber, daß Sie uns verlassen..."
Liebevoll, wie ein eigenes Kind, drückte Frau Martin ihre kleine Schülerin an sich. "Was glaubst du wohl, Christina, wie glücklich ich gewesen wäre, wenn mein Mann wieder heimgekehrt wäre. Er ist vor fünf Jahren gefallen, und in demselben Jahr verunglückte meine kleine Tochter bei einem Bombenangriff. Ulrike wäre jetzt genauso alt wie du. Ihre Zöpfe waren damals zwar noch nicht so lang wie deine, aber genauso blond, und blaue Augen hatte sie auch."
Christina war beschämt über ihre Bemerkung und entschuldigte sich verlegen. "Es tut mir leid, daß Sie so allein sind."
"Allein? Oh nein, das war ich nie. Ich habe meine Arbeit, viele Freunde und vor allem euch. Ihr habt mich genug auf andere Gedanken gebracht. Aber, Christina, ich habe dir jetzt von mir erzählt - jetzt könntest du auch mal etwas von dir und deinen Angehörigen erzählen, und wie es euch im Krieg ergangen ist."
"Nein, wir haben nichts verloren, nur meine Oma wurde in Hamburg ausgebombt. Seitdem wohnt sie bei meinem Onkel und meiner Tante in Kiel. Und sonst?" Sie zuckte mit den Achseln. "Kurt ist noch in der Lehre und Gisela arbeitet bei der gleichen Bank, bei der mein Vater angestellt ist. Und was ich mal werden möchte, das wissen Sie ja. Aber, Frau Martin, bei wem haben wir denn weiter Unterricht, wenn Sie nicht mehr da sind?"
Frau Martin seufzte. "Christina, wenn du jetzt mit mir nach drüben kommst, verspreche ich dir, daß ich euch noch so lange wie möglich unterrichten werde. Wenn ich geheiratet habe, kann ich nicht mehr hier wohnen. Und das wird im Sommer sein."
"Immerhin noch ein halbes Jahr", rief Christina erfreut, "das ist mein schönstes Weihnachtsgeschenk!"
Gemeinsam mit der Lehrerin ging sie nun zu Herrn Göbel, Marianne und Eberhard, die in weihnachtlicher Stimmung schon auf sie warteten.
24

FREITAG, 23.9.1949
Mißmutig preßte Christina die gespreizten Finger gegeneinander, dann schüttelte sie zur Auflockerung die Hände. Ihre Klavierübungen klappten nicht. Lag es an mangelnder Konzentration, oder störte es sie, daß Gabi neben ihr saß und Noten kopierte? Wohl kaum, denn die Anwesenheit anderer hatte ihr bisher nie etwas ausgemacht.
"Warum gleich so sauer, wenn's mal nicht so flutscht. Schließlich bist eh mit deinen Etüden verheiratet", sagte Gabi und schaute dabei über ihre ewig rutschende Brille hinweg. "Heute ein kleiner Ehekrach und morgen wieder verliebt. Himmel, bei deiner Leidenschaft!"
"Leidenschaft! So ein Quatsch. Nein, aber klappen muß es. Mein Gott, Traugards Finger gleiten nur so über die Tasten."
"Traugard? Ha, der harmlose Mensch. Nein, nur ein paar Jahre noch, dann kommt Christina Hoppe, die Pianistengefahr aller Konzerthäuser. Komm, hör auf zu sauern und klimper weiter, damit ich mich später an das Üben deiner heißgeliebten Etüden erinnern kann."
Christina mußte lachen, obwohl sie sich ziemlich gehänselt fühlte, doch Gabi war ja bekannt für ihre ewige Fopperei. Aber Christinas Gedanken wollten nicht bei der Sache bleiben. Sie beneidete Traugard um seinen Beruf als Musiklehrer an einer so bekannten Schule, wo er selbständig arbeiten konnte. Sogar ein eigenes Büro hatte er, mit Klavier und Notenschrank. Eigentlich war es ein kahler Raum, und trotzdem fühlte sie sich hier so richtig wohl. Vielleicht lag es an den unendlich vielen Stunden, die sie hier schon mit Gesang- und Klavierübungen verbracht hatte. Stunden voll harter Arbeit, die ihr einst halfen, die Eintrittsprüfung zu bestehen.
"Üben!" riß Gabi sie aus ihren Träumen. "Eine angehende Klimpergefahr muß dabei Blut schwitzen. Also, stürzen Sie sich auf die Tasten, Hoppe."
Christina ging nicht darauf ein. "Weißt du, Gabi, dieses Zimmer gefällt mir. Warum sagt eigentlich jeder, sämtliche Möbel hier in der Schule seien Bruch und Dalles? Diese hier zum Beispiel gefallen mir gut."
"Im Ernst? Hier fehlt eine Ecke, da sind Kratzer, Stuhlbeine sind locker, und unsere Betten und Spinde ... Darüber schweigen wir lieber. Das sind teilweise Souvenirs aus den Trümmern der Ausbombung." Ungläubig schüttelte Gabi den Kopf.
"Schönheitsfehler, die lassen sich reparieren. Immerhin sind das gerettete Gegenstände."
"Gewiß, vor allem die Instrumente und Betten. Allein dadurch konnte der Chor erhalten bleiben. Ich bin ihm übrigens gerade beim Einzug in diese Schule beigetreten."
"Gut ein Jahr, bevor ich kam", meinte Christina und fügte beiläufig hinzu: "Heute vor drei Jahren auf den Tag genau, kam mein Bruder mich besuchen."
"Und seitdem hast du keinen Besuch mehr gehabt? Und in den drei Jahren bist du auch kein einziges Mal zu Hause gewesen?"
Christina zuckte teilnahmslos mit den Schultern: "Es ist immer wieder etwas dazwischen gekommen, und meine Mutter kann bei ihrer schlechten Gesundheit die lange Fahrt nicht machen; genausowenig wie mein Vater, denn er ist auch nicht mehr der Kräftigste." Ihre Gleichgültigkeit täuschte. Die Nachricht von Hans-Jürgens Tod in den letzten großen Ferien hatte sie hart getroffen. Sie hatte ihren Lieblingsbruder so gern wiedersehen wollen. In allen seinen Briefen hatte er nie seine Krankheit erwähnt, die er sich in der Kriegsgefangenschaft zugezogen hatte. Sie hatten schon alles für ihre Heimreise geregelt, gleich nach der Rückkehr von der ersten Auslandstournee des Chores hätte sie fahren sollen. Und dann war es plötzlich zu spät. Die Kraft, die trauernden Eltern zu besuchen, konnte sie nicht aufbringen. Hier in
25

München war sie für die Hilfe von Frau Lingner, damals noch Frau Martin, sehr dankbar gewesen. Sie hatte sich Christinas sofort angenommen, obwohl es auch ihr schwerfiel, das Mädchen zu verstehen.
"Hast du denn nie Heimweh?" fragte Gabi.
"Nein, sie schreiben mir doch immer."
Gabi schüttelte den Kopf. "Weißt du, ich versteh dich einfach nicht. Aber vielleicht ist dein Lernen deshalb wie eine Krankheit geworden, oder hast du früher schon darunter gelitten?"
"Ich leide doch nicht! Mir macht es Spaß, genauso wie es mir früher gefallen hat, die Lehrer als Karikaturen zu zeichnen."
"Was! Du hast Karikaturen ... ? Also bist du jetzt doch krank."
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und einer der Chorjungen rief: "Sprotte, du sollst dich beim Direktor melden!" Dann fiel die Tür wieder ins Schloß.
"Hast du vom Direktor etwa auch eine Karikatur gezeichnet?"
Beklommen schüttelte Christina den Kopf. "Vielleicht ist es, weil wir reden, anstatt zu arbeiten?"
"Oh Sprotte! Ich sag's ja, du bist mit deinen Etüden verheiratet, und zwar so sehr, daß du nicht mehr zwischen Pflicht und Freizeit unterscheiden kannst." Gabi gab ihrer Brille einen kleinen Schubs und beförderte sie damit von der Nasenspitze wieder aufwärts. "Schließlich dürfen wir in dieser Stunde doch machen, was wir wollen."
Auf dem Korridor traf Christina mit Alois Vierärpel zusammen.
"Heiliger Bimbam, Sprotte, du etwa auch? Das ist mir ja eine Ehre."
"Darf man fragen, was du wieder ausgefressen hast?" fragte sie, wütend über seine große Klappe.
"Gar nichts, ich dachte, meine Sündenliste ist mal leer, aber da kann man sich wohl auch irren. Und du?"
Christina zuckte die Achseln: "Ich weiß nur, daß ich einen dumpfen Kopf habe. Nichts klappt heute, und jetzt auch noch das... "
Sie waren mittlerweile vor dem Büro des Direktors angelangt, und Alois flüsterte ihr zu: "Vor allem nicht in die Hosen machen, gefressen wird niemand." Dann klopfte er kräftig an die Tür.
Beim "Herein!" hätte allerdings selbst Alois jetzt am liebsten kehrtgemacht, aber er wäre nicht Alois Vierärpel, wenn er in einem solchen Moment auch nur einen Anflug von Schwäche gezeigt hätte. Er riß die Tür auf und rief mit tiefer Verbeugung: "Grüß Gott, Herr Direktor!"
Christina brachte nur mit Mühe einen Gruß heraus und ärgerte sich, daß sie dem tapferen Bierferkel gegenüber nicht mehr Mut bewies.
Währenddessen amüsierte sich Direktor Günther im stillen über den Anblick der beiden. So gegensätzlich ihre Haltungen auch waren, drückten sie doch genau das gleiche aus: ein schlechtes Gewissen. Langsam legte er den Füllfederhalter aus der Hand, klappte eine Akte zu, und mit einem Schmunzeln sagte er: "Ich habe eine hübsche Aufgabe für euch während der Weihnachtszeit."
Die erlösenden Worte waren gesprochen, und nun erfuhren die zwei, daß sie für die Märchenaufführung 'Hansel und Gretel' im Theater am Gärtnerplatz ausgewählt waren. Frau Lingner, sowie einige leitende Kräfte dort, hatten sie für die Hauptpartien vorgeschlagen.
Eine Hauptrolle und obendrein an einem richtigen Theater? Christina war überwältigt.
"Ich freue mich sehr", sagte Alois, nicht weniger glücklich als Christina, "mal was anderes als ein Konzert."
Dir. Günther schüttelte den Kopf. "Nicht ganz, es sind nämlich einige Gesangseinlagen dabei, und in deinem Fall, mein Lieber, muß ich sogar sagen: leider. Denn bei dir ist täglich
26

mit dem Stimmbruch zu rechnen."
"Keine Sorge, Herr Direktor, mein Vater bekam ihn auch erst mit sechzehn."
"Äußerst tröstlich. Trotzdem wählen wir für beide Partien vorsichtshalber noch einen Ersatz. Morgen sollt ihr dann um zehn im Theater sein. Herr Wetzel wird euch hinfahren."
"Morgen schon?" Christina hätte vor Freude am liebsten einen Luftsprung gemacht. "Ich werde mir bestimmt ganz viel Mühe geben."
"Ich auch, Herr Direktor, die Aufführung soll ein voller Erfolg werden!" versicherte Alois mit derartiger Inbrunst, daß sie alle lachen mußten.
Als die beiden wieder auf dem Flur waren, konnte Alois sich nicht mehr bremsen: "Ha, Sprotte, du und ich als Paar! Wie findest du das?"
"Nur als Bruder und Schwester, nicht als Paar", korrigierte sie ihn.
Christina war schon fast wieder in Traugards Büro verschwunden, als er ihr noch nachrief: "Also bis später, Sprotte, mein Schwesterherz!"
"Spinn nicht gar zu sehr, Bierferkel", wandte sie sich noch mal zu ihm um. Lachend schloß sie hinter sich die Tür. Sie war erstaunt über ihre plötzliche Schlagfertigkeit gegenüber diesem gerissensten aller Chorjungen. Wo war der vor wenigen Minuten beklagte Kloß im Hals, der sie immer so gehemmt hatte? Sie spürte ihn nicht mehr, und ihr war ganz leicht zumute. Und die geplante Heimreise im Dezember? Die mußte wegen der Aufführung wieder verschoben werden, das war nicht zu ändern. Wann bot sich ihr noch einmal eine solche Chance?
"Schwesterherz?" wiederholte Gabi verblüfft.
Ohne ein Wort zu sagen, setzte Christina sich mit verschmitztem Gesicht wieder ans Klavier und spielte die vorhin geübte Etüde - fehlerfrei. Dann endlich stillte sie die Neugier Gabis, die aus dem Staunen nicht mehr herauskam.
"Ich hatte gedacht, du würdest erst in ein paar Jahren die Bühnen unsicher machen. Aber daß du jetzt schon damit anfängst, noch dazu mit Bierferkel, alle Achtung! Sprotte, der kann spielen, das hat er am Elternabend bewiesen."
"Als wenn ich das nicht wüßte", entgegnete Christina. Ihr war schließlich klar, daß Alois außer seiner großen Klappe und einem Kopf voller Flausen, auch Talent besaß. "Da werde ich mich halt am Riemen reißen müssen."
Vom Musikzimmer klang der Gesang der Chorkinder herüber, während Christina, die allein im Schreibzimmer saß, sich noch einmal ihren Brief durchlas:
München, den 10.12.1949
Alle meine Lieben!
Eigentlich steht jetzt Musikunterricht auf dem Stundenplan. Elke, Alois, Wolfgang und ich sind davon zur Zeit befreit, damit wir neben den Proben noch Zeit für die Hausaufgaben haben. Wolfgang ist Alois' Ersatz, falls sein Stimmbruch vorzeitig einsetzt. Uns macht die Schauspielerei sehr viel Spaß, denn auf der Bühne wird das Märchen zur Wirklichkeit. Das ist ein wunderbares Gefühl. Und denkt euch, im Sommer machen wir wieder eine Tournee durch die Schweiz, anschließend fahren wir weiter nach Frankreich und zurück über Süddeutschland. 30 Kinder wurden ausgewählt, die daran teilnehmen dürfen. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie aufgeregt wir sind. Hier geht es übrigens fast wie in einem Bienenkorb zu: viele, die vor drei Jahren noch hier waren, sind abgegangen, und andere haben neu angefan-
27

gen. Jetzt habe ich noch eine Frage an Euch. Bevor wir auf Tournee gehen, möchte ich mir die Zöpfe bis zur Schulter abschneiden lassen. Dir habt doch nichts dagegen? Die langen Haare sind oft lästig, und etwas welliges Haar habe ich sowieso. Meine Freundin Bärbel hat sich ihre auch schneiden lassen und wirkt dadurch richtig erwachsen. Ich brauche meine Zöpfe jetzt noch als Gretel, denn sonst müßte ich eine Perücke tragen. Bis zur Sommertournee stehen noch einige andere Konzerte auf dem Programm, aber davon schreibe ich Euch das nächste Mal. Vielen Dank für Euren langen Brief. Ich freue mich sehr, daß Gisela sich so gut von ihrer Blinddarmoperation erholt hat. Nun wird sie im Januar sicher eine schöne Hochzeitsfeier haben. Daß Ihr die Feier um ein halbes Jahr vorverlegt habt, war ja eine Überraschung.
Inga hat heute auch wieder geschrieben, dabei habe ich noch nicht einmal auf ihren letzten Brief geantwortet. Sie befürchtet, daß ich inzwischen neue Freundinnen habe. Natürlich habe ich welche, aber deswegen braucht sie doch keine Angst zu haben. Außerdem will sie wissen, ob ich mal wieder in meine alte Klasse zurückkomme. Bestimmt haben sich die anderen mittlerweile auch verändert.
Ich finde es übrigens toll, wie gut Ihr immer meine Größe einschätzt. Die zwei neuen Kleider trage ich sehr gern.
In der letzten Französischarbeit hatte ich übrigens wieder eine Zwei. Sprachen machen mir viel Spaß. Später möchte ich Italienisch lernen. In einer Stunde fahren wir ins Theater, vorher muß ich noch schnell einige Mathematikaufgaben lösen.
Herzliche Grüße von Eurer dankbaren Christina.
Nachdenklich faltete Christina den Brief zusammen. An Gerlinde und Liselotte müßte sie eigentlich auch mal wieder schreiben, denn es gab so viel zu berichten. Ihr fiel ein, daß Waisenkinder zu Weihnachten manchmal auch ins Theater eingeladen werden. Ob sie dann vielleicht sogar 'Hansel und Gretel' sehen würden? Sie sah die Szene in Gedanken schon vor sich: Liselotte, Gerlinde und die schreibfaule Elsbeth im Zuschauerraum, und sie selbst mit Alois auf der Bühne. Als Hauptdarstellerin! Wie gewaltig das klang.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Alois, ein bißchen außer Atem, stürzte herein: "Sprotte, Schwesterherz, ich war auf der Pirsch. Was denkst du wohl, was ich gefangen habe?"
Christina brauchte nicht lange zu raten, das Päckchen in seiner Hand verriet den heimlichen Gang zur Konditorei. "Wieder mal Taschengeld verschwendet, hm? Aber das geht mich ja nichts an."
"Das stimmt! Verschwendet habe ich übrigens nichts", verbesserte Alois.
Über den Inhalt des Päckchens - zwei Stücke Marzipantorte - staunte Christina dann allerdings nicht schlecht. Daß er ihr eines davon anbot, war ihr nun doch zu viel. Bevor sie aber etwas sagen konnte, kommandierte Alois: "Hab dich nicht so, sondern beeil dich, damit man uns nicht erwischt. Schließlich hast du selbst gesagt, daß du am liebsten Marzipankuchen magst."
"Konnte ich denn ahnen, daß du gleich welchen kaufst? Noch dazu eine so teure Torte? Ich will ... ", doch weiter kam sie nicht, weil Alois ihr mit einem Stück von der Schokoladenverzierung den Mund gestopft hatte.
28

"Du brauchst keine Gewissensbisse zu haben, man darf ja wohl noch seinen Geburtstag feiern. Mein Onkel hat mir zwanzig Mark geschickt. Namenstage bedeuten dem Heiden nichts, nur Geburtstage."
"Du hast heute Geburtstag? Das ist natürlich was anderes: herzlichen Glückwunsch zum Fünfzehnten!" Jetzt zierte sie sich auch nicht länger und nahm ein Stück von der köstlichen Marzipantorte. "Ist es der gleiche Onkel, der dir später das Musikstudium in Berlin bezahlen wird?"
"Ja", antwortete Alois mit vollen Backen. "Dabei war er früher ein großer Geizkragen. Erst als mein Vater an der Front gefallen war, fühlte sich der eingefleischte Junggeselle zu väterlicher Pflicht aufgerufen und wurde mit der Zeit zu mir und meiner Mutter sogar richtig großzügig. Und wenn ich später vor meinem eigenen großen Orchester stehe", dabei unterstrich er seine Worte durch gestenreiches Taktschlagen, "habe ich es nur meinem Onkel Hubert zu verdanken." Alois sprach mit solch einer Selbstverständlichkeit von seinem Orchester, als existiere es bereits und warte nur noch auf seinen Dirigenten.
Christina stellte sich diese Zukunft herrlich vor. Toni wollte ja auch Dirigent werden und zusammen mit Alois studieren.
Mittlerweile hatten sie die Geburtstagstorte gegessen, und weil die Zeit knapp geworden war, beeilte Christina sich mit der Lösung ihrer Mathematikaufgaben, während Alois versuchte, noch einige Französischvokabeln zu lernen.
29

MITTWOCH, 13.9.1950
Die fast zwei Monate dauernde Tournee des Münchner Kinderchores war zu Ende gegangen. Angefangen hatte sie in der Schweiz, und über Frankreich zurück nach Süddeutschland geführt. In Augsburg, der Endstation ihrer Vertragsstädte, hatte der Chor am Vorabend sein letztes Konzert gegeben.
"Noch ungefähr fünfzehn Minuten, dann haben wir München erreicht", versuchte der Busfahrer die Kinder zu beruhigen, die müde und mit leerem Magen ungeduldig die Ankunft herbeisehnten. Über den Erfolg ihrer Konzerte waren alle zufrieden. In manchen Städten hatten sie als Anerkennung eine süße Gabe bekommen: entweder einen kleinen Konfektkasten, eine Tafel Schokolade, oder wie in Stuttgart, einen kleinen Zellophanbeutel voll Naschereien.
Die bedeutendste Anerkennung für Christina war jedoch der Beifall für ihre eigene Solopartie gewesen; ihr eigener Beifall, aus dem sie immer wieder erneut die Hoffnung auf eine spätere Karriere schöpfte. Während sie nun im Bus saß, glaubte sie den Applaus des gestrigen Abends noch ganz deutlich zu hören. Hatte sie bei ihren vorherigen Solopartien eigentlich anders empfunden? Oder bei der Aufführung von 'Hansel und Gretel'? Wohl kaum, aber früher, mit ihren Zöpfen, war sie 'bloß' als Kind aufgetreten. Dieses früher lag erst zwei Monate zurück. Einen Tag vor Antritt der Tournee hatte sie sich die langen Zöpfe abschneiden lassen. Lose und wellig, mit zwei bunten Spangen aus dem Gesicht gehalten, fiel ihr jetzt das blonde Haar auf die Schultern. Die neue Frisur und ihre sich inzwischen auffallend entwickelte Figur, hatten ihr Selbstbewußtsein gestärkt.
Das Konzert in Augsburg durfte nicht das letzte gewesen sein. Ihm sollten noch viele folgen. Vielleicht sogar schon in Kürze und mit mehr als nur einer Solopartie. Christina wandte ihren Blick vom Fenster auf Barbara, die neben ihr saß und gerade damit beschäftigt war, die Taschen ihrer Jacke, die sie auf dem Schoß liegen hatte, zu durchsuchen. Zum Vorschein kamen benutzte Taschentücher, alte Fahrscheine, ein Knopf, verschiedenes Kleingeld und ein geknicktes Paßbild. Kein ungewohnter Anblick für diejenigen, die sie kannten.
"Weißt du, Bärbel", sagte Christina, "ich bin gespannt, ob wir bald wieder auf so eine Tournee gehen."
"Jessas, zwei Monate in dieser Kiste gerollt, da redest du schon von der nächsten. Dein Reisefieber ist ja behandlungsreif."
"Ach was. Weißt du eigentlich noch, daß es ein Montag war, als ich vor vier Jahren beim Chor anfing? Ich hab's nicht vergessen, es war der zweite September", Christina lachte auf, "ein Montag. Es ist kaum zu glauben, aber ich bin noch hier."
Bärbel sah sie nur zweifelnd an und wühlte weiter.
Christina ließ nicht locker: "Kennst du etwa nicht das Sprichwort 'Am Montag anfangen wird nicht wochenalt'?"
Uninteressiert schüttelte Bärbel den Kopf.
"Nein? Bei uns in Norddeutschland glauben viele daran. Ich weiß jedenfalls, daß das alles Quatsch ist. Obwohl, am Anfang ... " Christina machte eine abfällige Handbewegung. "Der Herrgott, Bärbel, hat uns beide im gleichen Jahr anfangen lassen, und das heißt, daß wir auch zusammen aufhören. Darüber bin ich richtig froh."
"Ich auch. Hast du noch ein Kaugummi für mich?" Eigentlich eine dumme Frage, schämte sich Bärbel, schließlich hatte sie ihr bereits vier Stück abgelotst. Sie wußte aber, daß Christina sich nichts aus Kaugummi machte. "Ich find mein letztes Stück nicht. He, Hannelore, hast du mein Kaugummi geklaut?" rief sie nach vorne in den Bus.
30

"Jetzt reicht's!" erregte sich Dr. Groll. "Eure Verhaltensweise ist beschämend! Diese andauernde Kaugummikauerei. Man kommt sich ja vor wie in einer Kuhherde oder einem Viehwagen."
"Aber bitte nicht zum Schlachthof, Herr Doktor", rutschte es Paul heraus. Ausgerechnet dem sonst so schweigsamen Paul! Mit unterdrücktem Lachen verschwanden die Kinder in ihren Sitzen.
"Der Alte scheint nervlich völlig fertig zu sein", murmelte Bärbel. "Weißt du, daß Paul zuletzt noch einer von Alois' Freunden war?" fragte sie Christina, die ihr schnell ihre letzten drei Kaugummis zusteckte. "Der Alois, der hatte wirklich Schneid, das muß der Neid ihm lassen. Du hattest ja noch die Ehre 'Hansel und Gretel' mit ihm zu spielen."
Das reizende kleine Paar, wie uns das Publikum genannt hatte, dachte Christina. "Erinnerst du dich noch, wie hoffnungsvoll er jedem erzählt hatte, sein Vater hätte den Stimmbruch erst mit sechzehn bekommen? Alois war bestimmt sauer, als er im Frühjahr gehen mußte. Nur gut, daß es Toni eher erwischt hatte, und er mit ihm zusammen abgehen mußte, so unzertrennlich, wie die zwei waren."
'Toni war vierzehn, da ist das ganz normal. Aber Alois mit seinen fünfzehn Jahren war nicht gerade früh dran."
Christina nickte und lehnte sich zurück. Was hatten sie sich damals beim Abschied noch zugerufen:
"Alois, vergiß nicht, mit deinem Orchester auch mal nach Kiel zu kommen!" "Aber Sprotte, wer reist denn schon nach Kiel? -Rom, Paris, New York werden auf dem Programm stehen! Und was wirst du später machen?" "Ich weiß nicht; ich habe ja keinen reichen Onkel!" Christina lächelte. Jetzt wußte sie, was sie machen würde. Arbeiten würde sie, noch mehr als sonst. Sie wollte Sängerin werden und später auf große Tourneen gehen. Ob auch Alois sie dann mal wiedersehen würde? Oder Toni? ...
Neben ihr kramte Barbara immer noch weiter, jetzt in ihrer Schultasche, deren überquellender Inhalt sich nicht wesentlich von einem Mülleimer unterschied.
"Suchst du etwa immer noch?" fragte Christina. "Es wird Zeit, daß du heimkommst, du scheinst mir von allen hier am meisten mit den Nerven runter zu sein."
Beim Betreten des Schulgebäudes zogen einige der Chorkinder die Nasen kraus: "Puh, dieser Geruch! Bestimmt Erbsensuppe." Sie wurden von Direktor Günther, einigen Lehrkräften und daheimgebliebenen Kindern begrüßt. Die Begrüßung war herzlich, wenn auch ab und zu neidvolle Blicke die lebhaften Schilderungen begleiteten. Es mußte ja wirklich schön gewesen sein, denn selbst Dr. Groll plauderte gutgelaunt mit Direktor Günther und anderen Kollegen.
Barbara versuchte das Lachen und Geschnatter zu übertönen und rief Christina zu: "Alois wäre hier jetzt so richtig in seinem Element gewesen. Mir ist das alles zuviel. Komm, wir gehen nach oben."
Den Trubel hinter sich lassend, stiegen sie mit ihrem Reisegepäck die Treppen hinauf zum Schlafraum.
"Da sind wir wieder, zurück in der vertrauten Herberge. Seid gegrüßt, ihr holden Flohkisten. Zwei Monate weggewesen, und nichts hat sich verändert, wie langweilig."
Das stimmt! gab Christina Barbara im stillen recht, nichts hatte sich verändert. Da standen die weißen Eisenbetten, an der breiten Wandtafel hingen noch die gleichen Zeichnungen und die Metallspinde zeigten sich nach wie vor in fahlem Grau. Was hätte sich auch verändern sollen? Christina stellte ihren Koffer neben ihr Bett. "Aber Post hast du zur Abwechslung mal, wie ich sehe."
"Nur eine Karte, ein Willkommensgruß von zu Hause, dabei sehe ich sie ja morgen. Und
31

du? Du hast ja einen richtigen Berg."
"Stimmt!" Christina studierte die Absender. "Eine Karte von meiner Großmutter aus Berlin, die dort meine Tante und meinen Onkel besucht. Und ein Brief von meiner Freundin Inga, endlich! Ich hab dir doch von ihr erzählt, sie ist meine beste Freundin in Kiel. Mal schreibt sie pausenlos, dann läßt sie wieder ewig lange nichts von sich hören. Dieser hier ist von meiner Tante aus Kiel, und noch mal ein Brief aus Kiel, und der hier: Oh toll! Von Gerlinde!" Sofort riß sie den Umschlag auf, zog einen säuberlich beschriebenen Bogen heraus und begann zu lesen. "Meine Karte aus Luzern hat sie bekommen. Stell dir vor, Bärbel, sie ist nicht mehr im Heim. Eine ältere alleinstehende Frau, hier in München, hat sie zu sich genommen. Die Frau ist krank, und Gerlinde hilft ihr etwas im Haushalt."
"Das nenn ich ein billiges Putzmädchen", bemerkte Barbara.
"Was du bloß immer hast. Ihr gefällt es dort, das ist schließlich die Hauptsache. Und Liselotte ist auch nicht mehr im Heim, sie hat jetzt Pflegeeltern. Ich bin gespannt, ob Elsbeth auch mal welche bekommt."
"Wer will die schon haben."
Christina achtete nicht auf Barbaras Geschwätz und reagierte auch nicht auf die anderen Mädchen, die jetzt in den Schlafraum kamen. "Liselotte will bald schreiben. Von Gerlinde soll ich dir einen Gruß sagen, Bärbel."
"Wie reizend! Wenn die wüßte, daß du immer noch Schokolade im Spind für sie hütest. Die verrottet in dem Brutkasten ja total."
"Bärbel, ich wette, die hat inzwischen eine appetitanregende weiße Farbe angenommen!" lachte Marianne.
Christina störte es nicht, denn sie wußte, wie gern Bärbel ihr die Schokolade abgelotst hätte. "Dir werdet euch wundern, ich lege von der Tournee sogar noch etwas dazu, was sagt ihr nun?"
"Sprotte, du sollst zu Günther ins Büro kommen!" rief Brigitte, die gerade hereinkam.
Christina stutzte kurz und rannte dann sofort, wie von der Tarantel gestochen, davon. Im Büro angekommen, grüßte sie den Direktor mit respektvoller Zurückhaltung und wartete gespannt, was er ihr zu sagen hatte.
Dir. Günther sah von seiner Arbeit am Schreibtisch auf und musterte sie erstaunt.
Hat Brigitte mir etwa einen Streich gespielt? Ausgerechnet Brigitte? durchfuhr es Christina. Sie konnte nicht ahnen, daß ihre äußere Erscheinung den Direktor irritierte. Erst ein Jahr war vergangen, seit sie genau hier zusammen mit Alois vor ihm gestanden hatte. Damals war sie fast noch ein Kind gewesen. Und heute schon ein kleines Fräulein. "Vierzehn Jahre alt bist du jetzt", es klang wie eine Selbstbestätigung.
"Seit dem 25. Juli, Herr Direktor."
"Mit einer kleinen Feier, hoffe ich?"
"Ich wurde morgens mit einem Kuchen überrascht, auf dem ein Lebenslicht brannte. Dann fuhren wir von Winterthur weiter nach Zürich, wo wir abends wieder gesungen haben. Das war ein hübscher Tagesabschluß."
Direktor Günther mußte lächeln: "Erstaunlich, Christina, wie frisch und munter du noch aussiehst, gar nicht als hättest du eine lange Fahrt und fast täglich Konzerte hinter dir."
"Vielleicht, weil mir das Singen so viel Spaß macht."
"Dann sollst du auch gar keine große Pause machen. Wie wäre es mit einer neuen Weihnachtsaufführung am Gärtnerplatz?"
"Herr Direktor, das darf nicht wahr sein!" Christina konnte es kaum glauben.
"Doch, nur bitte ich dich, es dir ernsthaft zu überlegen, denn wenn du zusagst, mußt du Weihnachten wieder hier verbringen, ganz gegen den diesjährigen Plan."
"Das brauch ich mir nicht zu überlegen, vielleicht ist das meine letzte Chance, im Theater spielen zu dürfen. Weihnachten kann ich noch oft zu Hause feiern, ganz bestimmt."
32

"Wenn du dir da so sicher bist, na gut. Das Märchen ist übrigens 'Schneewittchen'."
"Vielleicht, etwa ich selbst als Schneewittchen?"
Direktor Günther nickte.
"Ich weiß gar nicht, was ich vor Freude sagen soll. Schlafen kann ich heute nacht bestimmt nicht." Christina strahlte über das ganze Gesicht.
"Das ist wohl ein bißchen viel nach so einer langen Fahrt, noch dazu auf leeren Magen. Aber ich werde einige Tage nicht hier sein und wollte vorher noch mit dir sprechen. Übermorgen möchtest du zum Theater kommen. Herr Göbel ist über alles informiert. So, und jetzt beeil dich, zum Essen zu kommen. Übrigens: ich erlaube dir von deiner neuen Aufgabe zu träumen, nicht aber, daß sie dich wachhält."
Nachdem Christina das Büro verlassen hatte, flog sie förmlich zum Schlafraum zurück und schloß rasch hinter sich die Tür.
"Sprotte, was war?"
"Ich weiß nicht, ob ich lachen, singen oder tanzen soll!" Sie hüpfte durch die Bettenreihen hindurch und warf sich, alle viere von sich gestreckt, auf ihr Bett. "Ich bin tot! Vom Apfel vergiftet!"
"Quatsch ned, sag was ist!"
"Ich bin vom Prinzen erlöst." Christina setzte sich auf und schwang ihre Arme in die Höhe. "Ich bin Schneewittchen, ich kann's gar nicht glauben: Schneewittchen in der Weihnachtsaufführung!"
"Siehst du, zwar keine Tournee, aber doch sofort wieder Nachschub", stellte Barbara fest.
"Sprotte, du schwimmst noch einem sicheren Ziel entgegen!" prophezeite Brigitte ihr. "Ob noch mehr gebraucht werden?" wollte Gabi wissen.
"Meinst du für die Zwerge? Da nehmen sie bestimmt die Buben", meinte Marianne. "Daß sie dir das aber auch gleich nach der Ankunft auf die Nase binden ... "
"Marianne, du Knallkopf, warum wohl?" unterbrach Hannelore sie gereizt. "Versuch doch selber mal, dich durch die richtigen Kanäle zu schlängeln. Vielleicht mußt du nur ganz besonders nett zu der Lingner oder zum Günther sein, und dann wird's dir ebenso von allen Seiten reingeschoben. Hier Sprotte ", sie warf Christina die unausgepackte Tasche aufs Bett, "wir sind fertig und wollen essen."
"Wollen oder sollen?" fragte Gabi.
"Als machte das einen Unterschied. Oder hast du keinen Hunger?"
"Auf Erbsensuppe? Ich kann es kaum erwarten. Allerdings muß ich vorher noch in meine Tasche schauen, denn sollte sie schon ausgepackt sein, haben wir hier wohl unsichtbare Heinzelmännchen. So ein Pech, die sind wohl nur zur Hannelore gewuselt." Die anderen fanden Gefallen an ihrem ironischen Spiel, und zu Hannelore gewandt, sagte sie: "Laß dir's gesagt sein, ein bißchen Glück hat noch lange nichts mit Schmieren zu tun!"
Hannelore lachte jedoch nur auf, denn in dem Moment sah Fräulein Bittrig zur Tür herein: "Warum seid ihr noch hier? Habt ihr keinen Hunger?"
"Und was für einen!" riefen die Mädchen, und im Hinauslaufen flüsterte Barbara Hannelore noch zu: "Für dich müßte ein Spezialkaugummi erfunden werden, das dir die Zunge am Gaumen festklebt."
...Ihr werdet es nicht glauben, aber wieder wird ein Märchen für mich zur Wirklichkeit, diesmal 'Schneewittchen'. Dieses Jahr ist ein Glücksjahr!...
Christina hatte den Eltern umgehend von ihrer neuen Aufgabe geschrieben, jedoch ohne extra ihre geplante Heimfahrt zum Weihnachtsfest zu erwähnen. Es verstand sich in diesem Fall schließlich von selbst, daß sie nicht kommen konnte.
33

Für die Eltern war es aber nicht so selbstverständlich, denn sie waren des ewigen Wartens auf ihre Tochter überdrüssig geworden. Also hatten Frau und Herr Hoppe beschlossen, trotz der nun doppelten Reisekosten und ihrer labilen Gesundheit zum diesjährigen Weihnachtsfest nach München zu fahren. Christina hatte immer und immer wieder diesen von den Eltern im Brief freudig mitgeteilten Entschluß gelesen, bis ihr die Zeilen vor den tränenverschleierten Augen verschwammen. Es durfte nicht wahr sein! Wie konnte sie ihre Eltern davon abhalten? Dir war, als wären ihre Gedanken plötzlich blockiert.
"Christina, ist bei dir zu Hause jemand krank?" Monika war eben die Treppe heruntergekommen und sah Christina hier auf der Fensterbank neben Traugards Büro sitzen. Ohne aufzublicken schüttelte diese den Kopf. "Es ist doch hoffentlich niemand gestorben? Nein? Was ist denn los?" Fragend schaute Monika sie an; seit ihrem Eintritt in die Schule vor zwei Jahren, kannte sie Christina nur als allgemein beneideten Glückspilz.
Die Tür neben ihnen öffnete sich, und Traugard schaute auf den Gang hinaus. Christina sprang erschrocken von der Fensterbank, denn sie hatte ihn zu dieser Abendstunde nicht mehr in seinem Büro erwartet. "Du weinst, Christina, ist etwas passiert?"
Mit dem Handrücken rieb sie sich die Tränen aus dem Gesicht: "Nein, es ist nichts."
"Hattest du im Theater irgendwelche Probleme bei den Proben?" fragte Herr Traugard besorgt.
"Oh nein, im Gegenteil, Herr Traugard", Christinas Gesicht heiterte sich auf, "ich kann den Tag kaum erwarten, bis der Vorhang für 'Schneewittchen' das erste Mal aufgeht."
Dann sind das wohl Tränen über Bagatellen, wie sie in der Pubertät öfters mal vorkommen, dachte Herr Traugard erleichtert. "Ja, Christina, das ist ein aufregender Moment, der mitunter schneller kommt, als einem lieb ist. Aber ", lächelte er ihr aufmunternd zu, "bis jetzt hast du es ja immer noch geschafft."
Auf der Bühne schaffe ich es bestimmt, die Arbeit mit den Zwergen ist mir bereits richtig vertraut. Wie soll ich mich aber meinen Eltern gegenüber verhalten? Christina saß, genauso wie damals nach Kurts Besuch, auf der Fensterbank im Schlafraum und preßte ihre Stirn fest gegen die angezogenen Knie. Sie konnte unmöglich schlafen. Vier Jahre hatte sie mit der Erinnerung an jenen Besuch gelebt. 'Bitte, schreib nichts den Eltern', erinnerte sie sich an Kurts Worte. Er hatte sie angefleht und das Versprechen aus ihr herausgequetscht. Damals wollte sie nach Hause, zu Mutti und Vati. Wie vertraut das früher geklungen hatte. Aber jetzt ist mein Zuhause hier. Meine ganze Liebe gehört der Musik, der Schauspielerei, dem 'Schneewittchen'. Oh Gott, bitte gib es zu: ich bin das Schneewittchen selbst, ich spiel es nicht nur. Ich bin verwandelt - in diese Hoppe... ?
34

SONNABEND, 14.10.1950
Christina nahm die Sorge des Schulpersonals, das von Tag zu Tag deutlicher ihren Zwiespalt zwischen Wirklichkeit und Phantasie beobachtete, nicht wahr. Sie wußte lediglich, daß für ihre Partie eine Soubrette eingesetzt worden war, da sie selbst für einige Wochen zur Erholung nach Hause sollte.
Wovon sollte sie sich erholen? Sie fühlte sich kräftig und voller Energie. Es war also nur ein Vorwand, um sie, Schneewittchen, von den Zwergen zu trennen. Steckte vielleicht ihre werte Stiefmutter dahinter, um sie nochmals in ihre Gewalt zu bekommen? Nein, nie wieder! In München, im Theater war sie zu Hause. War das so schwer zu verstehen? Warum sprach man bereits von ärztlicher Hilfe, schließlich war sie nicht krank. Vielleicht würde es ihr noch gelingen, während dieses Wochenendes die Lehrer zur Einsicht zu bringen.
Genau das gleiche aber erhoffte man sich von Christina, denn die Chorkinder aus München und der Umgebung waren bis Sonntag alle nach Hause gefahren: das Heim war wie ausgestorben. Nur Wetzel und Hollinger waren für die wenigen Zurückgebliebenen vom Lehrpersonal als Aufsicht noch übrig.
Der Sonnabend wäre ruhig verlaufen, wenn sich Christina ihres mehr als sonderbaren Verhaltens bewußt gewesen wäre. Sie hielt die Lehrer in unbehaglicher Spannung und belustigte die Kinder ungewollt.
"Hört auf zu spinnen und laßt mich ...!" rief Christina mißmutig, denn die anderen hatten sich am Morgen über ihre nächtlichen Phantasien beklagt. Christina wußte nur, daß sie eine besonders unruhige Nacht gehabt hatte, da ihr Bettlaken völlig zerwühlt gewesen war.
Sie preßte die Hände fest gegen den Kopf, der ihr heute noch stärker als am Vortag schmerzte. Deshalb blieb sie auch im Bett, während die anderen Kinder sich anzogen. Ihr Verlangen nach Schlaf und Ruhe fand bei Herrn Wetzel vollstes Verständnis.
An der Mittagsmahlzeit nahm sie aber schließlich doch teil, obwohl sie eigentlich überhaupt keinen Hunger hatte. Zweifelnd musterte Christina die Tischrunde: Marianne, Monika und Gabi.
"Wir saßen gestern abend schon zusammen", sagte Marianne zu ihr und verständigte sich mit Monika und Gabi durch fragende Blicke. Wie mag wohl diese Mahlzeit verlaufen? Sich der Ermahnungen der Lehrer erinnernd, grinsten sie sich nur verstohlen an.
"Neueste Tischmanier, Ellenbogenparade!"
"Pst, Marianne!" flüsterte Gabi warnend.
Christina achtete nicht auf sie, stützte weiterhin ihren Kopf auf und rührte appetitlos in der Suppe: Karotten, Erbsen, Kartoffeln, Fleisch und allerlei Unidentifizierbares. Das sollte jetzt in ihren Magen? Nein! Christina leckte den Löffel ab und prüfte seine Sauberkeit und seinen Glanz. Und genau wie am Abend zuvor wiederholte sich der Vorfall: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste in diesem Land?"
"Nicht schon wieder", entfuhr es Wetzel, "Christina!"
"Sie meinen Schneewittchen?"
"Nein, ich meine dich!"
Christina lächelte: "Nicht ich, meine Mutter ist so übergeschnappt; sie hat einen ausgeprägten Schönheitsfimmel."
"Ruhe!" rief Wetzel, und das Lachen der Kinder verebbte zu einem Kichern und Tuscheln.
"Glauben Sie mir, Herr Wetzel, die Schönste im ganzen Land will sie sein, und mich", ungestüm stürzte Christina auf den Lehrertisch zu, "mich will sie töten, vergiften. So ist
35

meine Stiefmutter, und Sie kennen sie nicht einmal!"
"Nein, und zum Glück ist sie auch nicht hier, und du kannst jetzt getrost weiteressen."
Willig setzte Christina sich auf ihren Platz zurück, den Suppenteller aber schob sie von sich.
"Iß wenigstens deinen Nachtisch", drängte Gabi.
"Den Apfel, hm? Das könnte dir so passen." Sie hielt die Frucht hoch. "Seht her, diesen Apfel soll ich essen, vergiftet von meiner werten Stiefmutter!"
"Unsinn!" schalt Hollinger.
"Ah ja, das kann sein, dieser hier ist von Fräulein Bittrig vergiftet, da rettet mich kein Prinz mehr."
Gemeinsam mußten die Lehrer im Speisesaal für Ruhe sorgen.
"Jetzt auch das noch. Christina, hör auf zu flennen, du bist nicht im Theater", versuchte Gabi sie zu trösten. Für sie war Christinas Zustand längst eher beängstigend als belustigend. Christina aber weinte nur noch mehr, und nach der Mittagsmahlzeit sorgte Gabi auf Wetzeis Anweisung pflichtbewußt dafür, daß sie im Schlafraum ihre Ruhe hatte. Außerdem sollte sie sie nicht aus den Augen lassen.
Christina konnte nicht schlafen. Zeitweise wälzte sie sich hin und her, dann lag sie wieder völlig apathisch, bis sie plötzlich vom Bett aufsprang und aus dem Schlafraum lief.
"Wo willst du denn hin?" hielten Paul und Monika, die sich gerade ihre Mäntel für Wetzeis angekündigten Spaziergang holen wollten, sie auf.
"Etüden üben. Und dabei möchte ich nicht gestört werden. Am besten ist es, ihr befaßt euch mit euren Bibelsprüchen, sonst bekommt ihr eines Tages vorm Himmelstor einen Fahrschein in die entgegengesetzte Richtung in die Hand gedrückt." Nach dieser Lektion wandte sich Christina stracks von ihnen ab, ging hinüber zu Traugards Büro und schloß hinter sich die Tür. Sie ahnte nicht, daß Gabi sich mit ihren Schulaufgaben in das gegenüberliegende Klassenzimmer begab, um sie unauffällig durch die offene Tür zu beobachten.
Vergnügt und mit frischen roten Wangen, kehrten die Kinder mit ihren Lehrern vom Spaziergang zurück. Lebhaft plaudernd zerstreute sich die kleine Gruppe. Als die beiden Lehrer die Stufen hinaufstiegen und sich der ersten Etage näherten, hörten sie Christinas Stimme mit Klavierbegleitung.
"Als wir gingen, lag sie doch noch im Bett", bemerkte Wetzel, doch Hollinger wußte von Monika, daß Christina bereits im Übungszimmer war, als sie sich zum Spaziergang aufgemacht hatten. Wetzel sah auf seine Taschenuhr: "Immerhin schon kurz nach vier."
Während sie die erste Etage erreichten, verstummten plötzlich Gesang und Spiel, und Christina kam aus Traugards Büro gestürzt. Ihre Haltung und ihr Gesichtsausdruck verrieten Angst, und hastig fragte sie: "Sind sie da?"
"Ja", antwortete Hollinger mit scheinbarer Ruhe.
"Wirklich?"
"Wie du selbst siehst, sind wir wirklich da."
Christina schaute flüchtig links und rechts den Korridor entlang, und sagte dann erleichtert: "Gott sei Dank! Sie sind noch nicht zurück." Entschuldigend fügte sie hinzu: "Leider klappt es heute mit dem Üben nicht so."
"In diesem Fall ist es wohl besser, wenn du dich hinlegst. Morgen geht es dann bestimmt um so besser", meinte Wetzel.
Daraufhin huschte Christina ohne weitere Worte sofort an den Lehrern vorbei nach oben.
"Ich bin der Meinung, wir sollten nicht länger warten und Dr. Hofstadt anrufen. Ihr Blick gefällt mir nicht und auch ihre Reaktionen sind beunruhigend", seufzte Wetzel.
"Gefährlich sieht es aus, aber trotzdem warten wir lieber noch, bis Direktor Günther und
36

Fräulein Bittrig zurück sind. Allerdings muß sie unbedingt unter Aufsicht bleiben, denn Menschen in dem Zustand können auch mal aus dem Fenster springen." HoUinger bemerkte den entsetzten Blick seines Kollegen. "Keine Sorge, Gabriele ist kräftig. Ich möchte nur wissen, warum sie sie alleine gelassen hat."
In diesem Moment kam Gabi aus dem Schreibzimmer und erklärte den Lehrern, daß sie Christina von dort aus beobachtet hätte. "Ich geh auch gleich wieder nach oben!" versicherte sie.
Christina saß mit angezogenen Beinen auf ihrem Bett und Gabi setzte sich neben sie auf die Kante. "Ich hab dir schon oft gesagt, dein Lernen ist krankhaft, hoffentlich glaubst du es mir jetzt. Ein Glück, daß du nun endlich mal nach Hause fährst."
"Wann denn? Als Schneewittchen? Und krank bin ich nicht. Das ist alles dummes Zeug!"
"Und wie krank du bist. Außerdem weißt du genau, daß du ..."Ach wozu, dachte Gabi seufzend, offenbar kapiert sie schon gar nichts mehr. "Jedenfalls hat Günther recht, es wird höchste Zeit, daß du deine Eltern wiedersiehst."
"Eltern! Schneewittchens Stiefeltern. Sie sind mir fremd geworden, ich kenne sie nicht mehr."
"Also Christina, erstens hat Schneewittchen nur eine Stiefmutter, und zweitens werden Eltern einem nicht fremd."
"Doch!" Tränen traten in Christinas Augen, sie ließ sich in ihr Kopfkissen zurückfallen und begann zu schluchzen. Gabi saß ratlos daneben. Sie konnte nicht verstehen, daß ihre gutgemeinten Trostreden immer nur zu Tränen führten. "Bitte Gabi, geh und lies die Bibel, das ist immer gut."
War das ein Scherz oder wieder ihr Fimmel? Gabi zuckte mit den Schultern; was immer es sein mochte, ihr war klar, daß Christina allein sein wollte, daß sie sie aber nicht allein lassen durfte. Diese Aufgabe war ihr inzwischen schon ein bißchen unheimlich geworden. Hatte nicht HoUinger gesagt, sie könnte aus dem Fenster springen? Sie schauderte bei der Vorstellung, und mit einem kleinen Umweg am Fenster vorbei, skeptisch die Tiefe hinunter zum freien Platz prüfend, holte sie aus dem Spind ihr Buch 'David Copperfield' und legte sich damit auf ihr Bett. Sie versuchte zu lesen, doch immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, und sie fragte sich, wie Christina, die jetzt so ruhig da lag, als schliefe sie, in solch einen Zustand geraten konnte.
Nach einer Weile machte sich aber, begünstigt durch die Stille, Gabis gestörter Schlaf der vergangenen Nacht doch bemerkbar, und ihr fielen die Augen zu. Sie schlief so fest, daß sie nicht mal erwachte, als nach einiger Zeit das Licht angeschaltet wurde.
Christina saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, in der Hand einen Brief an die Eltern. Als sie langsam ihren Blick hob, riß sie plötzlich erschreckt die Augen auf. "Oh, dieses schwarze Elend!" stieß sie beim Anblick von Fräulein Bittrig aus, die vor Verblüffung direkt ihre in die Taille gestemmten Hände sinken ließ.
"Wer?" fragte die Hauslehrerin schockiert, die gerade zusammen mit Hannelore und Barbara aus dem Wochenende zurückgekehrt war.
Christina reagierte nicht auf die Frage. Die Mädchen fanden den Vorfall zwar recht komisch, obwohl Barbara für Christina Konsequenzen befürchtete. Der Bittrig aber schien es erst mal jedenfalls an Worten zu fehlen, und abrupt wandte sie sich zum Gehen. Die Tür fiel so laut hinter ihr ins Schloß, daß Gabi aus ihrem Schlaf aufschreckte. "Jessas das Fenster, Christina!" Aber erleichtert sah sie sie apathisch auf ihrem Bett sitzen.
"Bist du krank, Gabi?" fragte Barbara. Gabi schüttelte den Kopf und wies auf Christina: "Total verrückt geworden. Ich halte Wache."
"Das sieht man, du verschlafener Wächter. Davon aber abgesehen, mir kam sie in letzter
37

Zeit auch ein bißchen seltsam vor."
Vom Korridor hörte man Stimmen, die Tür wurde geöffnet, und Direktor Günther und Herr Wetzel kamen herein, während Fräulein Bittrig im Türrahmen stehenblieb. Geschwind sprang Gabi vom Bett und verließ mit Hannelore und Barbara den Schlafraum.
Erst als Günther direkt vor ihr stand, hob Christina den Kopf. Ihr Blick war wirr, ihre Augen glänzten fiebrig und ihr Gesicht wirkte schmaler - hatte seine Cousine das in aller Rage übersehen? Er sprach ruhig auf Christina ein, doch es kam keine Reaktion. Ein erneuter Versuch blieb ebenfalls ergebnislos. Christina steckte lediglich den vor ihr liegenden Brief hastig in ihre Rocktasche, dabei preßte sie die andere Hand gegen den Kopf.
"Ich fürchte, sie ist krank, schwer krank. Weiß der Teufel, wie das passieren konnte", flüsterte Direktor Günther Herrn Wetzel beim Hinausgehen zu. "Ich werde sofort Dr. Hofstadt anrufen. Bitte bleib du bei ihr", wandte er sich seiner Cousine zu, "damit sie nicht noch Dummheiten anstellt."
Es dauerte eine ganze Zeit, bis der Arzt kam und schließlich Christina mit Direktor Günther unter den Augen der Kinder die Treppen hinunter zu seinem Wagen führte, um anschließend mit ihnen gemeinsam wegzufahren.
Gabi, die vor dem Schlafengehen aus dem Fenster hinunter auf den leeren, nur matt von der Straßenlampe angestrahlten Parkplatz schaute, wiederholte in Gedanken Fräulein Bittrigs Worte: 'Wahrscheinlich Nervenfieber!'.
"Komm ins Bett, Gabi", drängte Hannelore, "warum hätte auch ausgerechnet Sprotte Karriere machen sollen."
Verständnislos schüttelte Gabi den Kopf. "Was für ein Abschied."
38

MITTWOCH, 18.10.1950
Unter hohen Buchen, inmitten weiter, von farbkräftigem Laub bedeckter Rasenflächen, lag, von der Herbstsonne beschienen, das Spital von Dr. Hofstadt, versteckt hinter einer von dichtem Efeu bewachsenen hohen Mauer, die das Haus vom Straßenlärm wohltuend abschirmte. Trotz der späten Jahreszeit saßen noch einige Patienten in der Nachmittagssonne auf den grünen Bänken, die entlang der Spazierwege standen. Von den Fenstern des Hauses leuchteten bunte Gardinen und grüne, vom Herbst schon ein wenig verwaiste Blumenkästen. Vor der Haupttür plätscherte ein Springbrunnen. Es war Besuchszeit und es herrschte ein reges Kommen und Gehen.
Frau Lingner und Direktor Günther traten durch die Haupttür ins Freie. "Hoffentlich haben wir keinen Fehler gemacht", meinte die Ballettmeisterin besorgt.
"Weil wir ihre Eltern benachrichtigt haben? Das war unumgänglich."
Frau Lingner nickte nachdenklich, während sie die frische Luft tief einatmete und ihren Mantel zuknöpfte.
"Wenn ich mir nur ein besseres Bild machen könnte, wie sich eine solche Krise entwickeln konnte", fuhr Günther fort. "Gewiß, Ehrgeiz, Eigenbrötlerei, vielleicht Überanstrengung, möglicherweise Heimweh; aber sie wußte doch, daß sie jetzt nach Hause fahren sollte. Naja, und dann die Parteinahme meiner Cousine, ich kenne sie und habe schon manchen Ärger ihretwegen gehabt."
"Ich vermute immer stärker, daß ein uns unbekanntes seelisches Motiv vorliegt, und ich wäre so froh, wenn wir dem Kind richtig helfen könnten."
"Herr Traugard und Sie selbst, Frau Lingner, haben sich doch immer sehr um sie gekümmert, und auch unter den Kindern hatte sie jetzt Freunde. Ich weiß wirklich nicht, wo da die Ursache für ihr Verhalten sein könnte."
"Vielleicht hängt es gar nicht mit dem Chor zusammen, sondern geht in die Zeit zurück, als sie noch gar nicht bei uns war."
Direktor Günther schüttelte nachdenklich den Kopf: "Ist das nicht ein bißchen weit zurückgegriffen? Was immer es auch sei, wir tragen die Verantwortung, und ich kann mich eines gewissen Schuldgefühls nicht erwehren."
Sie gingen beide ein Stück den Hauptweg entlang, trockenes Laub raschelte unter ihren Füßen. Für Frau Lingner waren diese wenigen Schritte im Freien sehr entspannend, denn im Theater war sie mit den Weihnachtsproben, die von ihr durch die Schwangerschaft erhöhte Energien forderten, voll beschäftigt. Deshalb nahm Direktor Günther auch nur ungern ihre Zeit in Anspruch, aber ganz auf ihre Hilfe verzichten mochte er auch nicht. Während sie nun schweigend nebeneinander liefen, kam ihnen eine Rot-Kreuz-Schwester mit einem Mädchen, das kaum älter als Christina war, entgegen. Mit seinem auffallend blassen, ernsten Gesicht und den stramm zu einem Mozartzopf geflochtenen rotblonden Haaren, erregte es für einen flüchtigen Moment lang Frau Lingners Aufmerksamkeit. Doch dann wandte sie sich wieder Direktor Günther zu. "Wissen Sie, es ist eigenartig, aber Christina war für mich mehr als nur eine kleine Schülerin. Ich arbeite zwar nicht mehr beim Chor, aber es gab doch immer mal ein Wiedersehen mit ihr im Theater. Heute habe ich das Gefühl, es könnte bald einen Abschied für immer geben, und der würde mir sehr schwerfallen." Mit traurigem Blick sah sie zu den Fenstern der ersten Etage hinauf. "Was auch kommen mag, wir sollten jetzt nach oben gehen, denn immerhin bringen wir Christina freudige Nachrichten."
Direktor Günther hatte bereits vermutet, daß Frau Lingner ein mütterliches Gefühl für das Mädchen empfand. Bald würde sie wieder ein eigenes Kind im Arm halten, dem sie ihre
39

ganze Liebe geben konnte.
"Gut siehst du heute aus, Christina, viel besser als vorgestern", lachte Frau Lingner aufmunternd bei der Begrüßung, auch wenn die Wirklichkeit eine ganz andere war. Nein, sie sah nicht besser aus, ihr Gesicht war schmal und auffallend blaß. Dennoch übertraf Christinas Anblick ihre Erwartungen, denn sie lächelte, erkannte sie und sprach mit ihnen.
Gern wäre sie jetzt mit der Ballettmeisterin allein gewesen, und selbst die Tafel Schokolade vom Direktor schien sie nur scheinbar aufzumuntern. Erst Frau Lingners Gesprächigkeit bewirkte einen Stimmungswechsel. Plötzlich hatte sie sogar den Mut gewonnen, ihre wichtigste Frage anzubringen. Sie wollte unbedingt wissen, ob sie nach der Entlassung aus dem Spital die Schneewittchenrolle noch spielen durfte.
"Oh Kind, denk doch erst mal an das, was dich freut, damit du bald wieder gesund wirst", sagte Frau Lingner.
"Aber das Spielen ist meine größte Freude", versicherte Christina ihnen, indem sie sich ein Stückchen hochsetzte. Ihre Bewegungen zeigten, wie schwach sie noch war. Frau Lingner schob ihr das Kopfkissen hinter den Rücken.
"Ich möchte annehmen, Christina, daß auf dich noch viele Rollen warten", versuchte Direktor Günther sie zu trösten, "aber auf diese eine, es nützt alles nichts, mußt du leider verzichten, deine Gesundheit geht vor."
Christina widersprach dem Direktor nicht, aber sie war traurig und enttäuscht. Frau Lingner setzte sich zu ihr auf die Bettkante: "Kind, Herr Günther hat recht. Deine Gesundheit geht vor, sie ist bei einem Schauspieler, Sänger oder Tänzer sehr wichtig. Wir haben früher doch schon einmal darüber gesprochen. Außerdem", ihre Stimme klang jetzt sehr geheimnisvoll, "stell dir vor, während des kommenden Jahres, das du ja eigentlich noch beim Chor hättest verbringen sollen, bekommst du nun privat eine weitere Ausbildung in Berlin bei einem Bekannten von Herrn Günther. Und zwar an der dortigen Musikhochschule. Während dieser Zeit kannst du dann bei deinen Verwandten wohnen."
"Sie meinen, ich soll als Sängerin ausgebildet werden? Mein Gott, Frau Lingner, Herr Direktor... " Vor lauter Freude wäre Christina am liebsten sofort aufgestanden.
"Aber erst, wenn du richtig gesund bist. Frau Görlitz kann dir während dieser Zeit Ballettunterricht geben; du hast mir mal erzählt, daß du sie sehr gern magst."
"Das stimmt. Ach, alles klingt wie in einem Taum. Ich bin so glücklich!"
Direktor Günther war froh, daß Christina wie erhofft positiv auf diese Nachricht reagierte. "Und was dich vielleicht noch mehr freut; wir haben bereits mit deinen Eltern alles besprochen."
"Sind sie einverstanden?" fragte sie vorsichtig.
"Ja, einerseits freuen sie sich darüber genauso wie du, andererseits bedauern sie natürlich, daß du diese Ausbildung nicht in Kiel erhalten kannst; sie hätten dich so gern wieder zu Hause gehabt."
"Haben sie das geschrieben?"
Mit scherzhaftem Gesichtsausdruck tippte Frau Lingner an Christinas Nasenspitze: "Jetzt rate mal, wo wir herkommen."
"Nicht aus Kiel?" fragte sie mit gemischten Gefühlen. Aus ihrem Gesicht schien schlagartig alle Freude gewichen.
"Ganz so weit sind wir nicht gefahren", lachte der Direktor, und überließ alles weitere Frau Lingner. "Nein, wir kommen gerade vom Bahnhof, und ... "
Christina erschrak: die Fahrt zum Bahnhof konnte nur einen Grund haben; und schon kam die Bestätigung: "Deine Eltern sprechen gerade mit Doktor Hofstadt, sie werden gleich zu dir kommen."
"Um mich abzuholen?"
"Nein, nein, nicht in deinem Zustand", versuchte Günther sie zu beruhigen. In diesem
40

Moment betrat der Arzt zusammen mit Hoppes das Zimmer. Beim Anblick der Eltern schrie Christina gellend los.
Wie vor den Kopf geschlagen stand das Ehepaar in der Tür; Frau Lingner und Direktor Günther waren ebenfalls zutiefst erschrocken. Ein von Dr. Hofstadt herbeigeholtes und sofort injiziertes Mittel beruhigte Christina langsam, bis sie völlig erschöpft nur noch leise weinte. Erst jetzt trat Herr Hoppe ans Fußende des Bettes. War das seine kleine, lustige Stina, wie sie vor vier Jahren nach München gereist war? Nicht zu fassen!
Frau Hoppe hatte die gleichen Gedanken, als sie ihre Tochter liebevoll in die Arme nahm: "Unser Christinchen?"
Christina weinte immer noch, doch konnte sie ihren Blick nicht vom Gesicht der Mutter abwenden. Sie bemerkte, daß auch ihr Tränen in den Augen standen, und wie sorgenvoll sie aussah.
"Christinchen, wie hast du dich verändert, du bist kaum wiederzuerkennen", stellte Frau Hoppe mit zitternder Stimme fest. "Als du damals abfuhrst, warst du ein richtiges Kind, mit roten Backen und langen Zöpfen, und jetzt siehst du fast erwachsen aus." Und so elend, fügte sie im stillen hinzu.
Allmählich beruhigte sich Christina. Sie sah zum Vater hinüber; auch er war älter geworden. Zu ihm war das Verhältnis zwar nie so zärtlich gewesen, wie zur Mutter, aber dennoch durchaus liebevoll. "Es tut mir leid, daß ich euch nur Ärger mache, aber wenn ich aus Berlin zurückkomme, werde ich Geld verdienen", brachte sie mühevoll heraus.
Für die Eltern kamen diese Worte völlig unerwartet. "Christina, fürs Geldverdienen bist du noch viel zu jung. Denk zunächst mal daran, daß du wieder gesund wirst, und dann an deine Schule."
"Und Ärger? Du hast uns noch nie Ärger gemacht", fügte Frau Hoppe hinzu. "Ganz im Gegenteil, wenn ich daran denke, was du hier geleistet hast... "
"Ich darf aber nach Berlin?"
Frau Hoppe nickte mit einem Seufzer. "Wenn du unbedingt willst."
"Unbedingt, ihr habt schon zugesagt." Christinas Stimme war nur noch schwach, starke Müdigkeit hatte sie überwältigt.
"Wir warten draußen", flüsterte Direktor Günther Herrn Hoppe zu. Leise verließ er mit Frau Lingner das Krankenzimmer. "Es war tatsächlich des Guten zu viel", meinte er, als sie draußen waren.
"Des Guten?" Frau Lingner war von dem Erlebnis ziemlich mitgenommen und lief unruhig auf dem Flur hin und her. "Nein, ein so ungewünschtes Wiedersehen hat seinen Grund."
"Und welchen?" Ratlos schüttelte der Direktor den Kopf. "Es bleibt so unklar wie zuvor. Die Schneewittchen-Phantasie hat uns alle vielleicht in die Irre geführt. Von der scheint sie ja nun geheilt, denn sie hat auf ihren Namen reagiert. Aber was halten Sie von der Idee mit dem Geldverdienen?"
"Offenbar müssen die Eltern sehr rechnen. Christina sprach schon früher einmal mit einer ungewöhnlichen Reife über die finanziellen Verhältnisse zu Hause."
"Aber der Vater hat doch einen guten Posten", wunderte sich Direktor Günther. "Ich wünschte, Sherlock Holmes' Fähigkeiten zu besitzen, Frau Lingner. Wahrscheinlich war für Christina heute alles zusammen einfach zu viel, auch wenn Sie mit mir darin nicht übereinstimmen werden."
Nein, das tat sie nicht, aber ihr war klar, daß weiteres Herumrätseln zu keinem Ergebnis führen würde. Jetzt konnte man nur hoffen, daß die Absicht der Eltern, Christina zur Weiterbehandlung nach Kiel zu holen, nicht eine weitere Enttäuschung bringen würde. Bei ihrem Zustand würden Hoppes jedenfalls fürs erste auf ihre Tochter verzichten müssen.
Dr. Hofstadt trat auf den Gang hinaus. Nach wie vor schätzte er den Fall als sehr kom-
41

pliziert ein, und um weiterzukommen, erbat er sich einen Einblick in Christinas Post, die sie im vergangenen halben Jahr erhalten hatte. Direktor Günther schöpfte neue Hoffnung: denn vielleicht brachten die Briefe tatsächlich Aufschluß über die Ursache. Frau Lingner aber blieb skeptisch, denn Christina hatte eigentlich keinen Grund gehabt, etwas zu verschweigen. Die Nachricht vom Tod ihres Bruders hatte sie ihr ja auch mitgeteilt. Hätte etwas so Tiefgreifendes die Familie betroffen, wären außerdem die Eltern bestimmt selbst informiert gewesen.
In diese Gedanken vertieft, war Frau Lingner den weiteren Worten des Arztes nicht genau gefolgt. Er hatte berichtet, daß die Eltern in wenigen Tagen allein nach Kiel zurückfahren wollten und sie Christina bis Weihnachten reisefähig hofften. Erst als der Arzt bedauernd hinzufügte, daß Christina zur weiteren Behandlung in eine Nervenklinik eingewiesen werden müsse, horchte Frau Lingner auf. Sie hatte eine Antipathie gegen Nervenkliniken.
Hoppes hatten nicht umsonst gehofft. Christinas Gesundheitszustand hatte sich soweit gebessert, daß der Neurologe sich entschloß, sie zu Weihnachten vorzeitig aus der Klinik zu entlassen. Ihre Freude und Hoffnung auf den angebotenen Unterricht in Berlin hatten sicherlich sehr dazu beigetragen.
Der Termin ihrer Heimreise war sehr günstig, denn Herr Wetzel konnte sie nach Kiel begleiten, da er sowieso zu seiner Verlobten nach Glücksburg fuhr. Christina wäre lieber mit Frau Lingner gefahren, doch von ihr mußte sie jetzt hier auf dem Bahnsteig Abschied nehmen. Sie klammerte sich die letzten Minuten fest an den Arm der Lehrerin. Gepäckwagen fuhren an ihnen vorüber, Zeitungsjungen riefen ihre Angebote aus, Reisende eilten zu den Zügen, Lautsprecherdurchsagen ertönten, und ab und zu quietschten Bremsen. All diese lärmende Geschäftigkeit erschreckte Christina und ließ sie sich nach ihrem ruhigen Zimmer in der Klinik zurücksehnen. Doch sie riß sich zusammen, denn Frau Martin hatte recht; sie sollte sich auf Weihnachten freuen, auf die Überraschungen zum Heiligabend. Nur, einen Heiligabend mit Kurt? Ihre Gedanken wurden jäh durch den herrischen Ausruf des Schaffners unterbrochen: "Alles einsteigen!"
Ein letztes Umarmen, und bevor Christina sich versah, war sie auch schon im Zug. Eilig lief sie im nächsten leeren Abteil ans Fenster, das sie vergeblich zu öffnen versuchte. Frau Lingner rief ihr noch zu: "Vergiß nicht zu schreiben!", und dann fuhr der Zug auch schon an. Der Abschied fiel beiden sehr schwer, und als sie sich nicht mehr sehen konnten, sank Christina erschöpft auf den Platz. Ihr Blick traf das Päckchen in ihren Händen; mit den Worten 'etwas zur Beschäftigung auf deiner langen Reise', hatte Frau Lingner es ihr vor der Abfahrt geschenkt. Dem Weinen nahe, preßte sie es an sich.
Herr Wetzel hatte mittlerweile seine Jacke und seinen Schal ausgezogen, und forderte Christina auf, es ihm gleich zu tun. Verlegen wischte sie die Abschiedstränen fort, und nickte. Dann machte sie es sich auf ihrem Platz bequem. Kiel war noch sehr weit weg, und sie dachte mit gemischten Gefühlen an ihre Heimatstadt. Nach all den Jahren in München war ihr, als reise sie in die Fremde.
42

SONNTAG, 24.12.1950
Die Eltern hatten Christina vom Bahnhof abgeholt, und nun stand sie, nach über vierjähriger Abwesenheit, das erste Mal wieder vor dem vierstöckigen Altbau. Mit klopfendem Herzen ging sie die Treppen zu der im zweiten Stock gelegenen Wohnung hinauf. Gisela erwartete sie bereits und begrüßte sie herzlich. Als Christina dann im Wohnungsflur stand, erschien ihr die einst so vertraute Umgebung sehr fremd, obwohl sich allem Anschein nach nichts verändert hatte. Da stand die Flurablage mit dem hohen Spiegel und dem Schirmständer, der Fußboden hatte noch seinen alten Linoleumbelag und die Tapete war auch noch die selbe. Das kleine Bild einer Dogge mit Schlägermütze und einer Pfeife im Maul, das Onkel Eduard ihnen vor Jahren mal zu Silvester geschenkt hatte, hing auch immer noch an seinem Platz. Alles war eigentlich unverändert und wirkte auf Christina doch so fremd.
Sie stand vor dem Bild, unfähig sich zu rühren, und bekam plötzlich wieder Angst vor dem alltäglichen Zusammenleben mit den Eltern und der ersten Begegnung mit Kurt. Christina warf einen Blick den Flur entlang zur Küche, ob er vielleicht dort war. Sie hörte, wie Gisela die Kartoffeln abgoß; sie war extra nach Hause gekommen, um den Eltern an diesem wichtigen Tag zu helfen.
Jetzt kam auch Herr Hoppe, der Christinas Gepäck noch aus dem Taxi geholt hatte, in die Wohnung. "Ja, jetzt bist du wieder da! Und wie der Braten duftet. Da bekommt man richtig Appetit, was Christina? Aber der Gänsebraten ist es noch nicht, den gibt es erst morgen", sagte er vergnügt, sich die Hände warm reibend. "Na, wie ist es denn so, wieder daheim zu sein?"
Frau Hoppe, die sofort nach der Ankunft in der Küche verschwunden war, kam nun auch, mit ihrer weißen Küchenschürze bekleidet, hinzu: "Hier ist alles noch beim Alten."
"Ja, und dennoch wirkt es so ganz anders", sagte Christina leise.
"Das ist verständlich, nach all den Jahren in den großen Schulräumen. Dann deine vielen Reisen, die Theater und Konzertsäle, da wirken die häuslichen Verhältnisse anfangs ein bißchen beengt."
"So wird es wohl sein", stimmte Christina dem Vater zu.
"Aber Kind, du hast ja immer noch deinen Mantel an. Zieh ihn doch erst mal aus", drängte Frau Hoppe sie, und gab ihr einen Kuß auf die Wange. "Du siehst müde aus, da wird es Zeit, daß du dich mal setzt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich wir sind, dich wieder bei uns zu haben." Dann ergriff sie Christinas Gepäck und trug es in Giselas Zimmer, das die beiden Mädchen früher gemeinsam bewohnt hatten.
"Ja, wir freuen uns alle sehr", stimmte Herr Hoppe seiner Frau zu. "Mir ist es immer noch unverständlich, daß in den vier Jahren nicht ein einziges Mal Gelegenheit war, sich wiederzusehen." Er stutzte, denn Christina war plötzlich sehr nervös, als sie ihren Mantel aufhängte. Warum schaute sie so verlegen?
Frau Hoppe kehrte gerade aus dem Zimmer zurück, als Christina sich mit gleicher Fahrigkeit ihre noch gut sitzenden Spangen aus dem Haar zog und erneut hineinsteckte. Besorgt nahm sie die Veränderung des Mädchens zur Kenntnis und hoffte inständig, Christina möge keinen Rückschlag ihrer Erkrankung erleiden. Um abzulenken sagte sie: "Friedrich, deine vielen Fragen. Christina ist doch eben erst nach Hause gekommen. Außerdem kann man die Zeit sowieso nicht mehr zurückdrehen. Waren die Jahre auch für alle sehr hart, jetzt mein Kind", mit diesen Worten wandte sie sich Christina zu, "jetzt bist du wieder hier, und das ist die Hauptsache."
"Ich freu mich halt so, verstehst du, Christina", versuchte der Vater zu erklären, "da
43

sprudeln einem die Fragen nun mal nur so heraus. Ich möchte so vieles wissen. Immerhin hast du viele Reisen gemacht, von denen es sicher viele interessante Dinge zu erzählen gibt."
"Später, Friedrich, später", bremste Frau Hoppe abermals ihren Mann. "Das Essen ist gleich fertig, und danach ist es am besten, wenn Christina sich erst mal etwas hinlegt."
"Paß nur auf, daß du dabei den Heiligabend nicht verschläfst!" rief Gisela aus der Küche.
"Dann wird erbarmungslos geweckt", lachte der Vater, "schließlich wollen wir heute abend endlich wieder unsere Weihnachtslieder mit dir zusammen singen. Ich befürchte nur, daß der häusliche Chor für deine Ohren jetzt eher ein schmerzliches Erlebnis sein wird."
"Grund genug für ein Solo", meinte die Mutter. "Vielleicht machst du uns die Freude, Christina?"
"Natürlich, so viele Lieder wie ihr wollt." Christina war froh, daß ein erfreulicheres Thema als die Heimreise angesprochen wurde. Sie hoffte, daß die Eltern ihr schlechtes Gewissen nicht bemerkt hatten. Um von ihrer Unruhe abzulenken, lief sie hinüber zur Wohnzimmertür, um zu schauen, ob sich dort etwas verändert hatte. Sie drückte die Klinke nieder, aber die Tür war verschlossen. "Aha!" lachte Christina.
"Ja, genau wie früher", sagte der Vater geheimnisvoll.
"Und durchs Schlüsselloch gucken ist verboten", bemerkte sie, indem sie den geheimnisvollen Tonfall des Vaters nachahmte, "denn vielleicht hängt der Weihnachtsmann noch immer seine Kamera von innen davor, die jedes neugierige Auge aufnimmt?"
"Das weißt du noch?" rief die Mutter erfreut. "Der Vati hat es von innen abgedeckt."
Aus der Küche rief Gisela: "Wollt ihr euch auf dem Flur verewigen? Das Essen ist gleich fertig."
Auf in den Kampf, dachte Christina, und folgte den Eltern zaghaft bis zur Küchentür. Kurt saß aber gar nicht in der Küche. Unschlüssig blieb sie stehen und schaute bei den letzten Vorbereitungen zu. Gisela und die Mutter richteten den Tisch her, während der Vater sich bereits seine Pfeife stopfte, die er gewöhnlich nach dem Essen rauchte. Jetzt erst fiel Christina auf, daß Gisela sich verändert hatte. Sie war, im Gegensatz zu früher, rundlicher geworden. Ihr braunes Haar trug sie aber wie immer, glatt und kurz geschnitten.
"Jetzt komm doch herein", drängte Gisela, die spürte, daß Christina sie beobachtete.
"Weißt du eigentlich, daß ich sehr enttäuscht bin, meine Nichte Annelie heute noch nicht kennenlernen zu können?" sagte Christina.
"Die kleine Schreiliese? Die ist bei meinen Schwiegereltern, damit ich hier ungestörter helfen kann", antwortete Gisela. "Dieses Jahr verbringen wir Heiligabend bei ihnen, dafür waren wir letztes Jahr hier. Wir wechseln uns immer ab."
"Das ist auch recht so", stimmte der Vater zu. "Gottfrieds Eltern freuen sich ja auch, wenn sie nicht alleine sind. Und wir haben ja dich, Christina, heute wieder bei uns, und Kurt ist auch noch da."
Kurt - wo war der nur? Christina atmete tief durch. Nur nicht noch einmal die Ruhe verlieren. Entschlossen trat sie, am gedeckten Küchentisch vorbei, ans Fenster und sah hinaus auf die braungrauen Rückfronten der alten Mietshäuser. In den Höfen standen Teppichstangen, Ascheimer und Mülltonnen, und in der Mitte des gesamten Komplexes lag unverändert eine kleine Reihe Gärten, die im Sommer stets eine Oase inmitten des steinernen Graus bildeten. Christina schaute auf eines der gegenüberliegenden Häuser. Dort, ebenfalls im zweiten Stock, wohnte ihre beste Freundin Inga. Früher hatten sie sich oft von Fenster zu Fenster durch Zeichen verständigt. Morgen wollte Christina hinüber und sie mit ihrer Heimkehr überraschen.
"So, Friedrich, Kinder setzt euch bitte. Wo ist denn Kurt?"
"Vielleicht schläft er noch", meinte Gisela.
"Siehst du, Friedrich, er scheint sich nicht wohl zu fühlen. Ich habe das gleich gemerkt, als er gestern aus Lübeck kam. Er hat auch viel zuviele Überstunden vor Weihnachten
44

machen müssen", sagte Frau Hoppe besorgt.
Oder ihm ist mein Kommen auf den Magen geschlagen, dachte Christina. Im selben Moment erkannte sie, daß sich ihr hier eine Gelegenheit bot, ihm allein in seinem Zimmer das erste Mal gegenüberzustehen. Es war besser, offensiv zu sein. "Ich schau mal nach ihm", sagte sie entschlossen und lief eilig aus der Küche.
Vor der Tür zu Kurts Zimmer blieb Christina stehen. Sie holte tief Luft und sammelte Mut. Dann legte sie die Hand auf die Klinke, zog sie jedoch gleich wieder zurück und klopfte, was sie früher nie getan hatte, an.
Auf das knappe "Ja" hin, öffnete sie die Tür. Und da stand Kurt. Christina stutzte; der hagere Junge hatte sich zu einem breitschultrigen, kräftigen jungen Mann entwickelt. Doch sein Gruß, sein Lächeln, ja seine ganze Haltung zeigten ihr seine Verlegenheit sehr deutlich. Und das stärkte ihr Selbstvertrauen.
Kurt war von ihrem Anblick genauso überrascht. "Christina? Vier Jahre, nein, du bist kaum wiederzuerkennen."
Von ihrer Wut getrieben, übersah sie seine ihr entgegengestreckte Hand und schloß leise hinter sich die Tür. Dann löste sich all das Aufgestaute der letzten Jahre. Wut zeichnete ihr Gesicht, als sich nun ein wahrer Wortschwall über Kurt ergoß: "Ist das alles, was du mir zu sagen hast? Ist das wirklich alles, nach vier entsetzlichen Jahren, die du mich gekostet hast? Oder glaubst du etwa, ich sei grundlos dort gelandet, wo ich bis gestern noch gewesen bin? Es war so gemein von dir, mir damals mein wütendes Dahergeschwafel als Tatsache an den Kopf zu werfen. Man hätte mich beizeiten über alles aufklären sollen. Warum hat... "
"Christina, beruhige dich bitte!" Kurt machte sich ihre kurze Atempause zu nutze, um sie zu unterbrechen. "Wie konnte ich damals ahnen, daß - wie nanntest du es eben -Dahergeschwafel?"
"Du hast genau verstanden."
"Ja, aber damals wußte ich nicht, daß du es nur so dahergesagt hattest."
"So? Selbstverständlich wußtest du es!" rief Christina.
"Nein, in dem Augenblick wirklich nicht, erst hinterher. Du hast gar keine Ahnung, was ich mir die ganzen Jahre über für Vorwürfe gemacht habe. Ich wollte dir schreiben, nur du weißt doch, wie schreibfaul ich bin. Aber ich habe fest vorgehabt, dich zu besuchen, doch als Lehrling bekam ich das Geld nie zusammen." Kurt suchte krampfhaft nach den richtigen Worten.
"Oh, ein Glück, daß es nicht geklappt hat. Ich wollte dich und die Eltern nie wiedersehen. Du bist so feige, du drückst dich immer, wenn du zu etwas stehen sollst..."
"Das stimmt nicht, du siehst, ich bin über Weihnachten nach Hause gekommen. Aber, bitte Christina, laß uns später einmal in Ruhe über alles sprechen. Für heute, kann ich mich nur nachträglich für alles entschuldigen."
"Kinder, das Essen wird kalt!" rief die Mutter ins Zimmer und war beruhigt, ihren Sohn nicht, wie befürchtet, im Bett liegen zu sehen. "Ihr könnt euch doch bei Tisch weiter unterhalten." Dann ging sie wieder.
"Noch mal, Christina, entschuldige bitte, das ist alles, was ich im Moment sagen kann." Mit fahrigem Griff zog Kurt an seiner Krawatte. Ihrem Blick ausweichend versuchte er, sie durch ein unbeholfenes Kompliment umzustimmen: "Wirklich, du bist sehr hübsch geworden."
Christina starrte ihn sprachlos an; bei so viel plumper Gefühllosigkeit waren Hopfen und Malz verloren. Erst jetzt merkte sie, daß er unter seinem weißen Oberhemd, auf dem eine rote Krawatte leuchtete, bis zu den Knien verkürzte, blauweiß gestreifte Pyjamahosen trug. Der Anblick war zwar lustig, aber ihr war weder zum Lachen noch zum Scherzen zumute. Als er jedoch in diesem Aufzug mit ihr das Zimmer verlassen wollte, konnte sie sich eine Bemerkung nicht verkneifen: "Ich hoffe, daß der Weihnachtsmann heute abend für dich eine Hose übrig hat."
45

"Oh!" verlegen blickte Kurt an sich hinunter und entschuldigte sich für eine Minute.
Während der Mahlzeit mied Christina jegliche Unterhaltung mit ihm. Sie war enttäuscht, denn was hatte sie damit erreicht, ihm alles mögliche an den Kopf zu werfen? Nur ein Kompliment für ihr Aussehen? Die Genugtuung, ihm einmal die Meinung gesagt zu haben? Was hätte sie denn auch sonst noch erreichen wollen? Kurt hätte vom Vater das Schlimmste zu befürchten, wenn die Sache zur Sprache käme. Und am Heiligabend wollte sie keinen Familienstreit. Christina fühlte sich nicht wohl. Sie dachte an München und an Frau Lingner und bekam große Sehnsucht. Sie wurde immer stiller, mochte nichts mehr essen, und fürsorglich brachte die Mutter sie zu Bett.
Warm eingekuschelt unter ihrem alten Federbett, drückte Christina ihre Puppe Angelika fest an sich, die all die Jahre in ihrem rosa Kleidchen und Schutenhut auf dem Bett auf sie gewartet hatte.
"Stille Nacht, heilige Nacht, ... " So froh wie sonst, klang der Gesang nicht. Die rauhe Stimme des Vaters hatte zwar schon früher immmer alle übertönt, diesmal aber erklang sie neben Kurts leisem Brummen fast als Solo. Die Mutter blickte voll Wehmut auf die festlich geschmückte Tanne und schwieg. Christina war vom Anblick ihres Weihnachtsgeschenkes völlig überwältigt. Vor ihr stand ein Klavier, auf dem zwei Kerzen brannten. Ein Kärtchen trug die Aufschrift: "Mit viel Liebe für unsere kleine Sängerin" Das Instrument füllte fast die ganze linke Wand aus, so daß Vaters Lehnstuhl daneben in die Zimmerecke weichen mußte.
Das ganze Zimmer war erfüllt von strahlendem Lichterglanz. Die große Tanne stand dem Klavier gegenüber in der rechten Fensterecke; der Tisch war mit Gebäck, Kakao und Naschereien festlich gedeckt.
Christina sah verstohlen zur Mutter hinüber und wußte sofort, bei wem ihre Gedanken gerade weilten. Beschämt wurde sie sich bewußt, wie wenig Herzlichkeit sie den Eltern entgegenbrachte. Eltern, die um ihren verstorbenen Sohn trauerten, und den anderen Sohn noch in Rußland in Gefangenschaft wußten. Ihr zuliebe begingen sie den Weihnachtsabend so feierlich, und hatten selbst die hohe Ausgabe für ein Klavier auf sich genommen. Wieviel hatte sie nur wieder gutzumachen!
Nach der dritten Strophe schlug der Vater vor, es bei dem einen Lied zu belassen. Entschlossen trat Christina ans Klavier. Sie blätterte in dem Notenbuch, das darauf stand. Es waren Weihnachtslieder, und schnell hatte sie ihre Wahl getroffen. Sie setzte sich auf den Klavierhocker, schlug zur Prüfung einige Akkorde an, und ließ dann sogleich ihre Finger sicher über die Tasten gleiten. Nach kurzem Vorspiel setzte sie mit ihrer klaren Sopranstimme ein: "Süßer die Glocken nie klingen,..."
Ja, ist das möglich! Kaum zu glauben, sie ist eine richtige Sängerin, tatsächlich bereits eine Sängerin, dachte Herr Hoppe stolz und sah zu seiner Frau hinüber, die genauso erfreut war.
"Segne den Vater, die Mutter ... ", sang Christina und lächelte dabei den Eltern zu; eine Geste, die die Mutter zu Tränen rührte. "Glocken mit heiligem Klang, klingen die Erde entlang."
Christinas Stimme verklang, und gerührt trat der Vater auf sie zu, während sie selbst aufsprang, um ihm dankend einen Kuß zu geben.
"Nein, Christina, diesmal haben wir zu danken. Dein Gesang und dein Spiel waren wunderschön!"
Heftig schüttelte Christina den Kopf: "Zu danken habe nur ich, für alles." Mit diesen Worten gab sie auch der Mutter einen Kuß.
Kurt lobte ebenfalls ihre Stimme, doch verkrümelte er sich gleich in die Sofaecke, in der er seine Geschenke erblickt hatte. Christina verließ plötzlich das Zimmer, um bald darauf, die
46

Arme voller Geschenke, wieder zurückzukehren. Jedes war sorgfältig mit Weihnachtspapier und einer Seidenschleife verpackt. Die Eltern waren sehr erstaunt. Christina versicherte, auch sie sei beim Weihnachtsmann gewesen, und überreichte ihnen je zwei Päckchen. Kurt bekam auch ein kleines, damit er nicht in den Mond gucke, wie sie ihm zuflüsterte.
"Kind, was hast du nur gemacht!" Erstaunte Ausrufe begleiteten das Auspacken bunter Pralinenkästen und blauweißer Wollgarnituren: Handschuhe und Schals.
"Ein großzügiger Weihnachtsmann", bemerkte Kurt, der inzwischen auch sein Geschenk ausgepackt hatte und es schmunzelnd betrachtete. Auf die Frage des Vaters, was es denn sei, antwortete er schlicht: "Ein Buch."
"Ein Buch, das ist genau das richtige für unsere Leseratte. Wie heißt es denn?"
"Es ist kein Roman", kam die knappe Antwort.
"Zur Abwechslung also mal etwas Wissenschaftliches?" fragte der Vater weiter.
"Es ist etwas Lehrreiches", sagte Christina, Kurt zuvorkommend.
Heimlichtuerei verabscheute der Vater, deshalb nahm er Kurt nun kurzerhand das Buch aus den Händen. "Aha, über das gute Benehmen, das ist das erste vernünftige Buch für dich. Ich hoffe, du liest es auch, mein Sohn, und ziehst daraus gewisse Lehren."
"Aber Friedrich, der Junge benimmt sich doch anständig", sagte Frau Hoppe erstaunt.
"Das behaupten alle Mütter von ihren Söhnen." Zu Christina gewandt, sagte der Vater: "Nun sag mal, mein Kind, wie und wann bist du denn zum Weihnachtsmann gekommen?"
"Oh!" lachte Christina. "Also gut, Frau Lingner ging am Mittwochnachmittag mit mir zu ihm, ganz dicht bei der Klinik."
"Aber woher hattest du denn das Geld? Ich weiß zwar, daß man bei Geschenken nicht danach fragt, aber in diesem Fall interessiert es mich. Ich hoffe, du verstehst das."
"Oh Vati, du gibst es nicht auf. Also, das Geld war von euch, wenn du es genau wissen willst."
"Von uns?" wunderte sich der Vater.
"Ja, von euch. Mein gespartes Taschengeld, denn für mich habe ich nicht alles gebraucht."
"Was, die paar Mark ab und zu, Kind, nicht mal die hast du dir gegönnt und gibst sie schließlich noch für uns aus." Frau Hoppe schüttelte verständnislos den Kopf.
"Nicht alles, Mutti, ich habe sogar noch etwas gespart", erklärte Christina stolz, während sie wieder ans Klavier trat und ihre Finger über die Tasten gleiten ließ. "In diesem Jahr sind es nur ein paar Kleinigkeiten, aber wenn ich erstmal verdiene, werde ich euch viele schöne Sachen kaufen!"
"Christina, schläfst du noch?" fragte Gisela leise.
Gähnend drehte Christina sich im Bett um, doch als sie, verschlafend blinzelnd, ihre Schwester sah, riss sie erstaunt die Augen auf: "Du bist schon hier?"
"Seit um acht", sagte Gisela vergnügt. Sie zog die Vorhänge zurück und das Rollo hoch. "Es ist nach neun. Ich hätte dich eigentlich nicht geweckt, aber du solltest wissen, daß du gleich alleine bist. Die Eltern und Kurt sind schon vor einer halben Stunde zu Fuß zum Friedhof; ich fahre ihnen jetzt nach. Anschließend holen Kurt und ich Oma Hoppe zu uns. Du weißt ja, daß Tante Helene und Onkel Eduard heute mittag auch zum Essen kommen. Sie freuen sich schon alle, dich wiederzusehen."
"Und Annelie und Gottfried?" fragte Christina.
"Ich bleib nicht zum Mittagessen, dafür kommen wir heute abend. Dann mußt du uns unbedingt auch etwas vorspielen und singen. Ich habe nämlich von dem Konzert einer vielversprechenden Sängerin gehört."
"Oh, übertreib nicht, aber das Klavier, Gisela ..."
47

"Ich weiß, es ist Vaters ganzer Stolz."
"Glaub mir, meiner auch", versicherte Christina. "Ein Stück spiel ich dir vor, mehr aber nicht, denn schließlich hast du mich nicht früher geweckt", mimte sie die Eingeschnappte. "Ich hätte nämlich mit dir kommen können."
"Aber du hast den Schlaf dringend nötig gehabt, außerdem ist es draußen kalt. Ach ja, bevor ich es vergesse, wolltest du heute morgen schon zu Inga?" fragte Gisela.
'Vielleicht. Warum?"
"Mutti und Vati kommen nicht so spät zurück. Sie möchten gerne eine Weile mit dir alleine sein."
Christina erschrak. Jetzt ist es soweit, dachte sie, von plötzlicher Angst ergriffen.
"Was ist, Christina?"
"Nichts, gar nichts."
Besorgt sah Gisela sie an. "Komm, mach mir nichts vor, was ist los?"
"Wirklich nichts. Du verpaßt deinen Bus."
"Dann nehm ich eben den nächsten." Entschlossen zog Gisela ihren Wollmantel aus und warf ihn über den Stuhl. Sie setzte sich zu Christina auf die Bettkante.
"Warum warten sie nicht bis nach dem Fest? Ausgerechnet am ersten Feiertag", entfuhr es Christina. Sie war sich sicher, daß die Eltern nur einen Grund für das Gespräch haben konnten.
"Was meinst du damit?" Gisela erhielt keine Antwort und fragte verwundert: "Sag, du weißt...?" Mehr wagte sie nicht auszusprechen, aber mehr war auch nicht nötig. Christina sah ihre Vermutung bestätigt. Sie nickte Gisela zu.
"Also doch. Schon lange? Sag, Christina, seit wann?" Wieder bekam Gisela keine Antwort. "Warum hast du nie etwas geschrieben? Christina, bitte, weißt du es schon lange?"
Erneut ein stummes Kopfnicken als Antwort. Christina war nun klar, daß Kurt wirklich die ganze Zeit über nichts erzählt hatte. Aber jetzt war der Stein ins Rollen gekommen, und da nützte es eigentlich nichts mehr, wenn sie schwieg.
"Also haben die Eltern richtig vermutet", meinte Gisela bedrückt. "Von wem weißt du es?"
Als hätte sie die Frage gar nicht gehört, sagte Christina: "Ach Gisela, was soll ich machen? Soll ich mich bei den Eltern für alles bedanken und ihnen sagen, daß ich mich erkenntlich zeigen werde, sobald ich eigenes Geld verdiene? Oder was soll ich machen?"
Verblüfft ergriff Gisela Christinas Hände. "Gar nichts, überhaupt nichts. Sie wollen keinen Dank, und schon gar kein Geld. Nein, Christina, sie möchten, daß du dich hier wieder zu Hause fühlst, daß du sie liebst, genauso wie unser Herz an dir hängt. Weißt du, deine Briefe haben sie manchmal stutzig gemacht. Als du dann auch noch krank wurdest und auf ihren Besuch so entsetzt reagiert hattest, da glaubten sie es zu wissen. Warum schweigst du nur darüber? Du hast es in München erfahren, nicht wahr? Hat es dir jemand geschrieben?"
Auch jetzt wich Christina aus, stattdessen stellte sie die Frage, die sie vier Jahre tagtäglich beschäftigt hatte: "Wie bin ich eigentlich zu euch gekommen?"
Hilflos zuckte Gisela die Achseln. "Es ist besser, Christina, du sprichst mit den Eltern darüber."
"Warum? Früher haben wir beide immer über alles gesprochen, ich bitte dich, erzähl es mir. Du weißt es doch, du weißt alles."
Gisela zögerte, weil sie befürchtete gegen den Willen der Eltern zu handeln. Außerdem war ihr nicht klar, was Christina bereits wußte, und von wem sie es erfahren hatte. Warum nur schwieg sie so beharrlich? Ratlos verwies Gisela erneut auf die Aussprache mit den Eltern.
Aber Christina gab nicht nach. Sie drängte unablässig, bis Gisela schließlich mit einem tiefen Seufzer resignierte und umständlich begann, von dem vorübergehenden Wohnaufenthalt in Hamburg 1936 zu erzählen, und von der Freundschaft der Eltern zu einem
48

Ehepaar Buchholz. Christina wußte von beidem, da in der Familie oft darüber gesprochen worden war. Sie erinnerte sich sogar noch an den Tag, als Frau Buchholz sie das letzte Mal in Kiel besucht hatte. Christina war damals sechs Jahre alt gewesen. Auch wußte sie noch, daß es bald nach diesem Besuch hieß, die Tante wäre jetzt bei 'Onkel Buchholz', der im Jahr zuvor gestorben war. Als Gisela nun erwähnte, daß Frau Buchholz halbtags in einem Waisenhaus gearbeitet hatte, horchte Christina gespannt auf; das war ihr nämlich völlig neu.
Gisela merkte es und sprach noch zögernder und überlegter weiter: "Naja, und so erzählte uns Frau Buchholz mitunter von den vielen Kindern und Säuglingen im Haberland Heim. Oh Christina, vielleicht kannst du dir die vielen Fragen vorstellen, die Hans-Jürgen und ich hatten. Eines Tages dann sprach sie nur noch von einem drei Monate alten Mädchen. Frau Buchholz hätte es so gerne adoptiert, doch sie und ihr Mann waren einfach schon zu alt."
"Dieses Mädchen, war ich das?" fragte Christina.
"Ja, das warst du. Ich kann mich noch genau erinnern, es war Anfang Dezember, Schneeregen fiel und wir hatten einen fürchterlichen Sturm. Hans-Jürgen, Kurt und ich waren so schnell wir konnten von der Schule nach Hause gelaufen, und an der Tür empfing uns Mutti mit einem schreienden Bündel im Arm. Ich höre noch ihre Worte: 'Denkt nur, ab heute habt ihr eine kleine Schwester.' "
"Einen Brüller, sag's nur, ich weiß es."
"Ach Gott, nein, Christina. Du hättest unsere Begeisterung sehen sollen. Wir haben uns darum gestritten, wer zum ersten Mal den Kinderwagen schieben durfte; nur Gerhard nicht. Er als Ältester wachte über dich wie ein verantwortungsbewußter Papa. Ja, so war es, wir hatten plötzlich eine kleine Schwester."
Christina hatte gespürt, wie sehr sich Gisela bemühte, an diesen Punkt zu gelangen. Aber sie wollte es genauer wissen. Warum hatte man ausgerechnet sie adoptiert?
"Weil du halt so niedlich warst, jeder war vernarrt in dich", versuchte Gisela ihre Wißbegierde zu stillen.
Doch Christina schüttelte energisch den Kopf. Sie kannte Fotos, die sie nicht gerade als ausgesprochen schönes Baby zeigten. Außerdem gab es genug Schilderungen der Verwandtschaft, die ihren besonderen Dickkopf und die lang anhaltenden Brüllkonzerte betrafen. Nein, von dieser betonten Niedlichkeit war nichts vorhanden gewesen. Enttäuscht erkannte Christina, daß weiteres Drängen nach dem Grund der Adoption sinnlos war. Auf ihre Frage nach den wirklichen Eltern wußte Gisela genauso wenig eine Antwort.
"Natürlich nicht, was hätte ich auch anderes erwarten können", stieß Christina erbittert aus. "Alles wird mir verschwiegen. Gisela, schau dir zum Beispiel mal deine Hände an; du weißt genau, von wem sie sind, von wem deine ganze Persönlichkeit ist. Du siehst und fühlst deine Eltern. Wessen Blut aber fließt durch meine Hände, Gisela? Man wird von seinen Wurzeln weggerissen, und dann wird einem jedes Recht verweigert, Klarheit in seine Gedanken und Gefühle zu bekommen. Aber das alles verstehst du nicht. Deine Welt ist ja vollkommen."
"Doch, Christina, ich kann verstehen, daß du deine leiblichen Eltern ausfindig machen möchtest, aber wir wissen weder Name noch Adresse", entgegnete Gisela.
"Also leben sie noch?"
"Vielleicht...", zögerte Gisela.
"Ich bitte dich, erzähl!"
"Wir wissen wirklich nicht viel, glaub mir, ganz bestimmt nicht. Nur, daß du von einem Mädchen aus gutem Hause geboren wurdest, ohne Vater, halt unehelich, wie man so sagt. Dann wurdest du zur Adoption in ein Waisenhaus gebracht."
Christina starrte nachdenklich vor sich hin.
"Was überlegst Du?" fragte Gisela.
"Ich bin doch in Kiel geboren, warum brachte man mich in ein Heim nach Hamburg? In
49

Kiel gibt es doch auch Heime?"
"Das ist ja das Kuriose. Nach der Geburt hat man dich extra nach Hamburg gebracht, und ein gutes halbes Jahr später kamst du mit uns nach Kiel zurück. Von deinem Vater wissen wir gar nichts, Ehrenwort." Beschwörend hob sie die rechte Hand.
"Ein Mädchen aus einer feinen Familie also", sagte Christina langsam. "Wie peinlich."
"Ach komm, Christina, so etwas solltest du nicht sagen."
"Nein? Aber es ist doch die Wahrheit. Denk nur, ein angesehenes Mädchen mit einem unehelichen Kind; da ist es kein Wunder, daß man mich bis nach Hamburg abgeschoben hat, weit weg von Angehörigen und Freunden dieser Sängerin."
"Wie kommst du denn auf Sängerin?" fragte Gisela erstaunt. "Meinst du etwa wegen deiner Stimme? Die muß doch nicht vererbt sein, oder könnte auch vom Vater stammen."
"Also weißt du doch etwas von ihm?"
Gisela schüttelte energisch den Kopf, doch Christinas Phantasie war nicht mehr zu zügeln.
"Natürlich!" Sie schlug sich an die Stirn. "Eine Hafenstadt wie Kiel, da kann es nur eine Matrosenliebschaft gewesen sein, nicht wahr?"
"Nein, nicht unbedingt."
"Doch!" Und sogleich folgte ein kleinlautes: "Nein."
"Ach Christina, aus jeder Möglichkeit ziehst du gleich eine Schlußfolgerung. Warum sprichst du nicht mit den Eltern?" versuchte Gisela es ein letztes Mal. Doch für Christina war klar, daß sie genauso viel wissen mußte, wie die Eltern. Gisela gab es auf. Unschlüssig trat sie ans Fenster, draußen schneite es in dichten feinen Flocken. Sie legte ihre Stirn an die kalte Scheibe, die sofort von ihrem warmen Atem beschlug. Was für eine glückliche Familie waren wir mal; fünf Kinder, sorglos beisammen. Und heute? Gisela malte mit ihrem Zeigefinger Figuren auf die beschlagene Scheibe, wie sie es als Kind oft getan hatte. "Ich erinnere mich noch, wie Mutti früher manchmal gesagt hat: 'Christina wurde mir genauso in den Arm gelegt wie ein eigenes Kind.' Genau das warst du auch immer: unsere Schwester."
Sie wandte sich wieder Christina zu, die, ihren Kopf in die Hände gestützt, auf dem Bett saß. "Du hast keine Ahnung, Christina, was es die Eltern an Überwindung gekostet hat, sich zu dieser Aussprache zu entschließen. Du kannst dir nicht vorstellen, was es für Eltern bedeutet, ihrem Kind, das sie genauso lieben als wäre es das eigene, zu sagen, daß sie nicht die leiblichen Eltern sind. Ich versteh dich, Christina, mehr als du vielleicht denkst, aber genauso verstehe ich auch unsere Eltern. Möge der Herrgott uns allen in dieser Situation helfen."
Christina hob den Kopf und sah Gisela verwundert an, die sich wieder zu ihr aufs Bett gesetzt hatte. "Seit wann wendest du dich an den Herrgott?"
"An wen wendet man sich denn sonst, wenn man nicht mehr weiter weiß? Hans-Jürgen ist nicht mehr bei uns, Gerhards Schicksal ist ungewiß, und du, Christina, haben wir dich auch verloren?"
"Was redest du!" Christina umarmte sie heftig und gab ihr einen Kuß. "Ich liebe euch genauso wie früher. Du darfst nicht vergessen, daß die Nachricht für mich ein ganz schöner Schock gewesen war. Seitdem mußte ich alles mit mir alleine abmachen, bis ich zum Schluß völlig durchgedreht war. Und daß ich alles über die Adoption wissen will, ist doch wohl ganz klar. Weißt du, Gisela, durch eine aufrichtige Aussprache verliert man keinen Menschen, im Gegenteil, sie stärkt das Vertrauen. Ich gebe zu, daß ich verletzt bin. Es ist nämlich jetzt schwerer, die ganze Sache zu überwinden, als wenn man mir es früher gesagt hätte. Im übrigen aber", Christina drückte Giselas Hand, "hat sich nichts geändert."
Gisela fiel ein Stein vom Herzen. Sie war sehr erleichtert, daß das Gespräch dieses glückliche Ende gefunden hatte. Da es nun zu spät für den Friedhof war, beschloß sie, gleich zu Oma Hoppe zu fahren. "Und was machst du, Christina, wenn ich weg bin?"
50

"Keine Dummheiten, falls du das denken solltest. Ich wollte doch Inga besuchen", sagte Christina.
"Bitte sei dann rechtzeitig zurück. Weißt du, es ist für die Eltern genauso schwer, wie für dich. Es ist wichtig, daß ihr mal in Ruhe miteinander darüber redet" Gisela zog ihren Mantel an und gab Christina zum Abschied einen Kuß: "Hier ist dein Zuhause, wir alle haben dich wirklich lieb."
"Ein gesegnetes Fest, Stine, und weiterhin viel Freude an unserem kleinen Stimmwunder. Wo ist unser Stinchen?" keuchte Oma Hoppe, nachdem sie die Stufen zur Wohnung hinaufgestiegen war. Ihre Schwiegertochter befreite sie sogleich von ihrem schwarzen Wolltuch.
"Nun bleib man erst mal ruhig stehen, Oma, und hol tief Luft", beruhigte Frau Hoppe sie.
Gisela, die beklommen abzuschätzen versuchte, welche Stimmung zu Hause herrschte, sagte: "Oma ist im wahrsten Sinne des Wortes nach oben geflogen, da nützten meine Versuche, sie zu bremsen, überhaupt nichts."
"Na, na, nun mal halb lang", protestierte die Oma, während sie scherzhaft mit ihrem Handstock auf den Boden klopfte. Nur noch selten zeigte die kleine, leicht untersetzte weißhaarige Frau derartigen Humor. Doch im Moment verbarg sie dahinter ihre Unruhe, denn Gisela hatte ihr das Gespräch mit Christina anvertraut. Oma Hoppe vertraute man gern seine Sorgen und Probleme an. Sie hatte in ihrem Leben manche Schicksalsschläge erlitten und diese durch festes Gottesvertrauen ertragen. Dadurch brachte sie für vieles Verständnis auf, und war obendrein verschwiegen. "Wo ist denn nun unsere kleine Sängerin?" fragte sie abermals.
"Sie ist nicht da. Hattest du sie nicht gebeten, zu Hause zu sein, Gisela?" besorgt sah Frau Hoppe ihre Tochter an.
Gisela traf diese Frage wie ein Blitz. Christina war also nicht da? War sie davon gelaufen?
"Hast du vergessen, es ihr zu sagen?" fragte die Mutter nach.
"Nein, ich ...", hilfesuchend sah Gisela die Oma an. Die nickte ihr aufmunternd zu. Es hatte doch keinen Zweck mehr, die ganze Sache zu verheimlichen. Gisela nahm ihren Mut zusammen: "Nein, Mutti. Ich habe mit ihr gesprochen. Und wie ihr vermutet habt, weiß sie bereits von der Adoption."
"Sie weiß es?" Ja, sie hatten es alle geahnt, und trotzdem; Frau Hoppes Stimme zitterte. "Von wem?"
"Ja, von wem? Ich weiß es nicht. Sie hat es mir nicht gesagt, sie ist der Frage immer ausgewichen." Gisela fühlte sich hilflos.
"Komm, Stine, das Rumrätseln ist doch sinnlos", sagte Oma Hoppe. "Gisela hat ihr alles sehr nett klargemacht, und mit ein bißchen Geduld, überwindet man vieles. Ihr habt euch wirklich zu spät entschlossen, mit ihr darüber zu reden, und nun haben es andere für euch getan."
In diesem Moment wurde die Wohnungstür geöffnet. Herr Hoppe kam, mit zwei Flaschen Wein im Arm, aus dem Keller. "Ah, die Oma ist da, ein frohes Weihnachtsfest!" rief er seiner Mutter zu. "Das gute Tröpfchen gibt's heute mittag zum Essen."
Vorerst sprachen sie nicht mehr von Christina. Nach der Begrüßung folgte Oma Hoppe allen ins Wohnzimmer, wo sie die große Tanne und das Klavier bewunderte. Während sie auf das Instrument zuging, bemerkte sie beiläufig ein Alpenveilchen, das auf dem Tisch stand. "Das ist aber auch wunderschön", sagte sie entzückt.
"Von wem ist denn das?" fragte Frau Hoppe erstaunt.
Gisela wußte es auch nicht, doch sie entdeckte einen kleinen unbeschriebenen Umschlag,
51

der dagegen gelehnt war. Sie öffnete ihn und gab ihrer Mutter sogleich den beschriebenen Bogen.
"Er ist von Christina!"
Also ist sie doch davongelaufen, ein Abschiedsbrief, durchfuhr es Gisela. Voller Angst beobachtete sie die Mutter, die sich an den Tisch gesetzt hatte und die Zeilen las. Unterdessen hatte Oma Hoppe ihre Freude an dem Klavier entdeckt und spielte ein Stück, das sie früher sehr geliebt hatte. Die Aufregung wegen des Alpenveilchens hatte sie gar nicht bemerkt.
"Was schreibt sie?" drängte Gisela schließlich ungeduldig.
"Wer?" fragte Herr Hoppe, der den Kellerschlüssel in die Küche gehängt hatte, und nun beim Hereinkommen Giselas letzten Satz gehört hatte.
"Von Christina!" Zu Tränen gerührt gab Frau Hoppe ihrem Mann den Brief.
"Liebe Mutti, lieber Vati... ", las er murmelnd. "Schon vor langer Zeit erfuhr ich von der Adoption. - Also doch!" stieß er aus und las weiter. "Es hat mich sehr erleichtert, heute morgen mit Gisela darüber sprechen zu können. - Mit dir?!" herrschte Herr Hoppe seine Tochter an, las aber sofort weiter. "Es fällt mir vorläufig schwer, noch mehr darüber zu sprechen; seid mir deswegen bitte nicht böse. Für mich seid ihr meine Eltern, bei euch bin ich zu Hause. Ich danke euch für alles, was ihr für mich getan habt, und ich verspreche euch, weiterhin fleißig zu lernen, um so bald wie möglich meine Karriere beginnen zu können. Ich habe euch wirklich lieb, und in dem Sinn soll euch das Alpenveilchen den Brief überreichen. Ich gehe zu Inga und bin um ein Uhr wieder zurück. Bis nachher, eure dankbare Christina. - Also doch!" rief Herr Hoppe außer sich. "Wer hat hier seine Hand im Spiel gehabt? Wer?"
"Was ist?" Erschrocken sah Oma Hoppe ihren Sohn an; sie war ganz vertieft in ihr Spiel der 'Träumerei' von Schumann gewesen.
"Nichts, Oma, spiel nur weiter", bat Herr Hoppe. "Wir haben eine kleine Diskussion. Ist doch hübsch das Instrument, nicht wahr?"
Die Oma merkte beruhigt, daß nicht ihr Spiel der Grund für die Aufregung war. "Der Klang ist ganz wunderbar", sagte sie begeistert, und versuchte von neuem die 'Träumerei'.
Herr Hoppe war währenddessen zu seiner Frau getreten und strich ihr zärtlich über den Kopf: "Aber sie ist unsere Tochter geblieben. Sie liebt uns, und das ist das Wichtigste." Zu Gisela gewandt sagte er: "Na, wer war es? Von wem weiß sie es?"
Wieder diese Frage! Gisela war einzig und allein froh, Christina wohlbehalten bei Inga zu wissen. "Ich hab sie zweimal danach gefragt, aber sie umging es."
"Hättest du doch noch ein drittes Mal gefragt!" Geduld war nicht Herrn Hoppes Stärke, zumal es sich um eine solch ernste Angelegenheit handelte. "Sie hat doch nur von Kurt Besuch gehabt, ganz am Anfang."
"Aber Friedrich, unser Kurt." Entsetzt sah Frau Hoppe ihren Mann an.
"Das behaupte ich ja gar nicht. Ich stelle lediglich fest, daß er sie als einziger besucht hat, soviel wir wissen. Also hat sie es vielleicht schriftlich erfahren. Sie schreibt ja, sie weiß es schon lange; es kommt darauf an, was sie unter lange versteht, denn bestimmt hing ihre Erkrankung irgendwie damit zusammen. Entweder war es die hinterlistige Tat von jemandem aus der Verwandtschaft, oder sie hat es durch einen Zufall erfahren." Wer immer es gewesen war, Herr Hoppe war sich sicher, daß er es erfahren würde.
Die Mittagsmahlzeit wurde an der festlich gedeckten Tafel im Wohnzimmer eingenommen. Für Herrn Hoppe bedeutete es eine große Anstrengung, sich in gelöster Stimmung mit seinem Bruder Eduard, dessen Frau Helene und mit den anderen Familienmitgliedern zu unterhalten. Der Drang nach Aufklärung wütete in ihm, und so schaffte er es gerade noch bis zum Auflösen der Tafel, den äußeren Schein zu wahren. Dann flüchtete er unauffällig in die Küche, wo Kurt gerade den Rest aus dem Puddingtopf löffelte. Herr Hoppe leistete ihm mit
52

dem Abknabbern der Gänseknochen Gesellschaft. Dabei hoffte er, einen ungestörten Augenblick mit Christina zu erhaschen. Er brauchte nicht lange zu warten.
Christina half das Geschirr in die Küche tragen, und während die Mutter ins Wohnzimmer zurück ging, bereitete sie den Abwasch vor.
Dieser Augenblick kam Herrn Hoppe gelegen. Nervös an einem Knochen nagend, suchte er nach den richtigen Worten. Christina ahnte nichts. Sie war glücklich, daß niemand über ihr Fortbleiben böse gewesen war. Und die Zusage der Mutter, über nichts mehr sprechen zu wollen, bis sie selbst es wünschte, hatte sie sehr erleichert.
"Wenn man dich so beobachtet, Christina", begann der Vater, "wirkst du fast schon wie eine richtige Hausfrau."
"Mein Gott, eine Hausfrau!" Christina mußte lachen. "Zum Heiraten bin ich glücklicherweise noch zu jung."
"Hoffentlich denkst du noch viele Jahre so, denn schließlich möchten wir, daß du noch lange bei uns bleibst", meinte der Vater aufrichtig. "Sag mal, Christina, versteh mich bitte jetzt nicht falsch, wenn ich doch von der Adoption anfange, obwohl wir ja erstmal nicht darüber sprechen wollten. Aber ich muß eines einfach wissen: durch wen hast du es erfahren?"
Erschrocken ließ Christina ein Puddingschälchen ins Abwaschwasser gleiten. Am liebsten wäre sie jetzt aus der Küche gelaufen, doch es war unmöglich, dem Vater auszuweichen. Sie wußte, daß er keine Ausreden duldete. Verlegen sah sie ihn an. "Ja, von wem ich es erfahren habe? Du meinst, wer es mir ... " Mit unauffälligem Blick streifte sie Kurt, der genauso erschrocken war, wie sie. Ihr kam eine Idee: "Ach ja, ein gerade flügge gewordener kleiner Vogel zwitscherte es mir aus heiterem Himmel ins Ohr." Daraufhin lief sie überstürzt aus der Küche.
"Ein Vogel, verflucht!" Verärgert warf der Vater den Gänseknochen, den er noch in der Hand gehabt hatte, auf den Teller zurück, wo er aufprallte und weiter auf den Fußboden schoß.
Sofort bückte sich Kurt danach und legte ihn auf den Teller zurück. "Dieser nett umschriebene Vogel, Vati, der war zwar schon flügge, aber er hat sich sehr sehr dumm benommen."
"Dumm? So etwas nennst du dumm? Dem dreh ich den Hals um!" rief der Vater.
Es gab kein Zurück mehr. Kurt faßte sich ein Herz und richtete sich vor dem Vater auf. "Bitte", gestand er und holte so tief Luft, als wäre es sein letzter Atemzug. "Wenn du mir den Hals umdrehen willst, bitte."
Für Sekunden erstarrte der Vater vor Entsetzen. "Du? Du!" Und dann schlug er seinem Sohn rechts und links ins Gesicht.
Kurt wich nicht aus. Er wischte sich das Gänsefett von den Wangen und sagte: "Entschuldige, Vater." Er kannte seine Schuld, den Kummer, den er bereitet hatte; der Vater tat ihm sogar leid.
"Entschuldige, entschuldige. Du Lausebengel, du Heimlichtuer!" Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Geschirr klirrte. "Du Nichtsnutz, verschwinde, verschwinde, sag ich dir!" schrie der Vater und wies auf die Tür.
Im gleichen Moment stürzte die Mutter, gefolgt von Christina, in die Küche. Beide entdeckten sofort die roten Spuren in Kurts Gesicht.
"Hier ist er!" grollte der Vater und wies auf Kurt, der sich aus der Küche verziehen wollte. Christina aber versperrte ihm den Weg.
"Was um alles in der Welt ist passiert?" fragte die Mutter.
Christina wußte die Antwort nur zu gut. "Vati, bitte beruhige dich!"
"Was ist hier los?" drängte die Mutter, die nicht begriff, um was es ging.
"Dieser Lausebengel hier hat mit seinem vorlauten Mund ..."
53

"Christina in einem dummen Wortwechsel von der Adoption erzählt und es euch all die Jahre über verschwiegen", unterbrach Kurt seinen Vater.
"Du? Das kann doch nicht wahr sein!" Fassungslos schlug Frau Hoppe die Hände zusammen.
"Entschuldige, Mutti."
"Der Junge verschwindet, und zwar sofort!" zürnte der Vater.
"Komm, Christina, laß mich bitte durch." Mit diesen Worten wollte Kurt die Küche verlassen.
"Nein!" rief sie verzweifelt und verstellte ihm die Tür. "Du bleibst! Vati, was gewesen ist, ist gewesen. Das kann man nicht mehr ungeschehen machen. Außerdem habe ich es so einige Jahre eher erfahren, was in vielem nur gut war, glaub es mir."
"Bitte laß mich durch", drängte Kurt.
"Nein! Schließlich war es nicht nur seine Schuld. Er hatte einige Bemerkungen von mir völlig falsch verstanden und ..."
"Dankeschön, Christina, aber laß mich jetzt bitte durch."
"Nein! Vati, bitte, wir sind doch heute nur drei Geschwister. Und außerdem habe ich von Kurt lediglich das erfahren, was ich eigentlich schon viel früher hätte wissen sollen, zumindest vor meiner Abreise nach München. Fern von zu Hause, das gebe ich zu, war es schon sehr schwer, die Wahrheit zu verdauen. Aber im Grunde genommen bin ich Kurt auch dankbar dafür." Erschöpft holte Christina Luft und sah hilflos bittend zum Vater hinüber. Ein weiterer Zornausbruch blieb glücklicherweise aus.
Niedergeschlagen hatte die Mutter die Szene beobachtet. Aber sie war Christina auch dankbar, daß sie sich für den Frieden zwischen Vater und Sohn einsetzte.
"Ja", brummte der Vater schließlich. "Heute ist Weihnachten, und wenn es dein ausdrücklicher Wunsch ist... " Dann wandte er sich Kurt zu: "Das eine aber, Bursche, will ich dir noch sagen, mein Vertrauen dir gegenüber ist weg, 'weg', verstehst du?" Seine Stimme klang zwar noch gereizt, der Ton war aber jetzt gedämpfter.
Schweigend nahm Kurt die gegen ihn ausgedrückte Mißachtung zur Kenntnis. Er wäre am liebsten sofort nach Lübeck abgereist, aber um des Friedens willen entschloß er sich, die Feiertage noch zu Hause zu verbringen.
Dankbar gab die Mutter Christina einen Kuß.
54

Zweiter Teil
DIENSTAG, 29.4.1952
Unter den einunddreißig Schülerinnen in der Klasse herrschte höchste Aufregung. Der Kalender zeigte den 29.April. Im allgemeinen war es kein besonderer Tag, heute aber erwartete man mit Spannung nach fünfeinhalbjähriger Abwesenheit die Klassenkameradin zurück, die einst scherzend Christina Hopplahopp genannt wurde. Unter lautem Geschnatter erinnerten sich die Mädchen an ihre Schlagfertigkeit und die vielen Karikaturen, die sie so gerne gezeichnet hatte. Damals, beim Abschied, war sie von vielen um ihr Glück beneidet worden.
Daß sich ihr Aussehen verändert hatte, ihre keck wippenden Zöpfe inzwischen der Schere zum Opfer gefallen waren, wußten die Schülerinnen. Eifrig hatten alle während der letzten Monate Zeitschriften- und Zeitungsausschnitte von Christina gesammelt. Wie weit aber hatte sich ihr Wesen verändert? War sie jetzt recht eingebildet? Aber vielleicht brachte sie ja wieder Schwung in die Klasse, und man würde sogar etwas aus der geheimnisvollen Filmwelt erfahren.
Inga saß schweigend auf ihrem Platz. Wie immer strahlte sie äußerste Ruhe aus, obwohl auch sie gespannt auf die Ankunft ihrer Freundin wartete. Sie trug heute ein neues, hellblaues Jackenkleid und hatte sich eine frische Dauerwelle in ihr kurzes braunes Haar legen lassen. Inga war bekannt für ihren guten Geschmack, mit dem sie Modelle für ihre schlanke Figur aus Schnittmusterheften wählte, die sie dann noch mit eigener Phantasie veränderte, und die anschließend von ihrer Mutter, einer gelernten Schneiderin, genäht wurden.
Mit einem Blick auf die Zeitungsausschnitte neben sich, mit denen einige Klassenkameradinnen Christinas Platz dekoriert hatten, fragte sie sich, wie die Freundschaft mit Christina wohl weitergehen würde. Zwar hatten sie all die Jahre über Briefkontakt gehabt und während der Weihnachtsferien 1950 viel Zeit miteinander verbracht, aber die Hauptrolle in einem Film, die vielen Proben und das tägliche Training ... Wieviel Zeit blieb ihr dann wirklich noch?
Plötzlich starrten alle erwartungsvoll zur Tür - aber, was für eine Enttäuschung: nicht Christina, sondern Studienrat Dr. Paulsen erschien. Schwätzend huschten die Mädchen an ihre Plätze. Der Studienrat wußte, wo der Grund für diese Unruhe lag, und schmunzelnd sagte er: "Fräulein Hoppe kommt nachher, sie traf gestern abend erst sehr spät in Kiel ein."
Dr.Paulsen, der kurz vor der Pensionierung stand, war trotz seines Alters noch voller Energie. An diesem Morgen hatte er aber die größte Mühe, die Aufmerksamkeit seiner Schülerinnen auf den Deutschunterricht zu lenken. Ausnahmsweise beendete er die Stunde zehn Minuten früher und nutzte die restliche Zeit, um sich flüchtig die Zeitungausschnitte an Christinas Platz anzusehen. "Ja, sie hat viel lernen müssen, aber sie hat auch viel gesehen und erlebt", stellte der Studienrat befriedigt fest.
Die nächste Unterrichtsstunde wurde eingeläutet, während Christina immer noch auf sich warten ließ. Doch gerade als Dr.Paulsen den Unterricht fortsetzen wollte, klopfte es; alle Blicke richteten sich auf die Tür.
Mit freundlichem Gruß betrat Frau Dr.Hinrichsen, die Rektorin, die Klasse, und nach ihr kam Christina. In weißer Bluse und schwingendem, rotkarierten Wollrock, das schulterlange wellige Haar durch zwei Spangen aus dem Gesicht gehalten, strahlte sie glücklich über das ganze Gesicht.
"Zurück in Kiel, zurück in der Klasse! Ja, damit wäre Fräulein Hoppe nun wieder unter
55

Ihnen!" sagte die Rektorin vergnügt und verabschiedete sich gleich wieder.
Christina freute sich, Dr.Paulsen wiederzusehen, der dieser Klasse bereits in der Sexta Deutschunterricht erteilt hatte. Sie fand ihn unverändert, ganz im Gegensatz zu ihm: "Fünfeinhalb Jahre - Sie wären nicht wiederzuerkennen gewesen, wenn man in letzter Zeit nicht immer mal wieder Bilder von Ihnen in der Zeitung gesehen hätte", bemerkte der Studienrat, als sie sich zur Begrüßung die Hand gaben.
Christinas Blick wanderte über die Gesichter ihrer Klassenkameradinnen, die sie neugierig bestaunten. "Früher hatten alle Zöpfe, ich kenne kaum jemanden wieder, außer Inga", stellte sie fest, wobei sie der Freundin einen Gruß zurief.
"Einige Schülerinnen sind neu hinzugekommen, andere haben uns verlassen. Im Übrigen aber hat sich hier nichts verändert, abgesehen von den Jahren, die wir alle älter geworden sind", lachte Dr.Paulsen.
Christina nickte zustimmend. "Dafür hat sich aber in Kiel manches verändert. Vor einem Jahr, als ich das letzte Mal hier war, habe ich gesehen, wieviel neu aufgebaut worden ist."
"Ja, unsere Stadt hat sich zum Vorteil verändert. Sie waren so lange fort, Fräulein Hoppe, wie wäre es, wenn Sie uns ein bißchen von Ihrem Aufenthalt in München und Berlin erzählen?"
Die eifrige Zustimmung der Klasse gab Christina den Antrieb. "Gern, nur wo fange ich an?" Sie überlegte kurz, während sie ihre Schultasche neben sich auf dem Fußboden abstellte. "Vielleicht mit der Schule in München, obwohl es davon nicht viel zu erzählen gibt. Vormittags hatten wir reguläre Schulstunden und Ballettunterricht, das heißt, der war nur für die Mädchen; die Jungen hatten zu der Zeit Sport. Die Nachmittage waren hauptsächlich mit Musikunterricht oder Konzertproben ausgefüllt. Am schönsten waren dann natürlich die Tourneen." Davon berichtete Christina nun ausführlicher, und mit leuchtenden Augen erzählte sie von ihrer ersten Theaterrolle als Gretel. "Das vorletzte Weihnachtsfest habe ich hier in Kiel verbracht, bis meine Mutter mich am 14Januar vergangenen Jahres nach Berlin brachte. Da bekam ich dann weiteren Unterricht..."
Dr.Paulsen unterbrach sie: "Während der Jahre in München waren Sie doch sicher auch ab und zu mal zu Hause?"
Christina verneinte schuldbewußt, denn sie hatte ihr Verhalten längst bereut. Die Reaktion der Klasse und des Lehrers war übereinstimmend: ihnen allen war es unverständlich. Ingas und Christinas Blicke trafen sich. Sie hat geschwiegen, dachte Christina, wobei sie an die Adoption und den Aufenthalt in der Nervenklinik dachte. "Dafür haben mich meine Eltern aber in Berlin besucht, denn dort hatte ich etwas Heimweh. Eigentlich weiß ich nicht mal warum, denn alle waren sehr nett zu mir. Jedenfalls zählte ich zum Schluß die Tage, bis ich endlich nach Hause fahren durfte. Jetzt bin ich richtig froh, wieder in meiner alten Klasse zu sein."
"Auch wenn Sie etwas Heimweh gehabt haben, werden Sie sich später vielleicht gern an Ihren Aufenthalt in Berlin erinnern, denn immerhin war dort der Beginn Ihrer Karriere."
"Es war ja nur reiner Zufall", meinte Christina bescheiden, als hätte sie die Partie der Micaela in der Oper 'Carmen' weder ihrem Fleiß noch ihrer Stimme zu verdanken gehabt. Nein, man hatte sie einfach während des Gesangunterrichts dazu verpflichtet, und danach folgte gleich der Vertrag für die Hauptrolle in dem Film 'Karina'. "Wirklich, es waren nur lauter Zufälle. Der Regisseur Herr Knebel hörte mich in der Oper, und außerdem ist er ein Bekannter meiner Ballettlehrerin."
"Den Film werden wir uns natürlich alle gemeinsam ansehen", verkündete Dr.Paulsen zur Freude der gesamten Klasse. Dann wünschte er Christina weiterhin viel Erfolg, besonders nun auch hier in Kiel. Er hatte nämlich von ihrer Mutter erfahren, daß sie während der kommenden Spielzeit am hiesigen Stadttheater arbeiten würde, um nicht noch einmal den Schulunterricht unterbrechen zu müssen.
56

Glücklich ging Christina an ihren Platz. Mit einem derartig herzlichen Empfang hatte sie nicht gerechnet, und sie fühlte sich gleich wieder zu Hause. Sie freute sich, genau wie früher neben Inga zu sitzen. Überrascht lachte sie auf, als sie die vielen Zeitungsausschnitte auf ihrem Platz sah. Die meisten waren aus dem Film 'Karina' und zeigten sie mit schelmischem Lächeln und keckem Pferdeschwanz.
"Den Fotos nach dachte ich schon, du hättest dich seit unserem letzten Wiedersehen verändert", lachte Inga, die natürlich wußte, daß es nur Aufmachung war.
"Nein, ich bin immer noch die alte", sagte Christina, "nur habe ich jetzt hauptsächlich das Abitur im Kopf." Und leise fügte sie hinzu: "Ab heute können wir für den Rest unserer Schulzeit wieder viel zusammen sein." Die gegenseitige Vertrautheit zwischen ihnen hatte sich in all den Jahren nicht geändert.
57

DONNERSTAG, 17.7.1952
Im Freibad am bewaldeten Ufer des Dieksees herrschte vergnügtes Treiben. So eine Superferienstimmung, und sie selbst mittendrin, freute sich Christina. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille, um nicht als 'Karina' aus dem vor wenigen Wochen in den Kinos angelaufenen Film erkannt zu werden.
Mit ausgestreckten Beinen auf dem Badetuch sitzend, schaute sie auf den See hinaus. Die Sonnenstrahlen der glühenden Mittagssonne glitzerten auf dem Wasser, ein fast still in der kaum spürbaren Brise daliegendes Segelboot wurde von einem Ruderer überholt. Dort draußen war ein himmlischer Frieden. Der Dieksee und Malente waren schon vor dem Krieg für den Vater der Inbegriff erholsamer Ferien gewesen. Draußen auf dem Wasser konnte man die nötige Ruhe wohl finden, aber hier? Christina warf einen Blick über die eingezäunte, dicht bevölkerte Sandfläche und die sich vorn im Wasser tummelnden Menschen. Ob Vater auch weiterhin die hiesige Ruhe preisen würde? Sie sah ihn fragend an. Doch anscheinend ungerührt vom Trubel, schien er über seiner Lektüre eingeschlafen zu sein, die noch aufgeschlagen auf seiner stark geröteten Brust lag. Auch die Mutter, im schwarzen Badeanzug bäuchlings neben ihm, schien ungestört Kreuzworträtsel zu lösen.
"Sohn des Agamemnon mit sieben Buchstaben?"
"Keine Ahnung", antwortete Christina.
"Orestes", murmelte der Vater, ohne die Augen zu öffnen.
Christina grinste; also doch zu viel Leben um ihn herum? Sie zog sich gerade die von den Schultern gestreiften Träger ihres schlichten, dunkelblauen Badeanzugs wieder hoch, als sie angenehm kühle Wasserspritzer verspürte. Ein kleines Mädchen lief, einen mit Wasser gefüllten Sandeimer schwenkend, vorbei. Auch die Mutter schien etwas abbekommen zu haben; sie strich sich über ihre noch blassen, kräftigen Oberschenkel, die vom Sonnenöl glänzten. Dann schob sie sich ihr buntes Chiffontuch, das einen Teil ihrer grauen Haare bedeckte, weiter in die Stirn.
"Orestes stimmt", sagte sie.
Christina duckte sich; ein Ball sauste über sie hinweg, den sie mit den Augen noch verfolgte. Dabei fiel ihr am entgegengesetzten Ende des Freibads wieder der Junge auf, dessen fortwährendes Vor- und Zurückpendeln auf der Schaukel schon vorhin ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Der muß bereits einen Sonnenstich haben, amüsierte sie sich. Doch dann stutzte sie; das kann doch nicht wahr sein, niemals. Und wenn er es doch ist? Mit einem Ruck erhob sich Christina. "Ich komme gleich wieder."
So unauffällig wie möglich schlenderte sie am Wasser entlang zur Schaukel. Beim Näherkommen bestätigte sich ihre Vermutung. Es war tatsächlich Günther Zieglitz. Ausgerechnet hier?
Der fast dreizehnjährige Blondkopf hatte sie noch nicht bemerkt, als sie jetzt neben der Schaukel stehen blieb. "Der See hier, junger Mann, ist nicht das Mittelmeer, obwohl die Sonne dort vielleicht auch nicht heißer scheint als heute hier."
Erstaunt sah er zu ihr hoch: "Hoppe, du?"
"Wie du siehst. Du sitzt da wie eine Trauerweide, oder besser gesagt, wie nach einer Beerdigung"
"Da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen", stimmte Günther zu.
"Beerdigung? In Malente?"
"Nein, in Kiel."
Christina erschrak; etwa der Vater oder die Mutter? Sie traute sich nicht, zu fragen.
58

Günther sah sie traurig an und fragte dann: "Du kennst doch noch unseren Felix?"
"Die Dogge?"
"Ja, Felix mußte eingeschläfert werden, er war plötzlich krank geworden. Wir waren gerade zwei Tage auf Mallorca, als unsere Köchin anrief."
"Das tut mir leid." Christina wußte, daß Felix und er gute Freunde gewesen waren. Günther war ein Einzelgänger, ruhig und verschlossen, ganz der Gegensatz seiner vierzehnjährigen Schwester Eleonore, die nicht grundlos Winnie genannt wurde. "Winnie ist bestimmt noch auf Mallorca?" fragte sie.
"Nee", er schüttelte seinen Wuschelkopf. "Die sitzt da drüben", er wies in Richtung Eingang. "Siehst du, wo die alte Frau sitzt? Ja, da. Die alte Frau ist übrigens meine Großmutter."
"So." Christina überlegte, ob sie in dem Fall überhaupt hinübergehen sollte. "Seid ihr alle zurückgekommen?"
"Nur meine Mutter nicht. Wir fliegen übermorgen auch wieder hin. Ich sag dir, das sind vielleicht mistige Ferien." Er verzog das Gesicht. "Was machst du in Malente?"
"Ferien", antwortete Christina.
"Allein?"
"Nein, mit meinen Eltern. Ich glaube, ich geh mal zurück, sonst denken sie, ich sei ertrunken."
"Und Winnie?"
"Die seh ich anschließend. Also bis später", sie winkte ihm zu und machte rasch kehrt.
Dicht am Wasser, zwischen den vielen Menschen untergetaucht, setzte sie sich nieder. Kopfschüttelnd grub sie ihre Füße in den warmen Sand. Einen Flug zur Beerdigung eines Hundes, das konnte sich auch nur Maschinenfabrikant Zieglitz leisten, dachte Christina. Dieses 'eben mal Hin- und Herfliegen', wie eine Straßenbahnfahrt von einem Ende der Stadt zum anderen, erschien ihr unglaublich. Wie war es überhaupt jemals zu dieser Freundschaft mit Winnie gekommen?
Christina erinnerte sich an ihren ersten Schultag nach der Rückkehr aus Berlin, als Winnie ihr in der Pause mit dem freudigen Ausruf: 'He, Hoppe, kennst du mich noch?', auf den Rücken getippt hatte. Und ob sie sie wiedererkannt hatte. Damals, beim gemeinsamen Ballettunterricht in Kiel, hatte der zwei Jahre jüngere Wildfang sie zum Vorbild genommen. Seitdem waren einige Jahre vergangen, und Winnies burschikose, etwas dreiste Art war unverändert geblieben. Nein, die erhoffte Anmut hatte sie beim Ballettunterricht nicht erreicht. Seit damals jedenfalls kannten sie sich. Sie wohnten in verschiedenen Stadtvierteln, aber Zufälle hatten sie oft zusammengebracht. Jetzt besuchten sie die gleiche Schule, und genau wie früher, hing Winnie an ihr wie eine Klette. Was mochte sie nur diesmal so faszinierend an ihr finden? Vielleicht die Theater- und Filmwelt?
Christina dachte an Winnies Geburtstagsfest Ende Mai. Es war ihr erster Besuch in der Zieglitz Villa gewesen. Diese Möbel und der Wohlstand! Diese vornehmen Menschen! Wie paßte Winnie mit ihrer ungehemmten Art überhaupt in einen solchen Rahmen? Äußerlich hatte sie Ähnlichkeit mit ihrem Vater, aber mit seiner weltmännisch geschliffenen Wesensart hatte sie absolut nichts gemein. Und noch viel weniger mit der charmanten Mutter, einer großen schlanken Schönheit, mit kurzen, gewellten, hellblonden Haaren. Frau Zieglitz war eine Dame, die man respektierte.
Obwohl das Ehepaar Zieglitz sich ihr gegenüber äußerst freundlich benommen hatte, fühlte Christina eine Schranke zwischen ihnen; ein persönliches Empfinden, das sie nicht erklären konnte. Sie fühlte sich in ihrer Nähe nicht wohl, was bei Winnie umgekehrt nicht der Fall war. Sie besuchte sie immer häufiger, manchmal zusammen mit Günther, nur leider stets unangemeldet und gewöhnlich zur unpassenden Zeit. Den Eltern gefielen die Zieglitz Kinder. Klar, Winnie war mitunter recht unterhaltsam und aufmunternd, dennoch würde zu ihr nie
59

eine vergleichbare Freundschaft wie mit Inga entstehen. Der Altersunterschied gab Christina eher das Gefühl, Winnie mit Vernunft voranzugehen, ihr ein gutes Beispiel zu sein und sie zu zügeln, wenn der Übermut mit ihr durchging.
Verspielt zog Christina ihre großen Zehen durch den Sand. Wie mochte sich wohl Winnies Großmutter in so einem Volksbad vorkommen? Bestimmt erfüllte sie nur den Wunsch der Enkelkinder, denen fast nie eine Bitte abgeschlagen wurde, dachte sie, als ihr plötzlich kaltes Wasser den Rücken runter rieselte. Erschreckt schaute sie sich um.
Hinter ihr stand Winnie. "Du müde Tomate, weißt von meinem Bruder, daß ich hier bin und verziehst dich."
"Was heißt verziehen? Ich sitze hier."
"Und dank meiner Spürnase habe ich dich gefunden, sonst hättest du dich heimlich, still und leise ..." Winnie schüttelte die Tropfen aus ihrer Badekappe. Ihre langen blonden Haare waren hochgesteckt, und sie trug einen buntgeblümten Bikini, der von ihrer braungebrannten Haut abstach. Ihren Hals zierte ein goldenes Kettchen, am linken Ringfinger steckte ein goldener Ring mit zwei Rubinen. "Sag, warum muß ich immer hinter dir herlaufen?"
"Du bist nicht alleine", entgegnete Christina.
"Du heiliger Bimbam, meine Großmutter, jetzt mach aber nen Punkt. Sie ist kein bissiger Hund, sondern eine harmlose alte Frau, und die wirst du jetzt kennenlernen. Also stell dich auf deine zwei Hölzer und komm", mit dieser Aufforderung zog Winnie sie am Arm hoch.
Widerstandslos ließ Christina sich mitziehen. "Die Sache mit Felix, Winnie, tut mir leid."
"Er hat seine gesegnete Ruhe. Es ist Günther, der mir leid tut. Du kennst ihn ja, für ihn sind das alles Katastrophen, und jede Katastrophe ist ein Weltuntergang. Übermorgen fliegen wir wieder zurück nach Mallorca. Trost von Muttern ist für Günther die wirksamste Medizin."
Nun standen sie vor einer älteren, korpulenten Dame im schlichten silbergrauen Seidenkleid, die ihre bestrumpften Beine auf einem bunten Handtuch ausgestreckt hatte. Unter einem breitrandigen Strohhut schaute ein etwas rundliches Gesicht mit einer auffallend langen, leicht gebogenen Nase hervor. Freundlich lächelnd musterte sie die beiden Mädchen.
"Erinnerst du dich noch an den Film 'Karina', Großmama, von dem ich dir erzählt habe?" plapperte Winnie drauflos.
"Pst, Winnie, nicht doch", bat Christina ungehalten. Höflichkeitshalber setzte sie sich aber die Sonnenbrille ab.
Winnie nahm von ihrer Bitte keine Notiz; sie konzentrierte sich ganz auf die Antwort der Großmama, eine zaghafte Verneinung, die ebensogut eine vage Bestätigung hätte sein können. Und als genau das faßte Winnie sie erfreut auf: "Dacht ich mir. Hier ist sie, Karina, der Star des Films. So, und das ist meine Großmama, Frau Eggert."
"Frau Eggert, bleiben wir lieber bei Christina, Christina Hoppe", sagte Christina und warf Winnie einen bösen Blick zu.
"In einer Woche wird sie sechzehn", fügte diese ungerührt hinzu, während Frau Eggert und Christina sich grüßend die Hand gaben.
"Anerkennenswert, noch so jung und bereits voll beschäftigt", lobte die alte Dame.
"Und jetzt singt sie in Kiel ihre erste Opernpartie. Deswegen werde ich aber nicht plötzlich zur Opernliebhaberin", sagte Winnie und wandte sich Christina zu. "Deine Margarethe-Noten hast du hoffentlich, solange du Ferien machst, an den Nagel gehängt?"
"Nein, sie liegen hier in unserer Pension. Die Wirtin hat Gott sei Dank ein Klavier und außerdem viel Verständnis."
Winnie verzog das Gesicht. "Für die lustige Karina-Partie könnte ich das ja noch verstehen. Aber sich auch noch in den Ferien mit dieser ledigen, schwangeren Margarethe abzuplagen, noch dazu eine erdichtete Tragödie ... "
60

"Aber eine Tragödie, die auch im wirklichen Leben vorkommt, selbst in den besten Familien", flocht Christina ein.
"Eleonore!" Freundlich aber bestimmt wies die Großmutter ihre Enkelin zurecht.
Christina fühlte sich in diesen Verweis mit einbezogen, so als hätte sie mit ihrer Bemerkung eine empfindliche Seite dieser Gesellschaftsschicht berührt. Wenn sie wüßten, daß sie, Christina Hoppe, selbst das Erzeugnis einer solchen Familie war! "Entschuldige, Winnie", unterbrach Christina den weiteren Wortwechsel zwischen den beiden, "ich muß zu meinen Eltern zurück, sonst denken sie noch, der See hätte mich verschluckt."
"Das werden sie gar nicht, denn Günther ist bei ihnen."
Christina schaute sie überrascht an. "Trotzdem, Winnie. Frau Eggert, es war nett Sie kennenzulernen", verabschiedete sie sich kurz entschlossen, und setzte sich die Sonnenbrille wieder auf.
Winnie lief hinter ihr her. "Na, du lebst ja noch", sagte sie triumphierend, als sie sich ein gutes Stück entfernt hatten. "Sie hat dich also nicht gefressen, he? Ich werde dafür sorgen, daß sie es das nächste Mal nachholt. Sie wohnt nämlich jetzt bei uns."
Christina überhörte Winnies Geschwätz. "Machst du holdes Wesen mich noch einmal mit jemandem bekannt: mein Name ist nach wie vor Christina Hoppe, und Bemerkungen über die Margarethe, die schenkst du dir in Zukunft besser. Und was deine Großmutter anbetrifft, kann ich nur sagen, daß sie eine nette Frau ist."
"Das weiß ich. Es war ihre Idee gewesen, nach Malente zu fahren. Sofortiger Tapetenwechsel als Gemütstherapie für Günther."
Während sie mit Winnie an den vielen Menschen vorbeitrottete, dachte Christina daran, daß nun garantiert zwei Ferientage ohne Langeweile bevorstanden. Eigentlich hätte sie noch Briefe an Liselotte, Gerlinde, Bärbel und Gabi schreiben wollen. Als sie Winnie davon erzählte, meinte die, daß doch zwei Tage nichts ausmachen würden.
"Hast Recht", stimmte Christina ihr zu. Die vier hatten schon seit ihrer Erkrankung in München nichts mehr von ihr gehört, da kam es auf ein paar Tage mehr auch nicht an. Außerdem war es sowieso recht unwahrscheinlich, daß sie sich bei der weiten Reise mal wiedersähen. Würde die Mutter ihr doch nicht immer wieder ins Gewissen reden! Aber seit man den Eltern ihre ganze Post von München ausgehändigt hatte, kamen immer wieder Fragen: Wie alt ihre Freundinnen seien, wie sie aussähen, wo sie herkämen, ob sie noch Eltern oder Geschwister hätten, sogar ob sie hübsche Vornamen hätten; Fragen über Fragen. Meine Güte, wer bindet einem schon seine ganzen Vornamen auf die Nase, besonders wenn so altmodische dabei waren wie bei ihr: Helene, Christina Helene.Wie schrecklich!
"Also?" riss Winnie sie aus ihren Gedanken. "Deinen Tatendrang zum Schreiben; kannst du ihn mir zuliebe noch zwei Tage bändigen?"
"Weil du es bist! Hoffentlich schätzt du mein Opfer", grinste Christina. Ihr war jede Ausrede willkommen, um nicht schreiben zu müssen. Außerdem sollte sie am zweiten August einige neue Kollegen kennenlernen, und bald danach würden Schule, Proben und die Aufführungen ihre Zeit verschlingen. Warum dann nicht vorher noch ein bißchen Ausgelassenheit.
Entschlossen warf sie den Kopf in den Nacken und schnalzte unternehmungslustig mit den Fingern: "Wie wär's mit einem Wettschwimmen, Winnie? Hast du Lust?"
Und ob sie Lust hatte.
61

SONNABEND, 2.8.1952
Der 'Kleine Kiel'? Das Rathaus? Ach Gott, ich bin zu weit gefahren, stellte Christina erschrocken fest. Doch es gelang ihr, trotz bereits gegebenem Abfahrtssignal, die Straßenbahn noch zu verlassen, die dann quietschend und ratternd weiterfuhr.
Christina war keineswegs böse darüber, eine Station zurücklaufen zu müssen. Im Gegenteil, der Spaziergang am 'Kleinen Kiel' entlang würde sie entspannen, denn die Eindrücke von dem Treffen mit einigen neuen Kollegen, von dem sie gerade kam, beschäftigten sie sehr. Christina Hoppe als Margarethe in der Oper 'Faust', wie herrlich das klang! In ihrem duftigen, buntgeblümten Sommerkleid, durch Sonnenbrille und Kopftuch getarnt, fühlte sie sich unerkannt und beschwingt. Es war ein warmer Sommertag, der die Menschen aus den Häusern lockte. Fußgänger eilten vorüber, andere gingen spazieren oder fütterten die Enten, die in kleinen Scharen auf dem glitzernden Wasser des Kleinen Kiels schwammen.
Von der Brüstung des Martensdammes aus sah Christina dem Treiben der Enten zu, als plötzlich hinter ihr jemand fragte: "Haben Sie Enten gern?" Sie erkannte die Stimme sofort, oder besser den leichten italienischen Akzent. Sie mußte lachen, denn der Mann mimte einen Unbekannten und schaute dabei todernst auf das Wasser hinunter, als hätte er nicht sie, sondern die ältere Frau gemeint, die an der anderen Seite stand und ihm sogleich begeistert auf Plattdeutsch antwortete. Christina antwortete ihm ebenfalls: "Ja, ich habe Tiere sogar sehr gern. Sie auch?"
Der Mann wandte sich ihr nun zu und sagte: "Es kommt darauf an, was für welche es sind."
"Zum Beispiel?" fragte sie.
"Oh... " Er spitzte seinen Mund und zog die Stirn nachdenklich in Falten. Dann lächelte er sie verschmitzt an: "Zum Beispiel hübsche blonde langhaarige mit blauen Augen."
Christina spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Der Mann neben ihr war Luigi Apuzzo, ihr Partner in der 'Faust' Aufführung. "Pst, nicht so laut, ich will nicht, daß jemand auf uns aufmerksam wird", bat sie in gedämpftem Ton, während sie mit verstohlenem Blick um sich schaute. "Warum sind Sie mir gefolgt?"
Er schüttelte energisch den Kopf: "Das bin ich ganz und gar nicht. Ich wollte mir das Zentrum ansehen und bei der Gelegenheit ein nettes Restaurant suchen, statt dessen traf ich hier meine bisher jüngste Partnerin, bei den Enten."
"Die streiten sich ums Brot", sagte Christina. "Offen gestanden, Marion Haas gegenüber habe ich ein schlechtes Gewissen bekommen."
"Warum?" fragte er erstaunt.
"Naja, ich habe ihr doch praktisch auch das Brot genommen, weil ich nun... " Apuzzo unterbrach sie: "Weil sie zuerst für die Margarethe vorgesehen war? Mama mia! Sie hatte den Vertrag doch noch überhaupt nicht. Sie werden mit der Zeit auch noch abgehärtet."
"So?" seufzte Christina. Sie sah ihn nachdenklich an und spürte, wie fasziniert sie von seinem südländischen Aussehen war, von seinen schwarzen Haaren, den dunkelbraunen Augen, dem dunklen Teint und nicht zuletzt von seinem Charme. "Wie kommt es nur, daß Sie als Italiener so gut Deutsch sprechen?"
"Es könnte manchmal etwas besser sein, aber danke für das Kompliment. Ich besuchte früher zwei Jahre lang eine Schule in Frankfurt, und danach habe ich viel Deutsch gelesen. Übrigens habe ich gehört, daß Sie sich zur Zeit mit Italienisch abplagen."
"Abplagen, ja, das ist wohl der richtige Ausdruck", sagte Christina. "Aus den
62

Anfangsschuhen werde ich wohl nicht herauswachsen."
"Wissen Sie was? Sprechen wir doch einfach jeden Tag etwas Italienisch, zur Übung", schlug Luigi vor.
"Keine schlechte Idee, nur werde ich bestimmt alles falsch verstehen", meinte Christina zweifelnd.
"Anfangs vielleicht, meine kleine Margarethe hat dann immer eine gute Ausrede, wenn etwas schiefgeht", sagte er und schaute Christina lächelnd an.
"Etwas?" lachte sie. "Aber gut, ich bin einverstanden. Wissen Sie, es wundert mich, daß Sie, wo Sie doch von der Mailänder Scala kommen, ausgerechnet an dieser kleinen Bühne singen."
"Und wie kommt es, daß die Karina, die zur Zeit das Kinopublikum erobert, ein weiteres Filmangebot ablehnt, um auf dieser Bühne zu singen?" entgegnete Luigi schlagfertig.
"Das hat verschiedene Gründe. Einmal singt die Karina gerne Opern, noch dazu wenn sich ihr die Chance bietet, die Partie der Margarethe zu singen. Und obendrein hier in Kiel, wo sie nämlich erst mal die Schule beenden möchte. Durch die Proben wird sie sowieso wieder viele Stunden versäumen. Damit die Zensuren aber nicht allzu sehr darunter leiden, bekommt sie privat einige Unterrichtsstunden von einem jungen Studienrat, einem Bekannten der Rektorin." Plötzlich stutzte Christina: "Eigenartig, er hat sogar ein bißchen Ähnlichkeit mit Ihnen."
"Mit mir?" interessiert schaute Luigi sie an. "Darf man fragen, inwiefern?"
"Hm, zum Beispiel die dunklen Augen und die Haare. Das heißt, seine Haare sind eher tief dunkelbraun. Naja, so insgesamt hat er halt Ähnlichkeit mit Ihnen, nur ist er größer und schlanker." Auch den gewissen Charme hat er, aber das fügte Christina nur in Gedanken hinzu.
"Und die Karina schwärmt für ihn?" wollte Apuzzo nun wissen.
"Für Gessler? Um Gottes willen! Er ist zwar sehr nett, aber er hat nur Bücher im Kopf, und ich glaube, die liest er sogar noch nachts im Schlaf."
"So etwas kann mitunter täuschen."
"Bei dem bestimmt nicht!" lachte sie. "Jedenfalls wären das die Gründe der Karina, und darf man fragen, welche Gründe Faust hat?"
"Ja, welche eigentlich?" Luigi überlegte. "Georg Haller und ich sind gute Freunde, und wie kann man einem guten Freund absagen, wenn er einem ein Angebot mit einer so überaus zauberhaften jungen Partnerin macht?"
"Und das Schwindeln scheint dem Faust auch nicht schwer zu fallen", sagte Christina belustigt.
"Aber", entgegnete Luigi gespielt entrüstet.
"Übrigens schauen Sie mal dort hinüber", sie wies auf eines der Gebäude hinter den hohen Laubbäumen am gegenüberliegendenUfer, "da steht das alte Stadttheater, oder richtiger gesagt, die Ruine des alten Theaters... "
"Und wenn nichts dazwischenkommt, wird es im nächsten Jahr wieder eröffnet", setzte Luigi ihre Erklärung fort.
"Schade, ich dachte, ich kann Ihnen etwas Neues erzählen."
"Enttäuscht? Das tut mir leid."
"Nein, eigentlich nicht", erwiderte sie kopfschüttelnd. "Jedenfalls freue ich mich schon auf den Tag, wenn wir das Schauspielhaus verlassen und sich hier der Vorhang wieder öffnet."
"Und die Karina dann das Publikum bezaubern kann", warf er ein.
"Schwindler! - Verzeihung; aber das habe ich nicht gesagt und auch nicht sagen wollen. Allerdings wäre es schon mein Wunsch, dabeizusein", fügte sie hinzu. "Für mich bedeutet nun mal das Kieler Stadttheater genausoviel wie für Sie die Mailänder Scala. Oh! Hören Sie?
63

Ist das nicht hübsch?" Vom Rathausturm klang das Glockenspiel zu ihnen hinüber.
Leise zitierte Apuzzo die dazugehörenden Verse: "Kiel hat kein Geld, das weiß die Welt..."
"Also auch schon bekannt. Kein Geld, und trotzdem schießen überall die Gebäude aus dem Erdboden. Kiel blüht auf! Das verdanken wir unserem Bürgermeister. Nach dem Krieg sah die Stadt so trostlos aus, aber ich habe Kiel immer geliebt; es ist halt meine Heimatstadt. Ach, um Gottes willen, der Hut!" fiel es Christina jetzt ein. "Ich muß noch zur Bergstraße und den Hut für meine Mutter abholen. Sonnabends schließt das Geschäft eher. Und eine Gratulationskarte muß ich auch noch kaufen, denn meine Ballettlehrerin in München hat zu ihrem Jungen nun auch noch ein Mädchen bekommen. Es tut mir leid, aber ich muß mich verabschieden."
"Noch nicht", mit einem Lächeln sah Luigi sie an. "Ich komme mit; natürlich nur, wenn's recht ist."
Doch gerade, als sie ihren Weg antreten wollten, bremste direkt vor ihnen ein schwarzer Mercedes. Das farbenfreudige Hemd des Fahrers deutete sofort auf Georg Haller, der sich trotz überschrittener Jugend gern sehr bunt kleidete. Natürlich, er war es; Dirigent Georg Haller mit seiner Frau. Sie waren auf dem Weg zu einem Restaurant und baten Christina und Luigi, sie zu begleiten.
Christina versuchte, sich herauszureden; doch vergeblich. Bei dem Hutgeschäft würden sie einfach kurz vorbeifahren, bestimmte Herr Haller. Und so war es dann auch; nach dem kleinen Umweg über die Bergstraße fuhren sie zum Strandhotel nach Laboe, einem der beliebten Badeorte Kiels.
"Da wären wir, ein ungestörter Platz, eine herrliche Aussicht auf den Strand und das Wasser, was will man noch mehr?" stellte Georg Haller befriedigt fest, als sie auf der Veranda Platz nahmen.
Die Preise auf der Speisekarte jedoch ließen Christina den Anblick des fröhlichen Treibens am Strand rasch vergessen. Wie konnte sie da nur eine bescheidene Wahl treffen? Sie las die Preise von oben nach unten und wieder von unten nach oben, während Hallers und Luigi bereits eine vernehmbar schwere Wahl zwischen Rouladen und Kalbsbraten zu treffen versuchten.
Georg Hallers entscheidendes Wort fiel: "Also gut, nehmen wir das gleiche, dreimal Rouladen. Und du, Christina?"
Verlegen schüttelte sie den Kopf. "Ich weiß nicht, ich, ja, ich hätte gern ein Stück Kuchen und ein Glas Milch dazu; Milch ist nämlich gesund", fügte sie unsicher hinzu.
"Daß Milch gesund ist, bestreitet zwar niemand, aber zum Mittagessen Kuchen? Nein -viermal Rouladen", entschied der Dirigent.
Frau Haller war über Christinas Zurückhaltung verwundert. Von anderen Künstlern kannte sie so etwas nicht. Vor allem fand sie zwischen ihr und der spitzbübischen temperamentvollen Karina nicht die geringste Ähnlichkeit. Jetzt verstand sie auch ihren Mann, der sich Christina gegenüber recht väterlich verhielt. Ganz anders als Luigi, der gar zu auffallend den Kavalier spielte. "Wie ich hörte, wurdest du vor kurzem sechzehn Jahre alt", wandte sich die ältere Dame an Christina.
"Ja, gestern vor einer Woche", antwortete sie.
"Alle Achtung, noch so jung und schon die Margarethe."
"Bei der Stimme und dem Aussehen... ", pries Luigi, sehr zu Christinas Verlegenheit, aber auch zu ihrer heimlichen Freude.
"Na, na, na, den jungen Mädchen den Kopf verdrehen? Davon rate ich ab", mahnte der Dirigent lachend.
64

"Luigi, ist Ihre Jüngste nicht auch sechzehn geworden?" fragte Frau Haller.
"Oh, gnädige Frau, Sie machen mich ja noch älter als ich bereits bin. Nein, sie wird in zwei Wochen fünfzehn."
Schon so große Kinder? Wie alt mag er nur sein, dachte Christina leicht enttäuscht. Aber mehr als das Alter ihres Kollegen interessierte sie im Augenblick die Atmosphäre um sie herum, die sie an die Ferien in Malente erinnerte, wenn auch das dortige Volksbad nicht gerade mit diesem Strand zu vergleichen war. In der von der Sonne glitzernden See tummelten sich Badefreudige, und an dem dicht bevölkerten Strand herrschte munteres Treiben. In der Ferne wurde ein Fährschiff sichtbar, das weitere Urlauber von Kiel herüber brachte. Es machte Spaß, sich das alles anzuschauen, aber dazugehörig fühlte sich Christina nicht. Weder bei den Gesprächen der Erwachsenen, denen sie sich nicht gewachsen fühlte, noch beim unbeschwerten Leben am Strand. Abgesehen von der Schule und den Hausaufgaben bestand ihre Welt nur noch aus Stimmübungen, Balletttraining und dem Einstudieren neuer Rollen. Christina wußte, daß ihr noch sehr viel harte Arbeit bevorstand.
Christinas Erfolg in der 'Faust' Aufführung war überwältigend. Brausender Applaus, Blumen, eine hervorragende Kritik in den 'Kieler Nachrichten' mit der Prophezeiung einer großen Karriere. Trotz aller Erfolge beharrte Christina aber auf ihrem Grundsatz, Gelungenes noch zu verbessern und das Erreichte weiter zu steigern, solange diese Glückssträhne ihr Leben zeichnete.
Aber auch privat fühlte sie sich vom Glück verwöhnt. Hatten Luigis übertriebene Komplimente sie anfangs noch amüsiert, so hatten sie ihr sehr bald nur noch geschmeichelt. Dazu sein südländischer Charme und sein gutes Aussehen, da halfen letzten Endes auch Herrn Hallers wiederholte Ermahnungen nicht mehr. Der große Altersunterschied zwischen ihnen und die Tatsache, daß Luigi verheiratet war, spielten für Christina keine Rolle mehr. Sie war in ihn verliebt und genoß seine Großzügigkeit; allein das viele Marzipan, mit dem er sie zu jeder Gelegenheit überraschte. Wie schnell hatte er ihre Schwäche dafür erkannt. Nach der ersten 'Faust' Aufführung war es gar eine ganze Marzipantorte gewesen. Diese Torte, Luigis Gegenwart und der unerwartete Besuch einiger Klassenkameradinnen hatten an jenem Abend in Christinas Garderobe zu einer sehr ausgelassenen Stimmung geführt.
Die Teenager verehrten den Sänger und beneideten Christina, die wiederum die große Beachtung genoß. Warum auch nicht? Sie war jung, verliebt, ihre Popularität stieg. Sie fühlte sich in einer Welt, in der ihr trotz Regen täglich die Sonne schien - bis eines Tages aber doch graue Wolken am Horizont aufzogen.
65

DIENSTAG, 10.3.1953
Knapp sechs Wochen waren seit der letzten 'Faust' Aufführung vergangen. Herr Hoppe hatte zunächst weitere Bühnen- oder Filmverträge abgelehnt. Christina sollte sich ganz und gar auf ihre Schulpflichten konzentrieren, denn schließlich kam im folgenden Jahr das Abitur auf sie zu.
Es war für Christina aber eine große Enttäuschung, deshalb nicht an den Eröffnungsaufführungen des wiederaufgebauten Stadttheaters mitwirken zu dürfen. Doch der Vater beharrte unerbittlich auf seinem Standpunkt: erst die Schule beenden, dann den Beruf weiter ausüben.
Vielleicht war es auch besser so, denn wie hätte sie sich Luigi gegenüber verhalten sollen, falls er zu der Zeit ebenfalls wieder hier in Kiel unter Vertrag stünde? Beim Abschied war er plötzlich ganz betont stolzer Vater dreier erwachsener Töchter gewesen. Ja, er war Ehemann und Vater, hatte Frau Haller sie nicht beizeiten darauf aufmerksam gemacht? Was war nur in sie gefahren? Erst Schwärmerei, dann Liebe. Ja, verliebt war sie gewesen, erstmals so richtig verliebt. Was hatte sie von ihm erwartet? Eine Scheidung? Niemals! Außerdem war sie noch viel zu jung zum Heiraten. Aber sie liebte ihn. Und hatte nicht er ihr seine Liebe hoch und heilig versichert, gerade am Abend vor seiner Abreise? Oh, wenn die Eltern das jemals erfahren würden! Warum hatte Luigi sie dann nach diesem Abend beim Abschied auf dem Bahnhof wie eine nur flüchtig bekannte Kollegin behandelt? Eine Frage, die Christina sich seither täglich mehrmals stellte. Und Inga konnte sie sich nicht anvertrauen, denn zwischen Verliebtsein und Sichgeben war für Inga eine unüberschreitbare Grenze.
Das häufige Zusammensein mit ihr, mit Winnie und anderen Freundinnen lenkte Christina immerhin etwas ab. Sie mußte sich damit abfinden, neben den täglichen Stimm- und Ballettübungen nun ausschließlich Schülerin zu sein. Eine Schülerin allerdings, die weiterhin sehr beliebt und bekannt war, und sie genoß diese Achtung. Wenn sie nur Luigi ganz vergessen könnte! Und wenn sie in letzter Zeit nicht eine lästige Übelkeit verspüren würde, wegen der die Eltern sie obendrein noch zum Arzt schicken wollten! Was für einen Befund erwarteten sie? Eine Bestätigung der einzig plausiblen Erklärung: Nachwirkung wochenlanger Anstrengungen? Vielleicht würden sie dann endlich beruhigt sein.
Die Diagnose des Arztes war ein Schock! Christina war schwanger. Die Eltern bemühten sich, es mit Fassung zu tragen. Die Schwangerschaft durfte zunächst keinesfalls an die Öffentlichkeit dringen; die Schule mußte unter allen Umständen weiter besucht werden, zumindest während der ersten Monate. Für die letzten mußte man sich etwas einfallen lassen.
Am folgenden Tag kostete es Christina einige Anstrengungen, sich unbeschwert in der Klasse zu verhalten. Sie war ängstlich, daß man ihr etwas anmerken könnte. Außerdem fühlte sie sich elend, weil sie am Morgen wieder nichts hatte essen können.
Der heutige Unterricht begann mit einer Deutschstunde bei Dr. Paulsen. "Zwar haben wir noch nicht Frühlingsanfang, dafür aber die Hoffnung darauf, bemerkte der alte Studienrat, seinen Blick auf die Fenster gerichtet, an die ein kalter Wind den Regen peitschte. "Und gerade weil heute das Wetter so unfreundlich ist, kann die Hoffnung auf den Frühling am tiefsten in einem Frühlingsgedicht empfunden werden."
Diese Ansicht teilten nur sehr wenige seiner Schülerinnen mit ihm. Dr. Paulsen, ein Liebhaber der Poesie, konnte das Fehlen jeglichen Gefühls für die Dichtkunst absolut nicht verstehen. Selbst in all den Jahren war es ihm nicht gelungen, das Interesse seiner Schülerinnen dafür zu wecken. Aber er gab die Hoffnung nie auf.
Die Unlust der Mädchen kam meist in einem heruntergeleierten Vortrag zum Ausdruck,
66

und deshalb waren die Folgen für Christina unausweichlich; sie mußte jedes Gedicht vortragen, und jedes mußte darum bestens sitzen. Dir Vortrag war stets ein Genuß, die Worte saßen immer richtig, die Betonung war stets treffend und die Aussprache klar und deutlich. Dr. Paulsen sollte schließlich nicht enttäuscht werden. Und so war es auch heute morgen. Nachdem Erika Jansen sich mit dem üblichen Kommentar: 'nicht schlecht gesungen', wieder setzen durfte, mußte Christina nach vorne treten.
Dir Gesicht war blasser als sonst, wodurch sich die Schatten unter ihren Augen besonders stark abzeichneten. Christina stand neben dem Pult, die Leere ihres Magens immer deutlicher verspürend. Sie konzentrierte sich wenige Sekunden auf den Text, dann begann sie: "Gefunden, von Goethe... " Sie stockte. Nach einer kurzen Pause fiel der Anfang ihr wieder ein: "Ich ging im Walde so für mich hin... " Plötzlich tauchten dunkle Schatten vor ihren Augen auf. Zur Verwunderung des Studienrats und der Klasse begann Christina nochmals von vorne, aber auch jetzt kam sie nicht weiter. "Mir ist schwindelig", flüsterte sie, mit einer Hand am Pult Halt suchend.
Geistesgegenwärtig sprang Dr. Paulsen vom Stuhl auf und stützte sie. Auch Inga kam geschwind herbei, und gemeinsam führten sie Christina an ihren Platz zurück. Der Studienrat war sehr besorgt, und dachte daran, sofort die Eltern zu verständigen. Es erschien ihm zu riskant, Christina in diesem Zustand alleine nach Hause zu schicken. Selbst, als sie wenige Minuten später beteuerte, es ginge ihr schon besser, änderte er seine Meinung nicht und verließ die Klasse, um Hoppes zu benachrichtigen.
Christina war inzwischen abgeholt worden. Dr. Paulsen saß wieder am Pult, doch seine Gedanken waren noch bei dem im Rektorzimmer geführten Gespräch mit Frau Hoppe und der Rektorin, das ihn sichtlich beschäftigte. Ab und zu schüttelte er den Kopf und sein Blick wirkte abwesend. Unter den Schülerinnen herrschte bedrücktes Schweigen. Sie vermuteten eine wichtige Mitteilung, doch der Studienrat schwieg, bis es läutete und die Stunde zu Ende war.
Als Inga ihre Freundin am gleichen Tag besuchte, lag Christina bekleidet auf ihrem Bett, ihr Gesicht war verweint. Also doch krank, dachte Inga.
"Was hat Paulsen euch erzählt?" überfiel Christina sie sofort mit ihrer Frage.
"Paulsen? Was hätte er uns denn sagen sollen?" Inga erhielt keine Antwort. "Ich bin nur gekommen, um zu sehen, wie du dich jetzt fühlst."
"Ich bin vollkommen durcheinander", sagte Christina.
"Das merk ich. Warum eigentlich? Du warst gestern doch beim Arzt, bist du krank?" fragte Inga besorgt.
Christina schüttelte den Kopf, während sie einen prüfenden Blick zur Tür warf, die geschlossen war. "Ich bin nicht krank." Sie schob das Kissen gegen das Kopfende ihres Bettes und lehnte sich zurück. "Nein, krank bin ich nicht, aber ich fühle mich so lausig, daß ich die ganze Welt verwünsche. Unsere Freundschaft wird jetzt auch auseinandergehen."
"Unsere Freundschaft?" Verblüfft rückte Inga sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich langsam hin. "Was um Himmels willen ist los?"
Mit einem tiefen Seufzer überwand Christina sich, und leise, fast flüsternd sagte sie: "Um es kurz zu machen, Inga, ich bin schwanger."
Entsetzt starrte Inga ihre Freundin an. Luigi, war ihr erster Gedanke, in ihn war Christina verliebt. Nur, daß es so weit gegangen war... Inga atmete tief durch. "Das tut mir leid", mehr konnte sie nicht sagen.
Christina wäre es lieber gewesen, Inga hätte gar nichts gesagt, anstatt ihrer Meinung nach falsches Mitleid zu zeigen. Sie sah sehr wohl, wie sehr Inga sich bemühte, nach dem Schock eine gewisse Gelassenheit zu zeigen. Christina hätte sich am liebsten verkriechen mögen, aber sie überwand sich. "Da Paulsen offenbar der Klasse nichts gesagt hat, wissen es
67

nur er, meine Eltern, die Rektorin, der Arzt und du. Bitte, Inga, laß es niemand sonst wissen", bat sie flehend.
"Du weißt, daß du dich auf mich verlassen kannst", beruhigte Inga sie. "Nur, der Vater, weiß er etwas davon?"
"Vater?" Christina sah sie erstaunt an.
"Naja, dein Kind hat doch einen Vater."
Christina flüsterte etwas Unverständliches und schüttelte dann den Kopf: "Nein. - Doch. - Oh Inga, bitte frag nichts. Es ist alles so schrecklich; ach, ich weiß selber nicht, was über mich gekommen ist. Ich weiß nur noch, daß meine Eltern mich adoptiert haben, und ich ihnen nun ein weiteres Kind beschere. Ich möchte am liebsten im Erdboden versinken, aber das kannst du nicht verstehen."
Doch, Inga wußte genau, wie schwer Christina über die Adoption hinweggekommen war, und sie konnte sich jetzt vorstellen, was es bedeutete, plötzlich ein neues Problem bewältigen zu müssen: eine Schwangerschaft, ein uneheliches Kind, böse Zungen. Sie empfand Mitleid mit ihr, das stärker war als die Enttäuschung. Aber Mitleid allein war keine Hilfe. Was konnte sie tun? Vielleicht sollte sie mit Christina einfach über das Problem sprechen, so wie sie sonst auch immer offen über alles gesprochen hatten. Sie beobachtete ihre Freundin, die gedankenverloren an ihrem Tempotuch zupfte. 'Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.' hatte sie gesagt. Ihre Worte mußten stimmen, denn sie konnte sich doch all die Jahre nicht so in Christina getäuscht haben. "Im Vertrauen, Christina, war es Luigi?"
Beim Erwähnen des Namens blickte Christina erschrocken auf. "Wer sonst?" sagte sie verbittert. "Der Abschied am Abend danach war so schrecklich kalt."
Ja, der Abschied war Inga bereits bekannt. Erst jetzt konnte sie verstehen, wie tief der Schmerz wirklich gedrungen war. "Sag, Christina, was hat das alles aber mit unserer Freundschaft zu tun?"
"Mein Gott, da fragst du noch?" Christina schaute sie verzweifelt an.
"Etwa, weil du ein Kind erwartest? So ein Unsinn. Das ändert doch nichts an unserer Freundschaft! Ich kann dir nur nicht direkt helfen, so gern ich es auch täte", sagte Inga und ergriff tröstend Christinas Hände. "Sie sind heiß, hast du Fieber?"
"Das ist die Aufregung. Weißt du, ich habe fürchterliche Angst vor allem, was nun kommen wird. Ich wollte doch mein Abitur machen, mich in meinem Beruf weiter hocharbeiten, und statt dessen werden Skandalberichte die Zeitungen füllen. Von der Schule bin ich bereits geflogen."
"Was? Du bist geflogen?" fragte Inga ungläubig.
"Ja, von der Schule. Du siehst, ich bereite meinen Eltern nichts als Kummer, dabei wollte ich ihnen künftig nur noch Freude machen", sagte Christina resigniert.
Inga versuchte, ihr Mut zu machen: "Sobald alles überstanden ist, wirst du das auch wieder. Schließlich verlierst du dadurch nicht deine Stimme. Nach der Entbindung wirst du wieder singen und tanzen, glaub es mir."
Christina schüttelte den Kopf; sie sah ihr weiteres Leben in den düstersten Farben. Auch Ingas Beteuerungen, mit der Zeit würde Gras über die Sache wachsen, und was allein zählte, sei ihr großes Talent, konnten Christina nicht aufheitern. Sie war einzig darüber glücklich, daß die Freundschaft zwischen ihnen unberührt geblieben war.
Die Schultore blieben also künftig für Christina geschlossen. Deshalb mußte für Ablenkung gesorgt werden, die bekanntlich die beste Medizin gegen Niedergeschlagenheit ist. Herr Hoppe erinnerte sich an die in letzter Zeit abgelehnten Bühnen- und Filmangebote, und da Christina die Schwangerschaft vorläufig noch nicht anzusehen war, und Eingeweihte darüber schweigen würden, versuchte er, darauf zurückzukommen.
68

Er hatte Glück! Sein rascher Entschluß ermöglichte, den zuletzt angebotenen Vertrag doch noch abzuschließen. Die Dreharbeiten, wieder unter der Regie von Walter Knebel, sollten glücklicherweise schon bald beginnen und möglichst schnell abgeschlossen werden. Also optimale Bedingungen in Christinas Lage. Hoppes hätten zwar eine Komödie vorgezogen, aber Christina war von der ihr angebotenen Rolle fasziniert. Es wurde ausschließlich schauspielerisches Können verlangt, kein Gesang, kein Tanz. Es war die dramatische Darstellung einer Achtzehnjährigen, die sich wegen ungeordneter häuslicher Verhältnisse in einer frühzeitig geschlossenen Ehe ein glücklicheres Leben erhoffte, jedoch bald darauf einer Kinderlähmung erlag.
Christina war fest entschlossen, in dieser gewiß letzten Partie, dem endgültigen Finale ihrer gerade erst begonnenen Karriere, noch einmal ihr ganzes Können zu beweisen.
Und sie schaffte, was sie erreichen wollte. Ihre schauspielerische Leistung wurde hoch gepriesen, doch gleichzeitig erschienen in den Zeitschriften die ersten, längst befürchteten Skandalberichte über ihre Affäre und deren Folgen. Eine bittersüße Mischung aus Lob und Demütigung.
Um sie abzulenken bekam Christina nun wieder täglich Hausunterricht. Gessler war von seiner Reise durch England zurückgekehrt und hatte sich sofort angeboten, die Stunden wieder aufzunehmen. Ihre Eltern begrüßten das natürlich, während Christina, die den Pädagogen für einen wirklichkeitsfremden, besessenen Bücherwurm hielt, darüber keineswegs so glücklich war.
Mißmutig saß sie ihm am Wohnzimmertisch gegenüber und horchte auf das Trommeln der Regentropfen an die Fensterscheiben. Glücklicherweise war wenigstens die drückende Hitze nach dem starken Gewitter vom Vorabend abgeklungen.
Gessler blickte auf die Standuhr und sagte: "Fünf Minuten nach elf; machen wir eine kurze Pause." Sein Ton war freundlich aber bestimmt, und riß Christina schlagartig aus ihren Träumen.
Wieder mal waren ihre Gedanken abgeschweift, wieder mal hatte er hauptsächlich gegen die Wand geredet. Sie schob ihr Buch zur Seite, während Gessler sich erhob. Wie gewöhnlich ging er mit verschränkten Armen im Zimmer auf und ab. Diesmal machte er nur eine Runde und blieb am Klavier stehen. Interessiert schaute er sich die Fotografie von Hans-Jürgen an, die auf dem Klavier stand.
Christina liebte diese Aufnahme, die ihren Bruder genauso zeigte, wie er immer gewesen war: mit einem strahlenden Lächeln und großen, aufgeschlossenen Augen. Er hatte am liebsten Pullover getragen, denn Hemden und Krawatten waren ihm zu unbequem gewesen. Unwillkürlich verglich Christina Hans-Jürgen mit Gessler, den sie nur in tadellos sitzenden, meist hellgrauen Anzügen kannte, und der nie zwei Tage hintereinander dieselbe Krawatte trug.
"Gewiß Ihr Bruder?" fragte Gessler jetzt. "Sie sehen sich sehr ähnlich."
Die blonden Haare und das feingeschnittene Gesicht; das stimmt, dachte Christina, aber direkt ähnlich? "Meine Eltern haben manchmal gesagt, er sei wegen der geringen Familienähnlichkeit aus der Art geschlagen."
"Sie demnach auch", bemerkte er.
Diese Schlußfolgerung kam für Christina etwas überraschend. Verlegen zuckte sie die Achseln: "Es scheint so."
Gessler nahm von ihrer Antwort kaum mehr Notiz, da er sich in Gedanken bereits die richtigen Worte zurechtlegte, um mit ihr über etwas zu sprechen, was er nicht länger aufschieben wollte. In lässiger, selbstbewußter Haltung lehnte er sich rücklings gegen die Fensterbank und begann sehr überlegt zu sprechen: "Eines, Fräulein Hoppe, ist mir wirklich unklar. Sie haben neuerdings ein recht wechselhaftes Interesse am Unterricht. Manchmal ist absolut nichts aus Ihnen herauszubringen."
69

Christina schaute ihn prüfend an. Natürlich konnte sich der achtundzwanzigj ährige Junggeselle nicht vorstellen, wie es einer werdenden Mutter zumute war, für die hinter dem eventuellen Nachholen des Abiturs ein großes Fragezeichen stand, und der, da sie ledig war, mehr durch den Kopf ging als 'nur' ein gesundes Kind zu gebären. Doch ihm das klar zu machen hielt Christina für sinnlos. Ausweichend antwortete sie: "Ich weiß oft selbst nicht, was mit mir los ist."
Gessler sah sie ernst an. "Das kann ich Ihnen sagen: Sie sitzen den ganzen Tag in den vier Wänden. Ihre Mutter hat mir erzählt, daß Sie kaum noch die Wohnung verlassen, obwohl fast täglich herrliches Wetter war. Da hätten Sie an den Strand fahren sollen. Durch Zimmerluft allein kann man weder körperliche noch geistige Kraft schöpfen."
Christina fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. "An den Strand?" entgegnete sie spöttisch. Insgeheim ärgerte sie sich über die Redseligkeit der Mutter.
"Ich weiß, Ihr jetziger Zustand..., aber das ist kein Grund, sich bis zur Entbindung einzukerkern. Wenn alle schwangeren Frauen so denken würden!"
Himmel, spricht da der Pauker? fragte sich Christina. "Sie sprechen von Frauen", sagte sie.
"Ob ledig oder verheiratet, der physische Vorgang ist bei allen gleich. Sie sollten wirklich auf Ihre Gesundheit Rücksicht nehmen, zumal Sie noch sehr jung sind", erwiderte Gessler eindringlich.
Christinas Miene versteinerte sich. Es war ihr nur zu klar, daß sie noch 'sehr' jung war, aber mußte ausgerechnet er ihr das unter die Nase reiben?
Gessler beobachtete ihre Reaktion: hatte er etwa den richtigen Ton verfehlt und den Nagel zu direkt auf den Kopf getroffen? Unsinn. Schließlich war sie eine Schülerin, die einen Fehltritt begangen hatte. Allerdings hatte sie eine blühende berufliche Zukunft in Aussicht. Gott sei Dank zweifelte sie zur Zeit daran. Sie könnte eines Tages eine hochbezahlte Darstellerin sein, und dabei war sie in ihrem Alter noch durch pädagogische Autorität zu leiten. "Fräulein Hoppe, entschuldigen Sie, wenn ich offen spreche, aber das beste für Sie wäre, zu heiraten."
Perplex sah Christina zu ihm auf. "Heiraten?" Hatte sie wirklich richtig gehört? "Sie sagten..."
"Daß es die beste Lösung für Ihren Zustand wäre. Sie haben selbst schon mal gesagt: 'Nur bin ich nicht verheiratet'."
"So habe ich das aber nicht gemeint." Verlegen zog sie ihr Englischbuch heran und blätterte wahllos darin herum. "Ich bin gerade erst siebzehn geworden!"
"Bitte sehr, alt genug", erwiderte Gessler.
"Nein, von einer Ehe habe ich nicht die geringste Ahnung. Mein Leben bestand bisher aus Unterricht und Rollenstudium. Vom Kochen und Saubermachen versteh ich nichts." Sie schüttelte heftig den Kopf.
"Als ob das schwerwiegende Probleme wären. So etwas lernt man, oder man nimmt sich eben eine Haushälterin", sagte Gessler bestimmt. "Alles, was mit Kindern zusammenhängt, wird Ihnen sowieso bald bekannt sein."
Wieder wurde sie rot. Nervös blätterte sie durch das Buch. Es war ihr unbegreiflich, daß ausgerechnet Gessler so direkt und mit verblüffender Selbstverständlichkeit mit ihr sprach.
"Fräulein Hoppe, verstehen Sie mich bitte richtig, ich wollte Sie keinesfalls in Verlegenheit bringen. Es sollte lediglich ein gutgemeinter Rat sein."
Ein so naiver Rat konnte auch nur von ihm kommen, dachte sich Christina. Wer würde sie mit einem unehelichen Kind schon heiraten wollen? War er wirklich so weltfremd? Seufzend klappte sie ihr Buch zu, und mit einem knappen 'Dankeschön' für den Rat brachte sie deutlich zum Ausdruck, daß sie das Thema für erledigt hielt.
Am folgenden Tag war Christina ihrem Lehrer weitaus freundlicher gesinnt als sonst. Sie
70

hatte alles noch einmal überdacht und war zu dem Ergebnis gekommen, daß er eigentlich sehr viel Verständnis für ihre Lage aufbrachte, was sie ihm nicht zugetraut hatte. Auch der Mutter verzieh sie die Klagen, die offenbar zu Gesslers Ratschlägen geführt hatten.
Der Studienrat bemerkte den Stimmungsumschwung natürlich sofort. Zum Übersetzen hatte er wohlüberlegt eine englische Kurzgeschichte gewählt, die von einer elfköpfigen Familie handelte.
"Neun Kinder! Wie furchtbar!" bemerkte Christina.
"Was ist daran so furchtbar?" fragte Gessler. "Noch eins dabei, und mit dem Dutzend erst wäre die Familie komplett."
Christina mußte lachen: "Daß Sie so viel Humor besitzen, hätte ich nie für möglich gehalten."
Er freute sich über diesen ersten Durchbruch und hielt seine Frage jetzt nicht mehr länger zurück: "Haben Sie sich übrigens meinen Rat wegen der Heirat mal durch den Kopf gehen lassen?"
"Ja", sagte Christina, mit einem spitzbübischen Lächeln. "Ich werde mir zu Weihnachten einen Ehemann auf den Wunschzettel schreiben, vielleicht beschert mir das Christkind einen."
"Hübsch verpackt unterm Weihnachtsbaum", scherzte Gessler. "Vielleicht einen aus Holz geschnitzten?"
"Nein, der wäre mir zu hart. Sagen wir einen aus Marzipan, mit Schokolade überzogen." Erschrocken hielt sich Christina die Hand vor den Mund. Hoffentlich war sie jetzt nicht zu weit gegangen.
Aber Gessler schmunzelte amüsiert. "Natürlich, Sie erwähnten ja mal, daß Sie so gerne naschen." Und sogleich griff er in seine Jackentasche und zog ein spitzes Tütchen hervor, daß er Christina hinhielt: "Kein Marzipan, sondern Pfefferminz mit Schokolade. Damit will ich mich lediglich revanchieren. Erinnern Sie sich an die Praline vor einigen Tagen?"
"Na gut, wenn das so ist", Christina griff in die Tüte. "Dankeschön."
Bis zur Beendigung der Stunde wurde kein persönliches Wort mehr gesprochen. Erst als Gessler seine Bücher in die Aktentasche steckte, sagte er in seiner bestimmten, aber einnehmenden Art: "Daß Sie sich weiterhin zu Hause vergraben, ist nun vorbei. Sie sind hoffentlich inzwischen selbst zu dieser Einsicht gekommen. Wie wäre es, wenn wir heute abend eine Hafenrundfahrt machen?"
"Etwa Sie und ich?" Verwundert sah Christina ihn an."Und überhaupt; nein, das geht nicht."
"Sie und ich, genau wie ich es gesagt habe. Oder haben Sie etwas anderes vor? Dann natürlich ..."
"Ich muß meine Hausaufgaben machen", sagte sie schnell, denn sein gewinnendes Lächeln irritierte sie.
"Die verschieben wir auf morgen", entgegnete er, wobei sein Lächeln noch breiter wurde. "Sie brauchen nichts zu befürchten, Fräulein Hoppe, die Dampfer sind bei diesem Wetter kaum besetzt, und da achtet niemand auf den anderen. Denken Sie doch an die frische Luft. Die wird Ihnen sicher guttun."
Christina nickte schweigend. Es erschien ihr gar zu unwahrscheinlich, mit Gessler zusammen auszugehen, noch dazu in ihrem Zustand.
Ihr stummes Nicken wurde von dem Studienrat als Zusage aufgefaßt, und so sagte er jetzt: "Ich möchte aber zuvor noch Ihre Mutter fragen, ob es ihr recht ist."
Wie ein Kavalier, dachte Christina. Und ob es der Mutter recht sein wird, sie mal aus dem Haus zu sehen. Während sie resigniert ans Fenster trat, hörte sie die Mutter und Gessler im Flur sprechen. Ihr war zumute, als würde über sie verhandelt. Oh Christina, in was für eine Situation bist du durch die Schwangerschaft nur geraten. Seit der Adoption bin ich Objekt von
71

Verhandlungen! Mein Kind soll das niemals erleben. Mit diesen Gedanken legte sie sich die Hände auf den Leib und verspürte die zarten Bewegungen ihres Kindes. Inständig hoffte sie, es möge am Abend vom Himmel schütten, damit aus dem geplanten Ausflug nichts würde.
72

SONNABEND, 5.9.1953
"Ja, die Mama, genauso strahlend wie der heutige Sonnenschein!" rief Erich Gessler fröhlich seiner Mutter entgegen, die soeben das Wohnzimmer betrat. "Und so nett frisiert bist du auch schon."
"Aber noch im Neglige\ du Schmeichler", sagte sie und nahm den üblichen Morgenkuß ihres Sohnes entgegen. Ihr Mann hatte sie früher genauso begrüßt und sie mit seiner Liebe immer sehr verwöhnt, bis sein plötzlicher Tod ihn von ihrer Seite gerissen hatte. Seitdem waren zwei Jahre vergangen, die sie mit ihrem einzigen Sohn allein in dieser Vierzimmerwohnung lebte. Zweimal wöchentlich sorgte eine Putzfrau für die nötige Reinigung, während Frau Gessler sich ganz ihrer persönlichen Pflege widmen konnte.
Erich war der ganze Stolz seiner Mutter. Er war ihr unverkennbar wie aus dem Gesicht geschnitten; die gleiche ovale Form, die gewölbte Stirn, große braune Augen und ein energisches Kinn. Seine klassisch geformte Nase verdankte er dem Vater, den leicht bräunlichen Teint und das tiefdunkelbraune Haar der Mutter.
"Wie festlich du den Kaffeetisch gedeckt hast", freute sich Frau Gessler. "Sogar Eier hast du gekocht? Mein Junge, heute ist doch gar kein Feiertag, oder? Sonnabend, der fünfte September? Nein, lass' mich mal überlegen; es fällt mir beim besten Willen nichts ein."
"Doch Mama, heute ist sogar ein ganz besonderer Tag. Setz dich nur erst mal."
"Es ist eine Schande, aber mir fällt beim besten Willen nicht ein, was für ein besonderer Tag heute sein könnte. Vielleicht ist das schon eine gewisse Altersschwäche."
Lachend versicherte er ihr; "Daran leidest du noch nicht. Die Besonderheit dieses Tages ist dir nämlich noch völlig unbekannt." Aufmerksam rückte Erich seiner Mutter den Stuhl zurecht. "Sobald du dich gesetzt hast, erzähle ich dir von unserem großen Ereignis."
"So, so, von einem großen Ereignis willst du mir erzählen. Das klingt aber sehr geheimnisvoll. Hast du bei einem Preisausschreiben gewonnen?" fragte sie lachend.
"Man muß nicht unbedingt bei einem Preisausschreiben mitmachen, um einen Glückstreffer zu erzielen. Also gut, ich will dich nicht länger auf die Folter spannen." Liebevoll legte er den Arm um seine Mutter: "Stell dir vor, Mama, unsere Familie wird sich vergrößern, du bekommst eine Schwiegertochter. Was sagst du nun?"
Frau Gessler sagte gar nichts mehr. Völlig sprachlos setzte sie sich langsam hin.
"Ja, auch dein Junge hat sich jetzt endgültig zu diesem Schritt entschlossen", sagte er, sich zu ihr setzend. Seine Betonung lag auf 'endgültig', da er ein Jahr zuvor in derselben Situation bei seiner Mutter auf nicht zu durchbrechenden Widerstand gestoßen war. Diesmal wollte er aber seinen Mann stehen. Während er den Kaffee einschenkte, sprach er weiter: "Mit der Wahl meiner zukünftigen Frau wirst du diesmal zufrieden sein, du kennst sie nämlich. Hör zu, ich stell dir ein Rätsel: Als Nachtigall ist sie bekannt, als Kuckuck im fremden Nest sie Wärme fand, letzteres jedoch ist allen unbekannt. Na?"
"Wie poetisch", entgegnete seine Mutter reserviert, bemüht, ihrem von Amor offenbar völlig betörten Sohn gegenüber eine würdevolle Haltung einzunehmen. "Da mir derartige Mischlinge, oder besser gesagt Phänomene von Federvieh unbekannt sind, möchte ich darum bitten, dich mir gegenüber deutlich auszudrücken."
"Gut, ich mach es dir leichter." Erich legte seine Serviette ausgebreitet über seine Knie und nahm sich ein Brötchen. "Ich habe diesen kleinen Kuckuck seit Monaten bereits um einiges Wissen bereichert. Also?"
"Etwa - ja doch nicht etwa dieses schwangere Mädchen von der Bühne? Wie heißt sie doch noch?"
73

"Erraten!" triumphierend sah Gessler seine Mutter an. "Christina Hoppe. Wir haben uns gestern abend abgesprochen."
Frau Gessler rang sichtlich um ihre Fassung: "Abgesprochen?! Mit dieser... Nein!"
"Jawohl, mit Christina Hoppe", bestätigte er nochmals freundlich, aber mit Nachdruck. Betont konzentriert bemühte er sich, sein Brötchen mit flüssigem Honig zu bestreichen. "Du hast sie doch im 'Faust' gehört und warst begeistert."
"Von der Musik und von ihrer Stimme schon, aber das bedeutet nicht, daß ich die Oper in unserer Familie verwirklicht sehen möchte."
Er ließ sich nicht beirren: "Entschuldige Mama, aber im 'Faust' bringt Margarethe ihr Kind um, während ich Christina sozusagen erlöse."
"Erich, bedenke nur mal den Altersunterschied, du achtundzwanzig, sie höchstens siebzehn." Frau Gessler schüttelte verständnislos den Kopf.
"Nicht nur höchstens, sondern seit genau sechs Wochen. Da läßt sie sich wenigstens noch lenken. Bitte, Mama", er reichte seiner Mutter die Schale mit den Brötchen. "Zur Stärkung."
"Danke, mein Junge, die Tasse Kaffee genügt mir. Sieh mal Erich, es ist ja nicht nur das Alter, auch die Schwangerschaft..."
"Stimmt, in knapp zwei Monaten werde ich Papa, und du wirst Großmama."
Entsetzt stellte Frau Gessler ihre Tasse hin. "Die Gleichgültigkeit, mit der du daherredest, ist geradezu schockierend."
"Was findest du an diesem ganz und gar natürlichen Ereignis einer Eheschließung schockierend?" sagte Erich und sah sie eindringlich an.
"Da fragst du noch?" Sie begann bereits, am gesunden Menschenverstand ihres Sohnes zu zweifeln. Ihre Taktik ändernd, versuchte sie, ihn doch noch zur Einsicht zu bringen. "Mein lieber Junge, betrachte die Sache bitte einmal von der realistischen Seite", bat sie ihn ganz ruhig. "Glaubst du, daß ein Mädchen mit einer solchen Stimme ihre Karriere aufgibt, um Hausfrau zu sein?"
Erich wollte etwas einwenden, doch seine Mutter ließ ihn nicht zu Wort kommen. Unbeirrt fuhr sie fort: "Und bildest du dir etwa allen Ernstes ein, daß sie dich aus Liebe heiratet? Sie braucht doch ausschließlich einen Vater für ihr Kind."
"Daß wir jetzt schon heiraten, ist wegen des Kindes, sehr richtig. Aber in der Hauptsache heiraten wir aus Liebe", versuchte er so überzeugt wie möglich zu antworten. "Und eine Hausfrau wird sie natürlich nicht. Es wäre geradezu ungerecht von mir, ihrer Karriere Steine in den Weg zu legen. Sobald wir geheiratet haben, übernehme ich selbst ihre Vertragsabschlüsse. Nur die Gagen, die bekommt sie erst ausgezahlt, wenn sie zwanzig ist. Dahinter steckt ihr Adoptivvater, und Christina möchte nichts daran geändert haben."
"Aha, das also ist es! Mein Sohn sieht den Himmel voller Gagen und läuft mit geblendeten Augen in sein Unglück", sagte Frau Gessler nachdrücklich. "Bitte Erich, du brauchst gar nicht zu protestieren. Wie ist ihre Familie?"
"Es sind einfache ordentliche Leute. Außerdem verbindet uns nichts mit ihnen. Christina wurde von ihnen adoptiert."
"Adoptiert also, und was ist mit ihrer eigenen Familie?" fragte sie.
"Unbekannt, auf- und davongeflattert."
"Unfaßbar! Ein Mädchen unbekannter Herkunft!" Nur mit größter Mühe behielt Frau Gessler sich in der Gewalt. "Du sprichst, als wäre die Hochzeit schon bald. Ich nehme an, du meinst die Verlobung?"
"Die Eheschließung, Mama, du hast schon richtig verstanden." Erich blieb unerschütterlich. "Das Kind wird Ende Oktober erwartet; es soll unter dem Namen Gessler geboren werden."
Unauffällig tupfte Frau Gessler sich ein paar Tränen mit der Serviette ab. Ihre Stimme
74

zitterte: "Das also ist das Resultat deines Privatunterrichts. Mein einziger lieber Junge will mich verlassen."
'Mein einziger lieber Junge will mich verlassen', wiederholte Erich in Gedanken die Worte seiner Mutter. Er erinnerte sich, genau ein Jahr zuvor dieselben Worte von ihr schon einmal gehört zu haben. Längst wäre er jetzt mit Elfriede Kunze verheiratet.
"Ja, Elfie war ein Jahr älter als ich; und sie war dir zu reif. Erinnerst du dich noch, Mama? Was immer auch die Gründe diesmal sein mögen", fürsorglich drückte er ihre Hand und lächelte sie versöhnlich an, "eines versprach ich dir; du wirst nie alleine sein. Christinas und mein Heim gehört auch dir. Ich habe ihr bereits gesagt, daß sie eine ganz reizende Schwiegermutter bekommt."
Frau Gessler entzog ihm ihre Hand. "Du verstehst es wirklich, zu schmeicheln und deine Mutter zu überraschen. Aber ich muß jetzt unbedingt meine Baldriantropfen nehmen und mich hinlegen. Du weißt ja, die Aufregung und mein Herz... " Sie erhob sich und Ueß sich, von ihrem Sohn gestützt, zurück ins Schlafzimmer führen. Diese Taktik kannte Erich bereits von ihr.
Eine faszinierende Tätigkeit war ein Hausputz nicht, aber man konnte sich dabei abreagieren und die Zeit verging, dachte Christina. Schließlich wurde man nicht alle Tage seiner zukünftigen Schwiegermutter vorgestellt, die man dann obendrein zwei Monate später zur Großmutter krönte. Christina prüfte den Glanz des Wohnzimmerschrankes und rümpfte unzufrieden die Nase.
Ihre Gedanken kreisten unablässig um ihr Kind, die zukünftige Schwiegermutter, den zukünftigen Ehemann, die baldige Ehe. Sie mußte ziemlich viel bewältigen, zumal ihr keine Zeit blieb, sich überhaupt darauf vorzubereiten. Die Eltern hatten ihr geraten, nichts zu überstürzen, aber sie hatte sich die Suppe eingebrockt, und jetzt mußte sie sie auch selbst wieder auslöffeln. Damit wäre der Familienname gerettet, und ihr Kind würde 'in Ehren' geboren werden. Außerdem bemühte sich Erich wirklich sehr um sie. Wenn nur die Musterung seiner Mutter schon überstanden wäre.
Christina richtete sich auf, warf das Bohnertuch auf den Tisch und stemmte die Hände gegen ihr Kreuz: "Früh übt sich, wer eine Hausfrau werden will - oder muß", spottete sie. Sie schaute auf die graue Schürze, die ihren Leib umspannte, und fragte sich, ob dieses Grau sie etwa symbolisch vor ihrer Zukunft warnte. "Du spinnst!" schalt sie sich selbst. Sie strich sich die Haare aus der Stirn und band sich mit einem roten Tuch die Locken im Nacken zusammen. Beim Blick auf die Standuhr stellte sie fest, daß es bereits ein Uhr war. Kurzentschlossen streifte sie sich die Hausschuhe ab, die sie mit den Füßen in eine Ecke des Zimmers schleuderte. Barfuß fühlte sich der Teppich angenehm weich an.
"Auf ein Neues, Frau Gessler!" Sie ertappte sich: "Nein, immer noch Hoppe", korrigierte sie sich rasch. Dann begann sie, die Standuhr mit Bohnerwachs einzureiben. "Mich duschen und umziehen muß ich auch noch. Schließlich muß ich heute abend genauso glänzen wie diese Möbel, sonst rassei ich bei der Begutachtung gleich durch. Also Christina, spute dich und laß das Tuch übers Holz sausen!"
"Hast du Besuch?" fragte die Mutter, ihren Kopf zur Tür hereinsteckend.
Verblüfft schaute Christina sie an und mußte lachen: "Gottlob nicht, aber vielleicht jetzt", fügte sie in einem Atemzug hinzu, denn es hatte an der Wohnungstür geklingelt. "Ich mach auf, das muß Vati sein. Hoffentlich ist beim Zahnarzt alles gut gegangen."
An der Tür angekommen, zog sie sie mit Schwung auf - und hätte sie am liebsten sofort wieder zugemacht.
"Christina!" klang es ihr erfreut entgegen. "Vivat, crescat, floreat, dein Leib ist eine Lobeshymne wert, glaub mir, der deutet jetzt schon auf einen kräftigen Jungen. Wie geht's dir?"
75

Winnies Begrüßung war für Christina wie ein Schlag ins Gesicht, der ihr für Sekunden die Sprache verschlug. Es war halt Winnies burschikose Art, die es ganz sicher nicht frech gemeint hatte.
Winnie war froh, daß es ihr gelungen war, ihre Verwunderung über Christinas verändertes Aussehen mit einem Lachen zu überspielen. Nur gut, daß sie Ingas Rat angenommen hatte, lobte sie sich insgeheim. Warum nur reagierte Christina so schweigsam auf ihre Begrüßung? "Hallo, Christina, wach auf, ich bin's, Winnie!"
"Du hast mir heute zu allem Überfluß noch gefehlt", stammelte Christina. Sie bemerkte, daß Winnie unter ihrem offenen Sommermantel Tenniskleidung trug. "Hast du dich nicht in der Adresse geirrt?"
"Wie meine Augen mir verraten, wohnt Christina Hoppe genau hier. Das ist sie doch?" rief Winnie und zeigte mit dem Finger auf sie. "Oder?"
Frau Hoppe erschien in der Tür: "Winnie, du, wie nett, nach so langer Zeit mal wieder. Komm doch herein."
Dankbar ergriff Winnie die ihr zum Gruß entgegengestreckte Hand. Frau Hoppe entschuldigte sich aber absichtlich gleich wieder und ging in die Küche zurück.
"Nach all den Monaten mußte ich endlich mal wieder sehen, wie es dir geht", sagte Winnie, "nur scheinst du von der Ehre meines Besuchs nicht gerade erfreut zu sein. Warum eigentlich?"
"Du weißt, warum!" entgegnete sie bedrückt.
"Etwa, weil du schwanger bist? Das weiß ich inzwischen genauso wie alle anderen. Und...?" Prüfend schaute sie Christina an.
Über so viel Gleichgültigkeit war Christina erstaunt. Sprachlos schaute sie zu, wie Winnie ihren Mantel auszog und ihn lässig über einen Stuhl warf. Da stand sie nun vor ihr, in leuchtend weißer Tenniskluft, die ihre sonnengebräunte Haut betonte und die langen Haare noch blonder wirken ließ. Sie beneidete Winnie um die Sorglosigkeit, mit der sich ihr Leben abspielte. Kurz entschlossen band sie sich die graue Schürze ab und löste das Tuch aus ihrem Haar. Verschwitzt und barfuß wie sie war, fand sie sich aber jetzt in ihrem bunten Kleid immerhin etwas ansehnlicher.
Winnie war derselben Meinung: "Das steht dir besser, so bist du wieder etwas mehr die gewohnte Christina Hoppe. Weißt du, ich hab dich die Monate über vermißt."
Ein bitteres Lächeln zeichnete Christinas Gesicht: "Da bist du aber die einzige."
"Glaubst du? Ja, ich weiß, daß einige ziemlichen Unsinn daherreden", Winnie schwang sich aufs Fensterbrett. "Aber erinnere dich beispielsweise mal an deine Klasse; haben dich nicht alle um diesen Apuzzo aus Italien beneidet?"
Unwillig schüttelte Christina den Kopf. "Hör auf, Winnie!" rief sie laut und setzte sich auf einen Stuhl neben ihrem Bett.
"Nein", sagte Winnie unbeirrt, "ich finde es gemein, dich von der Schule zu weisen, um dir damit das Abitur zu verpatzen. Hätten nämlich diese sogenannten Verehrerinnen eine Chance bei ihm gehabt, glaub mir, dann wäre inzwischen fast die ganze Klasse geflogen, und Paulsen hätte sich vorzeitig pensionieren lassen können. So, ich habe gesprochen."
"Das war nicht zu überhören. Aber jetzt darfst du mir zuliebe das Thema wechseln. Erzähl von dir", forderte Christina sie auf.
"Von mir?" Winnie sah sie enttäuscht an. Eigentlich wollte sie von Christina viel mehr erfahren, denn schließlich geschah es nicht alle Tage, daß eine Freundin von ihr ein Kind erwartete. "Ich bin ein uninteressantes Kapitel."
"Dann erzähl halt von deinen Ferien", entgegnete Christina hartnäckig.
"Genauso uninteressant. Daß wir wieder auf Mallorca waren, weißt du ja schon. Ich kann dazu nur sagen, daß es stinklangweilig wird, wenn man die Ferien zwei Jahre hintereinander am gleichen Strand verbringt. Der einzige Unterschied war, daß meine Tante und ihre
76

sommersprossige Lila aus Paris dabei waren. Das holde Prachtexemplar von Cousine ist ein Jahr älter als ich. Ha, Christina, wenn du die nicht kennenlernst, hast du was verpaßt. Rote Haare, Sommersprossen und immer im verrücktesten letzten Pariser Modeschrei. Nein, was für eine Vogelscheuche! Etwas sonderbar war sie zwar schon immer, aber jetzt scheint es ganz und gar bei ihr eingeschlagen zu haben; sie hält nämlich nach Männern Ausschau. In Frage käme natürlich nur ein Millionär. Dabei solltest du meine Tante sehen, eine ganz solide Frau. Sie ist übrigens diejenige, von der meine Mutter mal gesagt hat, sie sähe dir etwas ähnlich."
Ja, das hatte Winnie ihr vor knapp einem Jahr bereits erzählt, erinnerte sich Christina. Ausgerechnet mit Winnies Tante, die nach dem Besuch eines Schweizer Internats nach Paris geheiratet hatte, sollte sie Ähnlichkeit haben. Sie spürte deutlich, wie sehr sie diesen Gedanken abwehrte. Wahrscheinlich hatte Frau Zieglitz ihre Bemerkung mittlerweile längst bereut. Vor einem Jahr fand man solche Vergleiche sicherlich noch interessant, aber seit dem Skandal bestimmt nicht mehr.
"Ist was, Christina?" fragte Winnie besorgt. "Du schaust so verbissen drein."
Christina schüttelte den Kopf.
"Aber Angst hast du, nicht wahr? Ehrlich gestanden, die hätte ich auch."
"Nein." Christina wußte, daß sie log; ihr graute vor allem, was ihr noch bevorstand, aber sie mußte allein damit fertig werden. "Was gibt es sonst Neues?" versuchte sie abermals abzulenken. "In der Schule zum Beispiel?"
"Oh je, die Schule!" Winnie schüttelte sich bei dem Gedanken. "Nichts. Immer nur das gleiche langweilige Pauken. Und meine Freizeit? Die kann ich seit Schulbeginn in Anführungszeichen setzen. Die plant nämlich meine holde Mama neuerdings für mich: jetzt machst du erst Schulaufgaben, mein Kind, und dann spielen wir Tennis, mein Kind, oder wir reiten, oder wir machen dies, oder wir machen das, mein Kind", äffte sie ihre Mutter nach.
Christina sah darin lediglich Frau Zieglitz' Angst, daß Winnie sonst mehr Zeit mit ihr verbringen könnte. "Und heute geht es wieder auf den Tennisplatz, wie ich sehe."
"Ja, aber unter der Bedingung, daß ich erst dich besuche, nach all den Wochen endlich mal wieder. Heute hat's geklappt, weil meine Mutter hier in der Nähe etwas zu besorgen hat. Sie holt mich wieder ab. Ach ja, ich soll aufs Hupen achten." Winnie öffnete das Fenster einen Spalt breit. "So kann ich das doch hier hinten hören? Es tut mir leid, daß ich nur so kurze Zeit bleiben kann."
Christina war das nur recht. Sie fragte sich, ob Winnie das kalkulierte Handeln ihrer Mutter wirklich nicht durchschaute. Da zeigten sich offenbar die zwei Jahre, die Winnie jünger und unerfahrener war. "Sag mal, warum quälst du deine Mutter mit deinem Besuch bei mir?"
"Quälen?" verwundert sah Winnie sie an. "Nun mach aber mal 'nen Punkt."
"Doch, sie grämt sich genau wie deine Großmutter. Sie verachten mich, und du weißt das ganz genau", machte Christina sich jetzt endlich Luft.
"Das stimmt nicht", wehrte Winnie mit energischem Kopfschütteln ab. "Ich glaube sie mögen dich gern, bestimmt Christina. Mütter haben halt so gewisse moralische Ansichten, oder Großmütter, schließlich durften sie früher nicht mal zuviel Bein zeigen." Im stillen gab sie Christinas Einschätzung allerdings recht. "Meine Mutter sagte nur, daß es eine peinliche Angelegenheit wäre; so was hätte sie nicht von dir gedacht. Ich glaube, das war alles."
Das ist auch genug, dachte Christina. Laut sagte sie: "Winnie, du bist ein unbekümmerter Fratz."
"Danke für dieses äußerst liebenswürdige Kompliment."
"Es kam von Herzen." Sie richtete sich auf: " Winnie, es wäre mir wirklich lieber, du würdest dich an Freundinnen in deinem Alter halten."
Jetzt verstand Winnie überhaupt nichts mehr. "Ich soll...? Nein, Christina. Hast du
77

vergessen, wie lange wir schon befreundet sind?"
Doch Christina blieb erbarmungslos: "Vergiß das alles, denk an deine Eltern. Richte dich nach ihnen."
Ablehnend verzog Winnie das Gesicht. "Hab ich mich eigentlich schon jemals nach ihnen gerichtet?"
"Wenn nicht, dann wird es höchste Zeit."
"Sag mal, willst du mich unbedingt los sein? Geh ich dir wirklich so auf die Nerven? Dabei haben wir uns Monate nicht gesehen." Winnie seufzte resigniert. "Ich weiß, man sagt, eine Schwangerschaft beeinflußt das Gemüt."
Christina nickte: "Wie gut du das erfaßt hast; ich bin am liebsten nur noch allein."
Ein schwaches Hupen ließ Winnie aufhorchen. "Sie ist schon da, Christina, ich muß leider verduften." Mit diesen Worten hüpfte sie von der Fensterbank und nahm ihren Mantel.
"Deine Mutter hat sich auffallend beeilt", sagte Christina mit Nachdruck.
"Sie hält sich nirgendwo länger als nötig auf, war Winnies gleichgültige Reaktion. "Sag, Christina, deine Karriere geht aber anschließend weiter, nicht wahr?'
"Natürlich, in der Rolle einer Hausfrau, als Frau Gessler", teilte sie ihr mit.
"Was, du heiratest? Gessler? Diesen Privatlehrer von dir? Jetzt stürzt die Welt ganz und gar ein", rief Winnie. "Schon bald?"
"In drei Wochen. Und damit du nicht weiter zu fragen brauchst: die Trauung findet zu Hause statt, nur eine kleine Haustrauung mit Pastor Krause. Und heute nachmittag verloben wir uns, und wohnen werden wir wahrscheinlich in dem Haus von Erichs Tante, die in ein Altersheim ziehen wird. So, nun weißt du alles."
Es hupte wieder. Trotzig warf Winnie ihren Kopf in den Nacken: "Oh meine Mutter!" stieß sie hervor. "Christina, es tut mir leid, ich muß gehen. Und falls wir uns vorher nicht mehr sehen, wünsche ich dir, daß du alles gut überstehst", sagte sie mit einem ungewohnten Ausdruck von Mitgefühl.
An der offenen Wohnungstür wandte sie sich ihr noch einmal zu: "Wirklich, Christina, ich bin froh, wenn du alles hinter dir hast, weil du dann wahrscheinlich mich auch wieder besser ertragen kannst."
Leise schloß Christina hinter Winnie die Tür, und wie von einer Last befreit, lehnte sie sich aufatmend gegen den Türrahmen. In diesem Augenblick klingelte es wieder. Es war der Briefträger. Er brachte ein dickes Bündel Post, hauptsächlich Briefe, wie Christina flüchtig sah. Fast alle waren an sie adressiert. Kein Wunder, denn zur Zeit lief ihr letzter Film in vielen Städten. Normalerweise bekamen die Eltern ihre Briefe, die ihr dann nur die erfreulichen zu lesen gaben, was ihr viele Tränen ersparte.
Noch ein letzter Blick auf die Briefe; plötzlich stutzte sie: ein Brief war an Frau G.Schubert in München. Wie kam ein Brief nach München zwischen ihre Post? Nein, er war zurückgeschickt; ein Brief an Frau Schubert - etwa die Lehrerin? Gerlindes Adresse? Natürlich, sie ist es, erinnerte sich Christina.
Die Adresse war grün durchgestrichen, und daneben stand in Krakelschrift 'Empfängerin verstorben'. Und Gerlinde? Wo mochte sie jetzt sein? Christina las den Absender: Christina Hoppe. Es war Mutters Schrift. Warum hatte sie heimlich an Frau Schubert geschrieben? Warum kümmerten sich die Eltern überhaupt um ihre Brieffreundschaften? Immer und immer wieder hatte die Mutter alle Einzelheiten über Gerlinde wissen wollen. Warum dieser Brief? Nein, öffnen durfte sie ihn nicht. Entschlossen ging Christina in die Küche.
"Dieser Brief, Mutti, was um alles in der Welt bedeutet dieser Brief?" rief sie in einem Ton, daß Frau Hoppe erschreckt das Fensterputzen unterbrach. Sich die Hände an ihrer bunten Schürze abtrocknend, fragte sie: "Welcher Brief?"
"Dieser!" Christina reichte ihn der Mutter. "Warum hast du geschrieben?"
Frau Hoppe sah sich den Brief an und las den Vermerk 'Verstorben'. Ihr war die
78

Enttäuschung deutlich anzusehen.
"Ja, sie ist verstorben. Frau Schubert war die Lehrerin, bei der Gerlinde gewohnt hat, nicht? Warum habt ihr euch heimlich geschrieben, Mutti, warum?"
"Wir haben uns nicht geschrieben. Dieser Brief hier war mein erster und offenbar letzter", fügte sie seufzend hinzu. "Christina, du brauchst nicht so gereizt zu sein; ich wollte dir nur eine Freude machen. Du hast doch selbst schon so oft an deine Freundinnen schreiben wollen."
"Und es blieb immer nur bei dem guten Vorsatz, ich weiß. Und jetzt, da ich Zeit habe", sie sah auf ihren Leib herab, "jetzt schreibe ich erst recht nicht."
"Ja, erst recht nicht", wiederholte Frau Hoppe resigniert, "und darum habe halt ich geschrieben. Liselotte hat Pflegeeltern, deine anderen Freundinnen haben eigene Eltern, Gerlinde aber, die das ganze Jahr über mit einer alten leidenden Frau zusammenlebt, oder gelebt hat, wie man leider sagen muß, sie hätte sich bestimmt gefreut, dich in den nächsten Ferien ein paar Wochen zu besuchen, mit richtigem Familienanschluß. Und du hättest auch mal eine hübsche Abwechslung gehabt." Nachdenklich steckte Frau Hoppe den Brief in ihre Schürzentasche. "Was ist denn jetzt mit Gerlinde?"
Christina verstand nun, weshalb ihre Mutter geschrieben hatte. Sie gab ihr einen versöhnlichen Kuß. "Vielleicht war der Tod eine Erlösung für Frau Schubert. Ich weiß nur, daß sie lange krank gewesen war. Sieh mal, Mutti, Gerlinde und ich kennen uns kaum, unser Briefwechsel liegt schon Jahre zurück."
"Daß du überhaupt die Brieffreundschaft abgebrochen hast", bemerkte die Mutter vorwurfsvoll.
"Es ist eigentlich weniger, daß ich sie abgebrochen habe, als vielmehr... Ach, was wollen wir noch darüber sprechen. Außerdem, was würden sie sich wohl denken, nach so langem Schweigen plötzlich von mir zu hören", sagte Christina.
"Kind, freuen würden sie sich, Liselotte und Gerlinde bestimmt. Ihr habt euch doch damals so nett geschrieben."
"Ja", gestand Christina kleinlaut. "Weißt du, Mutti, auch wenn es nicht geklappt hat, es war sehr lieb von dir, daß du Gerlinde einladen wolltest." Sie sah auf die Wanduhr. "So spät schon! Ich muß mich beeilen. Vor allem muß ich die Hausaufgaben für Montag noch machen." Bei den letzten Worten hatte sie die Küche bereits verlassen.
In ihrem Zimmer setzte sie sich an den kleinen weißen Tisch, an dem schon Gisela ihre Schulaufgaben gemacht hatte, und schlug das Schreibheft vor sich auf. Schnell mußte sie einen Aufsatz zustande bringen, doch sie konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Sie malte sich mal wieder aus, wie es sein würde, verheiratet zu sein, und wie immer, wenn sie daran dachte, bekam sie Angst davor. Ständig diese Zweifel. Und zu allem Übel mußte heute alles zusammentreffen: das Kennenlernen der Schwiegermutter, Winnies Besuch und der Brief an Frau Schubert.
Christina mußte an Gerlinde denken. Ob sie wohl wieder im Heim wohnte? Sie war doch so froh gewesen, als sie es endlich verlassen durfte. Wo mochte sie jetzt sein? Je mehr Christina über Gerlinde nachdachte, um so deutlicher sah sie sie vor sich: zurückhaltend und schüchtern, mit ihren langen rötlichen Zöpfen und dem grauen Kleid.
Bei jenem Treffen in München hatte sie beschlossen, ihnen zu schreiben. War es nur Mitleid gewesen? Hatte sie an das triste Heim gedacht, in dem sie leben mußten? Oder war es ihre damalige Einsamkeit gewesen, die sie zu den Mädchen hingezogen hatte? Nach ihrer Rückkehr hatte sich ihr Wunsch, sie wiederzusehen, gelegt. Vielleicht, weil sie nicht mehr allein war und ihre Karriere sie andere, unglücklichere Menschen hatte vergessen lassen? Nein, diesen Gedanken schob Christina beschämt von sich. Und plötzlich stand ihr Entschluß fest: sobald sie die Entbindung überstanden hatte, wollte sie Gerlinde schreiben. Liselottes Adresse hatte sie, und die wußte bestimmt, wo Gerlinde jetzt war.
79

Erleichtert stand Christina auf und ging in die Küche, um der Mutter von ihrem Vorhaben zu berichten.
Erich war kein Mann, der heiße Liebeserklärungen machte oder sie stürmisch in die Arme nahm. Sein Verständnis für ihren Zustand und seine ruhige Art, mit der er ihr seine Liebe bewies, erschien Christina ehrlicher als Luigis Leidenschaft. Außerdem war Erich doch kein so ausschließlicher Kopfmensch, für den sie ihn am Anfang gehalten hatte. Er besaß Charme und sah phantastisch aus. Heute trug er einen silbergrauen Anzug, der ihm ausgesprochen gut stand.
Ja, sie liebte ihn und konnte sich ihm ein Leben lang anvertrauen. Warum nur mußte sie sich das immer wieder neu bestätigen, fragte sich Christina, während sie Erich begrüßte.
Vorsichtig, damit die roten Rosen, die er ihr mitgebracht hatte, nicht zerdrückt wurden, löste sie sich aus seiner Umarmung. "Was meinst du, Ric, ob ich die Musterung deiner Mutter mit Erfolg bestehe?" Mit diesen Worten drehte sie sich vor ihm in ihrem neuen Umstandskleid. Ihre frisch gewaschenen Haare fielen locker und wellig auf die Schultern und sie duftete dezent nach Parfüm.
"So reizend wie du aussiehst, Christina, da zweifelst du noch? Nur, was meine Mutter anbetrifft..." Erich räusperte sich und brach den angefangenen Satz ab, um eine Debatte auf dem Flur zu vermeiden. "Können wir uns ins Wohnzimmer setzen? Ich meine, sofern wir dort allein sind."
Erichs Verhalten ließ Christina nichts Gutes ahnen. "Ja", sagte sie, "es ist im Moment niemand da."
Im Wohnzimmer duftete es nach Bohnerwachs. Christina wies auf den gedeckten Tisch: "Meine Mutter meinte, wenn man sich schon ohne offizielle Verlobung die Ringe aufsteckt, dann zumindest im engsten Familienkreis, bei Kaffee und Kuchen."
"Demnach akzeptieren deine Eltern jetzt voll und ganz unseren Entschluß?" fragte Erich.
Bedenklich wiegte sie den Kopf, aus Angst, ihn mit der unverblümten Wahrheit zu kränken. "Ich glaube erst dann, wenn sie uns beide wirklich glücklich sehen. Und das sollen sie, Ric, bald schon und immer, nicht wahr?"
Zärtlich gaben sie sich einen Kuß.
"Immerhin möchten sie deine Mutter heute auch kennenlernen", sagte Christina.
"Meine Mutter?" stöhnte Erich, als er den Arm um Christinas Schultern legte und sie mit zu sich auf das Sofa zog. Bei ihr war es einfach, sich herauszureden, aber was sollte er ihren Eltern sagen? Sie durften keinesfalls etwas von dem Theater seiner Mutter erfahren.
"Was ist, Ric?" drängte Christina, der sein nachdenkliches Gesicht gar nicht gefiel.
"Weißt du, Christina, den Besuch bei meiner Mutter müssen wir leider verschieben, so leid es mir tut. Sie erlitt wieder mal einen Herzanfall." Das war nicht gelogen, dachte er, schließlich kam diese Behauptung von seiner Mutter.
"Heute morgen?" fragte Christina besorgt. "Etwa weil wir heiraten wollen?"
"Aber nein, wie kommst du denn da drauf? Ich habe es ihr erzählt, und sie ist stolz auf ihre zukünftige Schwiegertochter. Vergiß nicht, daß sie nie eine Tochter hatte. Jetzt bekommt sie eine, die sie nicht mal aus den Windeln zu holen braucht, sondern eine, die schön wie eine Rose blüht", erwiderte Erich.
"Ich muß schon sagen, du hast eine erquickende Art deine Ansichten zu äußern."
"Amüsier dich ruhig, solange du mir glaubst. Ihre Herzanfälle sind bereits ein altes Leiden, Bettruhe und Medizin haben noch immer geholfen. Aber es gibt auch etwas Erfreuliches zu berichten. Gestern abend habe ich mit meiner Tante gesprochen. Du hättest sehen sollen, wie sehr sie sich gefreut hat. Sie sagte, wenn sie ihr Haus in so guten Händen wüßte, könnte sie endlich ruhigen Herzens ins Altersheim gehen. Sie will uns das Haus samt
80

Einrichtung für eine niedrige Miete zur Verfügung stellen. So, und was sagst du nun?" meinte Erich zufrieden.
"Das, Ric, ist wirklich phantastisch." Sie schaute in seine strahlenden, dunkelbraunen Augen, die sie alle weiteren Probleme vergessen ließen. Glücklich schmiegte sie sich fest an ihn, als ein sanfter Stoß in ihrem Leib sie an die baldige Mutterrolle erinnerte und sie in die Wirklichkeit zurückrief.
81

Dritter Teil
SONNABEND, 24.10.1953
Ein ziehender Schmerz riß Christina aus dem Schlaf. Sie preßte sich die Hände gegen ihr Kreuz und stöhnte leise auf. Der Schmerz ließ schnell wieder nach, und beruhigt legte sie sich zurück.
Durch die halb geöffnete Gardine fiel das Morgenlicht ins Schlafzimmer, und von der Küche drangen vertraute Geräusche zu ihr herauf. Undeutlich konnte Christina die Stimmen von Frau Mommsen, der Haushälterin, und von Erich unterscheiden. Wie spät mochte es sein? Ihr fiel ein, daß Erich heute morgen ja nach Bremen fahren wollte, zur Hochzeit seines Cousins. Eine Kollegin, die in aller Frühe zufällig dieselbe Strecke zu fahren hatte, wollte ihn mitnehmen.
Wie rücksichtsvoll leise Ric aufgestanden war, um sie nicht zu stören, dachte Christina gerührt. Ob sie ihm noch einen Augenblick Gesellschaft leisten sollte? Aber dann würde der Abschied ihr noch schwerer fallen. Sie hätte ihn gern begleitet, aber da täglich mit der Entbindung zu rechnen war, traute sie sich nicht mehr weg von Kiel. Sie drehte sich auf die Seite und lauschte weiter den Geräuschen. Der kleine Reisewecker auf ihrem Nachtschränkchen tickte laut. Es war noch viel zu früh, um schon aufzustehen.
Dann hörte sie die Haustür ins Schloß schnappen. Erich war fort. Kurz entschlossen verließ Christina etwas schwerfällig ihr Bett. Barfuß eilte sie aus dem Schlafzimmer ins nebenan gelegene Kinderzimmer. Hier befand sich das einzige Fenster, das der Straße zu lag.
Sie schob die Gardine ein Stück zur Seite, um auf die Straße sehen zu können. Vor dem Haus hielt kein Auto, doch sie sah Erich, in seiner selbstbewußten, lässigen Haltung, den Kragen seines Mantels hochgeschlagen, wie er auf einen vor dem übernächsten Haus geparkten Wagen zuging, wo ihn eine Dame erwartete. Undeutlich konnte Christina ihre große, schlanke Gestalt erkennen. Das war also seine Kollegin. Sie mußte sich in der Hausnummer geirrt haben, dachte Christina, als sie plötzlich die Schritte der Haushälterin auf der Treppe hörte, die sich dem Kinderzimmer näherten. Christina fühlte sich wie ein ertapptes Kind. "Bitte kein Licht machen, Frau Mommsen", sagte sie schnell.
"Oh, Sie sind's, Frau Gessler. Guten Morgen. Der Doktor sagte, Sie schlafen noch, deshalb wunderte ich mich über die Schritte über meinem Kopf, erwiderte die kleine, stämmige Frau.
Christina winkte Frau Mommsen ans Fenster: "Glauben Sie nicht auch, daß es eine ziemlich langweilige Fahrt wird, wenn zwei Pädagogen miteinander fachsimpeln?"
Die Haushälterin schaute zum Wagen hinunter. Erich hatte gerade sein Handgepäck im Kofferraum verstaut und half der Dame jetzt in ihren Wagen. "Ist sie jetzt Lehrerin?" fragte sie erstaunt.
"Wieso? Kennen Sie sie?"
"Elfie Kunze? Nun, sagen wir nicht direkt persönlich. Sie hat vor ungefähr fünf Monaten einen Kapitän geheiratet, nachdem... ich meine, nach... Ach, was sag ich. Ich kümmer mich jetzt erst mal um Ihren Kaffee", versuchte Frau Mommsen das Thema zu wechseln.
"Nachdem, was?" fragte Christina alarmiert, als sie erneut einen ziehenden Schmerz im Rücken verspürte. Inständig hoffte sie, daß nicht ausgerechnet jetzt die Wehen einsetzen würden. Ängstlich stützte sie sich unauffällig gegen die Fensterbank.
Frau Mommsen bemerkte davon nichts. Sie reagierte aber auch nicht auf die Frage, sondern ging zur Tür und schaltete das Licht an. "Nur im Nachthemd, Frau Gessler? Nein, das ist
82

doch viel zu kühl", rief sie und verließ eilig das Zimmer.
Erleichtert spürte Christina, wie der Schmerz nachließ. In ihr aber bohrte die Frage: Wer war diese Elfte Kunze, die Erich mit nach Bremen nahm? Sie wußte, daß Frau Mommsen Lügen verabscheute und deshalb lieber schwieg. Aber sie hatte schon zuviel gesagt, als daß Christina die Sache auf sich beruhen lassen konnte.
Die Haushälterin kehrte zurück und legte ihr den gesteppten Morgenmantel um die Schultern. Christina wandte sich vom Fenster ab und fragte: "Sagen Sie, Frau Mommsen, wie kommen Sie darauf, daß sie keine Lehrerin ist?"
"Diese Frau Kunze?" Ihr unsicherer Blick verriet Christina, wie unangenehm ihr die Frage war. Dr. Gesslers Verhalten, trotz des Zustands seiner Frau zur Hochzeit zu fahren und obendrein mit dieser Kunze, war Frau Mommsen unverständlich. Christinas bemüht ruhiger Ton konnte sie nicht täuschen, aber Ausreden hielt sie für einen billigen Ausweg. "Die Frau Kunze, ja, Ihre Schwiegermutter erzählte mir mal von ihr. Sie war wohl einige Male bei Frau Gessler zu Besuch, und einmal, als ich gerade dort putzte, war sie auch da."
"Sie ist also eine frühere Bekannte meines Mannes?" fragte Christina, aber statt der erhofften Antwort rief Frau Mommsen erschreckt:
"Meine Güte, Sie sind aber blaß. Was ist mit Ihnen?'
"Nichts", antwortete Christina gleichgültig. "Wahrscheinlich haben die Wehen vorhin eingesetzt."
"Was? Die Wehen? Und das sagen Sie so ruhig? Und Ihr Mann?"
"Der wird anscheinend von einer Elfte Kunze zur Hochzeit gefahren, mit der er sehr gut bekannt ist. Sie können es mir ruhig sagen. Ich verspreche Ihnen, Frau Mommsen, daß ich schweige."
"Ja, ja", gab diese schließlich mit einer wegwerfenden Handbewegung zu. "Ihrer Schwiegermutter war sie unsympathisch." Damit war für sie das Thema abgeschlossen. Christinas Zustand erschien ihr weitaus wichtiger. "Wann setzten die Wehen ein? Ich rufe am besten sofort die Hebamme an." Pflichtbewußt lief sie zum Telefon.
Da Christina seit ihrer Erkrankung in München Hospitäler mied, war eine häusliche Entbindung geplant.
"Ihre Eltern rufe ich auch gleich an", rief Frau Mommsen von der Treppe her.
"Nein! Nicht so früh! Und die Hebamme schon gar nicht!" rief Christina ihr nach. Diese rätselhafte Elfte Kunze war ihr wichtiger als die Entbindung. Was verband sie und Erich miteinander? Warum die Lüge mit der Lehrerin?
Wie betäubt verließ Christina das Kinderzimmer, ohne wie sonst einen Blick für das weiße Kinderbettchen, die Wickelkommode und den liebevoll von Frau Hoppe hergerichteten Stubenwagen übrig zu haben.
Zurück in ihrem Bett, fühlte sie sich belogen, betrogen und allein.
Hebamme und Bereitschaftsarzt waren schließlich doch gerufen worden, und trotz der Injektion zur Beschleunigung der Wehen dauerte es bis zum Abend, bis das Kind endlich da war. Es war ein gesundes Mädchen, wie Dr. Hellwege Christina freudig versicherte.
Obwohl sie alles glücklich überstanden hatte, und das Kind und sie wohlauf waren, konnte Christina ihren Schmerz über Erichs Abwesenheit nicht verbergen. Er war nicht bei ihr, und bei seinem Cousin war er bisher noch nicht eingetroffen, wie ein Telefonanruf ergeben hatte. Wo mochte er nur sein? Quälend war der Verdacht, er könnte mit dieser Frau zusammen sein.
Dem Arzt war ihr Verhalten völlig unverständlich. Sie hätte allen Grund gehabt, glücklich zu sein, und doch war deutlich zu spüren, wie sehr sie gegen die Tränen ankämpfte.
"Ich muß schon sagen, ein ungewöhnliches Verhalten, Frau Gessler." Dr Hellwege
83

reichte ihr die Hand. "Morgen früh schau ich noch einmal bei Ihnen vorbei, ich hoffe dann, eine glückliche Mutter anzutreffen. Grund dazu haben Sie wirklich genug."
Müde verabschiedete sich Christina von ihm. Sie konnte ihm nichts erklären und endlich allein, hielt sie die Tränen nicht länger zurück. Oh Erich, ob du gerade in den Armen dieser Anderen liegst? Warum bist du jetzt nicht bei mir? Verzweifelt preßte sie ihr Gesicht ins Kopfkissen; niemand durfte etwas merken.
Am frühen Morgen war Erich heimgekehrt, liebevoll wie immer und mit Bedauern und Entschuldigungen. Sie hätten eine Autopanne gehabt, gab er als Grund für sein Fortbleiben an. Christina verteidigte ihn sogar gegen die Meinung ihrer Mutter, es gebe zwar Autopannen, aber auch Telefone. Sie wollte um keinen Preis, daß die Zweifel der Eltern an ihrer Heirat bestätigt würden und ihnen neuer Kummer entstand.
Überzeugt war sie von Erichs Ausrede nicht. Es brannte in ihr, die Wahrheit zu erfahren, aber sie hatte Frau Mommsen versprochen, nichts zu sagen. Außerdem war sie sicher, daß Fragen und Beschuldigungen letzten Endes nur zum Streit führen würden, und so beschloß sie, vernünftig zu sein. Eines Tages würde sie die Wahrheit wissen. Wenn auch Zweifel sie plagten, sie liebte schließlich ihren Mann, und jetzt, mit der Geburt ihrer kleinen Tochter, waren sie eine richtige Familie.
'Unsere kleine Angelika. Ist hier ein Wunder geschehen?' erinnerte sie sich an Erichs Worte. 'Sie sieht mir etwas ähnlich. Sie könnte meine leibliche Tochter sein.' Christina wußte, daß es Luigis dunkle Haare waren, die Erichs glichen. Trotzdem war es eine beglückende Erkenntnis. Gedankenverloren strich sie über die gelbe Wollgarnitur, die Gisela ihr am Morgen geschenkt hatte. Gerade, als sie sie wieder zurück in den Karton legen wollte, klopfte es an die Tür.
"Besuch von einer jungen Dame", sagte Frau Mommsen, und schon erschien Winnie hinter ihr in der Tür.
"Und das bin ich!" rief sie freudestrahlend, einen hübsch verpackten Geschenkkarton in der Hand.
"Winnie!" lachte Christina. Erfreut nahm sie die Glückwünsche und das Päckchen entgegen.
"Bewundere nicht das Äußere, der Inhalt ist viel wichtiger. Habe es vor Tagen mit viel Liebe und viel Überlegung gekauft", rief Winnie. "Wo ist das Prachtexemplar?"
"Oh Winnie, bei deiner Zungenfertigkeit solltest du Leichenprediger werden. Pro Beerdigung fünf Minuten; kurz und schmerzlos, Balsam für die Hinterbliebenen", entgegnete Christina.
"Leichen!" sagte Winnie entrüstet. "Ich sprech von deinem Prachtexemplar."
"Prachtexemplar stimmt, Winnie. Sie ist wirklich süß. Im Moment schläft sie aber." Auf das Päckchen weisend, fragte Christina: "Sag mal, wieso schon vor Tagen? Schließlich habe ich erst gestern entbunden."
"Ja, aber ich habe die Zeit nicht mehr abwarten können."
"Und wie hast du es so schnell erfahren?" wollte Christina wissen.
"Na, durch wen wohl? Deine Mutter hielt ihr Versprechen, mich sofort anzurufen. Außerdem meinte sie, daß baldige Besuche eine gute Wochenbettmedizin für dich wären. Das ließ ich mir natürlich nicht zweimal sagen. Hier bin ich, und ich habe eine Frage an dich, die nicht länger warten kann. Bitte, Christina, laß mich Angelikas Patentante sein", sagte sie, wobei sie sich theatralisch vor ihr verneigte, soweit es ihr enger, roter Rock zuließ.
Erstaunt sah Christina sie an. Diesen Entschluß hatte Winnie ohne die Zustimmung der Zieglitz-Familie gefaßt, da war sich Christina sicher. Sie rückte sich ihr Kissen hinter dem Rücken zurecht, um aufrechter sitzen zu können, dann sagte sie langsam: "Winnie, die
84

Patenschaft übernehmen Gisela und Kurt. Das ist schon besprochen. Aber trotzdem vielen Dank."
Winnie war die Enttäuschung deutlich anzusehen, als sie sich jetzt einen Stuhl ans Bett zog und sich hinsetzte.
"Wirklich, Winnie, es tut mir leid. Mit Gisela war es schon vor der Entbindung abgemacht, und Kurt hat sich heute morgen entschlossen, als er Angelika sah."
"Da hätte ich also noch früher kommen müssen", meinte Winnie bedrückt.
Christina antwortete darauf nicht. Sie wußte, daß sie auch dann nicht eingewilligt hätte. "Frau Mommsen kann dich nachher mal zu Angelika führen, du mußt sie unbedingt sehen."
"Das ist aber auch das wenigste", schmollte Winnie. "Sag, wie fühlst du dich jetzt so, als Frau Gessler und Mutter?"
"Glücklich, zumal nun alles gut überstanden ist", versicherte Christina ihr.
"Du bist doch noch so jung, fürchtest du dich nicht vor all den Pflichten? Ich meine, eine gute Patentante wäre ich gewesen, das hätte ich dir versprechen können ... "
"Das glaub ich dir", warf Christina aufmunternd ein.
"Ja, aber als Mutter, immer für die Kinder dasein und immer als Vorbild; weißt du, Christina, einer solchen Verantwortung wäre ich nicht gewachsen", sagte Winnie ernst.
"Und was würdest du tun, wenn du in die Lage kämst?" fragte Christina gespannt.
Winnie zuckte die Achseln: "Aufpassen, daß ich nicht erst in die Lage komme."
"Sehr vernünftig, aber wenn du verheiratet bist, was dann?"
"Tja, schon schlechter. Ich würde mich mit dem Mann einigen, keine Kinder zu kriegen. Und wenn es doch passiert, würde ich schon in den sauren Apfel beißen."
"Und es weggeben?" fragte Christina herausfordernd.
"Nein", entgegnete Winnie, "das würden mir meine Eltern nie verzeihen. Ich würde es halt großziehen, die Frage ist nur, wie?"
Christinas Antwort kam prompt: "Mit viel Liebe, mit deiner und mit der deines Mannes. Man muß so ein Neugeborenes einfach liebhaben."
"Du sprichst wie meine Mutter: nichts sei schöner, als den ersten Schrei seines Kindes zu hören. Man liebt es, man umsorgt es, man hütet es. Nur sind meine Mutter und ich grundverschieden, Christina."
Das brauchte Winnie nicht zu betonen. "Trotzdem, Winnie, du bist zwar anders als deine Mutter, dein Herz aber, das hast du auf dem rechten Fleck, das weiß ich."
"Das von dir zu hören ist sehr tröstlich. Heißt das also, du erträgst mich wieder? Immerhin habe ich bis nach der Entbindung gewartet, um dich wiederzusehen", entgegnete Winnie.
Christina mußte lachen. "Gewartet oder warten müssen? Ich denke da an gewisse Hindernisse in deiner Freizeitgestaltung, die du bei deinem letzten Besuch erwähnt hast."
"Ach so", sagte Winnie kleinlaut, "ich habe dir das erzählt. Naja, das ist aber jetzt vorbei. Meine Mutter hat dadurch ihre eigene Freizeit dermaßen eingeschränkt, daß sie selber unzufrieden wurde. Aber lassen wir das Thema Eltern." Sie schüttelte energisch den Kopf. "Sag, wie lange willst du noch die Verpackung bewundern?" Sie wies auf ihr Geschenk, das Christina immer noch ungeöffnet in der Hand hielt.
"Ja, richtig." Christina schüttelte das Päckchen vorsichtig und wog es in der Hand: "Ein Kleidungsstück, stimmt's?"
Winnie verriet nichts. "Hast du eine Hebamme gehabt?" fragte sie statt dessen, während sie ungeduldig zusah, wie Christina vorsichtig die Rosette löste und das Papier abzog.
"Natürlich. Außerdem einen Arzt, einen Doktor Hellwege. Er kam in Vertretung von meinem Hausarzt. Ich hatte ihn noch nie gesehen, und trotzdem, Winnie, hatte ich das Gefühl, ihn zu kennen", sagte Christina.
"So was gibt es manchmal. Hellwege, sagst du? Dann kenn ich seine Kinder vom
85

Tennisclub. Sein Sohn ist schon verheiratet, und das neunjährige Küken der Familie ist eine verhätschelte, aufgeblasene, rothaarige Gans."
"Oh Winnie, wirklich, deine Beschreibungen sind manchmal recht schockierend. Hier", Christina reichte ihr das Papier, "leg das bitte zusammen, dann hast du was zu tun."
Winnie sah sie verständnislos an: "Ach, wirf es weg, die Geschäfte sind voll davon."
"Nein", erwiderte Christina bestimmt. "So hübsches Papier, das wäre Verschwendung." Endlich hatte sie das Päckchen geöffnet. "Oh Winnie! So ein Traumgewand!" Voller Bewunderung zog sie ein weißes, langes Spitzentaufkleid aus dem Karton. Wie sehr mußte sie Winnie enttäuscht haben. "Winnie, vielen vielen Dank!"
"Schon gut", entgegnete Winnie kurz. "Sag mal, was hat dein Mann dir eigentlich zur Geburt geschenkt?"
"Ric?" Christina zeigte auf ein Buch auf ihrem Nachtschrank. "Das da."
"Ein Buch?" fragte Winnie erstaunt.
"Ja, über Säuglings- und Kinderpflege."
"Wirklich? Der Größe nach ist es das reinste Lexikon; du sollst wohl eine perfekte Mutter werden."
"Nein", lachte Christina bitter. "Ich wünschte, daß es das wäre. Es ist ein Manuskript oder Drehbuch, was immer... "
"Für einen neuen Film?" Winnie strahlte über das ganze Gesicht. "Christina, das ist ja wunderbar."
"Ja, in Berlin."
Winnie war ganz begeistert: "Ich gratuliere! Dann geht deine Karriere also weiter."
"Du brauchst nicht zu gratulieren. Ich möchte mich nämlich lieber um meine Tochter und meinen Mann kümmern", sagte Christina bedrückt. Daß sie auch Angst davor hatte, sich wieder in der Öffentlichkeit zu zeigen, verschwieg sie Winnie.
"Aber du hast doch eine Haushälterin und eine Schwiegermutter für Angelika und nicht zuletzt deine Mutter."
Ja, eine Schwiegermutter, die wegen angeblichen Herzanfalls nicht zur Hochzeit erschienen war, die aber jetzt täglich kam, um sich von Erichs Wohlergehen zu überzeugen. Christina schüttelte den Kopf: 'Trotzdem, eine Mutter kann niemand voll ersetzen."
"Aber Christina", rief Winnie, "diese Chance, denk doch an deine Karriere."
"Du redest genau wie Ric. Seit unserer Hochzeit schließt er meine Verträge ab. Er wollte es, und ich habe nachgegeben, aber nur, weil ich mir so sicher war, daß er ein unfähiger Manager sein würde. Von den Verhandlungen hatte ich nicht mal was gewußt, und leider ist der Vertrag schon abgeschlossen."
Frau Mommsen kam mit Marmorkuchen und duftendem Kaffee.
"Da Sie gerade hier sind, Frau Mommsen, könnten Sie Winnie Angelika zeigen. Vorher aber müssen Sie sich unbedingt dieses Spitzengewand anschauen." Vorsichtig hielt Christina es in die Höhe. Frau Mommsens Freude über alles, was Angelika betraf, machte Christina unendlich glücklich.
"Ja, ein Taufkleid für Angelika und für eventuelle weitere kleine Gesslers, und Winnie Zieglitz als Patentante des nächsten Sprößlings, hm? Ich melde mich heute schon an", sagte Winnie. "Bitte kommen Sie, Frau Mommsen, bevor ich eine Absage höre."
86

SONNABEND, 28.5.1955
Ihre leichte, beigefarbene Popelinjacke und der graue Faltenrock waren völlig durchnäßt, von den rotblonden, zu einem Mozartzopf geflochtenen Haaren tropfte das Wasser, und ihre braunen Sportschuhe und die Leinentasche waren durchgeweicht. Rasch entfernte sie das nasse Papier von dem Nelkenstrauß und stopfte es in ihre Jackentasche. Erwartungsvoll, sich noch einmal mit einem Blick auf das Namensschild vergewissernd, daß sie richtig war, drückte sie den Klingelknopf.
Sie horchte auf, Schritte näherten sich, und da wurde auch schon die Tür geöffnet. Vor ihr stand eine grauhaarige Frau um die sechzig, in cremefarbener Bluse und einem dunkelblauen Kostümrock, die sie sichtlich erleichtert begrüßte: "Da sind Sie ja, Fräulein Gerlinde, nicht wahr?"
"Ja, ich bin Gerlinde", sagte das Mädchen und betrat den Flur, auf dem es einladend nach Kaffee duftete. "Demnach sind Sie Frau Hoppe?"
"Natürlich, entschuldigen Sie, in meiner Aufregung vergaß ich ganz und gar, mich vorzustellen. Man denkt immer gleich das Schlimmste, nicht aber, daß Züge mit Verspätung eintreffen oder ein Verkehrsstau ist."
Gerlinde konnte diese übertriebene Besorgnis nicht so recht verstehen. "Der Zug war pünktlich hier, und die Straßenbahn kam auch prompt", erklärte sie.
"Was? Die Straßenbahn? Sie sind mit der Straßenbahn gefahren?" Frau Hoppe konnte das nicht begreifen. "Ach du meine Güte, unser Kurt. Er fuhr aber doch zeitig los, schon gleich nach dem Mittagessen, um Sie abzuholen. Wo mag der Junge nur stecken?"
Der Junge war Hoppes Sohn, soviel wußte Gerlinde noch vom früheren Briefwechsel mit Christina. Danach aber mußte 'der Junge' bereits ein junger Mann sein. "Bestimmt war er aufm Bahnhof, nur bei dem Gewühl dort verpaßt man sich leicht, zumal wir uns nicht kennen", versuchte Gerlinde Frau Hoppe zu beruhigen, während plötzlich aus einem der Zimmer ein eigenartiges, närrisches Lachen durch die geschlossene Tür auf den Flur drang. Gerlinde ließ sich ihre Verwunderung nicht anmerken.
"Nein, nein, der Junge mußte Sie erkennen. Unser Christinchen erzählte uns doch, wie Sie als Kind ausgesehen haben. So schlank, wie Sie heute noch sind, können Sie sich nicht so stark verändert haben." Über Gerlindes leichte Gehbehinderung wunderte sich Frau Hoppe allerdings, denn davon hatte Christina nie etwas erzählt. "Nein, mit der Straßenbahn - kein Wunder, daß Sie so triefen. Ach Gott, das tut mir unendlich leid. Wenn man sich schon mal auf andere verläßt."
"Auf diese Weise sind die Nelken wenigstens nicht verdurstet. Mit denen, Frau Hoppe, möchte ich Ihnen sehr herzlich für Ihre Einladung danken, und auch dafür, daß ich die Fahrkarte jetzt für meinen Umzug nach Hamburg verwenden durfte", sagte Gerlinde glücklich. "Zu Ostern konnte ich beim besten Willen nicht von meiner Arbeit weg."
Obwohl Frau Hoppe sich über die Blumen aufrichtig gefreut hatte, glaubte Gerlinde eine gewisse Traurigkeit in ihrem Gesicht zu bemerken; sie sollte sich nicht getäuscht haben.
"Es ist gut, daß Sie erst jetzt kommen. Eigentlich hatten wir unser Christinchen zu Ostern erwartet. Wir wollten sie dann mit Ihrem Besuch überraschen, denn sie weiß noch nichts von unserem Briefwechsel. Doch aus der Überraschung wäre nichts geworden. Sie war nicht hier. Aber jetzt holen wir es nach", fügte Frau Hoppe schließlich optimistisch hinzu.
"Dann wird sie sich wundern, mich plötzlich hier in Kiel wiederzusehen." Gerlinde konnte sich Christinas Reaktion nicht so recht vorstellen. Zu viele Jahre waren seit der Zeit in München vergangen, und ihr Leben war so unterschiedlich verlaufen.
87

"Oh ja, wundern wird sie sich", sagte Frau Hoppe zustimmend, "aber vor allem wird sie sich freuen, genauso, wie wir uns in der Zwischenzeit allein an Ihrem Besuch erfreuen." Mit diesen Worten klopfte Frau Hoppe ihr liebevoll auf die Schulter. "Jetzt befreien Sie sich mal von der nassen Kleidung, sonst holen Sie sich noch einen fürchterlichen Schnupfen."
"Ach was, so schlimm wird's schon nicht gleich werden. Schuhe und Jacke genügen", wehrte Gerlinde ab, während sie die Jacke auszog. Sie hatte nämlich außer Unterwäsche, Nachthemd und Waschzeug, keine andere Kleidung mitgenommen, zumal sie Hamburg bei herrlichem Wetter verlassen hatte.
Doch Frau Hoppe, die den Grund für ihre Abwehr ahnte, führte sie entschlossen ein Stückchen den Flur entlang zum Badezimmer. "Ziehen Sie sich alles aus, was naß ist. Ich habe zwar Ihren doppelten oder gar dreifachen Umfang, aber besser so als die Hälfte. Ich such schnell etwas heraus. Ihre Sachen hängen wir dann über die Heizung. Die stell ich gleich an, ein bißchen Wärme kann man heute gut vertragen. Schließlich sollen Sie keine Erkältung als Andenken mit zurücknehmen."
Bei so viel Freundlichkeit und Offenheit konnte Gerlinde nicht anders, als einwilligen.
Frau Hoppes dunkelblaues, weißgetupftes Baumwollkleid hing wie ein Sack an Gerlindes magerem Körper und reichte ihr bis tief hinunter an die Waden. Sie hatte ein buntgestreiftes Frottiertuch um den Kopf gewickelt, und ihre Füße steckten in Herrn Hoppes neuen Kamelhaarpuschen, die ihr viel zu groß waren. Ein Goldkettchen mit einem goldenen Medaillon zierte ihren schlanken Hals.
Im Wohnzimmer erwartete Herr Hoppe sie, der sie mit einem wohlgefälligen Schmunzeln begrüßte.
"Und das ist unser Maximilian", stellte Frau Hoppe ihr den bunten Papagei vor, dessen großer Käfig die Fensterecke einnahm, wo zuvor Christinas Klavier gestanden hatte. Jetzt wußte Gerlinde auch, woher dieses komische Lachen gekommen war, das sie vorhin vom Flur aus gehört hatte.
"Er ist ein Geschenk von einem Hotelbesitzer, der von Christinas Tierliebe gelesen hatte", erklärte Herr Hoppe, der in seinem Sessel am Kopfende des gedeckten Kaffeetisches wieder Platz genommen hatte. "Nur Maxi war ständig im Konflikt mit Penny."
"Das ist Christinchens kleiner Pudel", ergänzte Frau Hoppe. "Der knurrte jedesmal, wenn Maxi was sagte, und da er viel sagt, wurde viel geknurrt. Deshalb kam der Vogel zu uns."
Auf Gerlindes freundliche Worte hin musterte Maxi sie interessiert. Ihre Aufmachung mußte selbst ihm die Sprache verschlagen haben, dachte Gerlinde. Doch im selben Moment, als sie ihm den Rücken zudrehte und auf dem Sofa Platz nahm, gab er ein krächzendes: "Du Schlaumeier, hahaha!" von sich. Gerlinde mußte lachen, während Frau Hoppe peinlich berührt den Papagei entschuldigte. Maxi lachte laut auf und wippte unruhig auf seiner Kletterstange hin und her.
"Seine erlesene Ausdrucksweise hat uns auch dazu gezwungen, das Telefon in die Küche verlegen zu lassen. Einem Vogel kann man wohl einiges beibringen, aber nichts abgewöhnen", bemerkte Herr Hoppe, um möglichen weiteren Peinlichkeiten vorzubeugen. "Wir sind immer froh, wenn er nicht zuviel sagt, besonders wenn Besuch da ist."
Gerlinde fand Maxi zwar leicht überdreht, aber recht lustig. Zwischen die bunten Kissen in die Sofaecke gekuschelt, fiel ihr mit einem Mal auf, wie wohl sie sich trotz der fremden Kleidung unter diesen Menschen fühlte, die sie jetzt kaum eine halbe Stunde kannte. Die Atmosphäre in diesem gutbürgerlich eingerichteten Wohnzimmer war warm und gemütlich. So hatte sie sich das Zuhause einer bekannten Filmschauspielerin und Sängerin nicht vorgestellt. Zumindest hatte sie viele Fotos von Christina erwartet; lediglich ein großes ge-
88

rahmtes Portrait von ihr hing an der Wand über dem Sofa.
"Ja, das ist unser Christinchen", sagte Frau Hoppe, die Gerlinde beim Betrachten der Aufnahme beobachtete, und in ihrer Stimme war Freude und Stolz gleichermaßen deutlich zu hören.
"Schön sieht sie aus", sagte Gerlinde überzeugt. "Ich habe sie bisher nur einmal in einem Film gesehen, weil ich sparsam mit meinem Geld umgehen muß. Ich glaube, persönlich würde ich sie nicht wiedererkennen."
"Ach, das denken Sie nur. Wie oft ist es schon vorgekommen, daß alte Freunde, die sich nach langer Zeit wieder begegnen, plötzlich das Gefühl haben, nur kurz getrennt gewesen zu sein", räumte Frau Hoppe ein.
"Alte Freunde?" gab Gerlinde zu bedenken.
"Naja, Brieffreunde, aber das ist doch in eurem Fall dasselbe, so viel, wie ihr euch gegenseitig in den Briefen anvertraut habt."
Wie übertrieben, dachte Gerlinde, denn sie hatten sich eigentlich äußerst wenig anvertraut, und gesehen hatten sie sich als Kinder nur zweimal; das mußte Frau Hoppe doch wissen.
Völlig unerwartet fragte Frau Hoppe Gerlinde plötzlich, von wem sie das hübsche Haar geerbt hätte.
Gerlinde errötete verlegen; sie war Komplimente über ihr Aussehen nicht gewohnt und wußte nicht so recht, wie sie darauf reagieren sollte. "Meine Großmutter mütterlicherseits soll die gleiche Haarfarbe gehabt haben. Ich habe nur mal eine schwarzweiße Kinderfotografie von ihr gesehen, da hatte sie kurze Locken."
"Vielleicht hatten Sie als kleines Kind oder als Baby auch welche?" fragte Frau Hoppe interessiert.
Überrascht schaute Gerlinde sie an. "Ja. Woher wissen Sie das?"
"Das war nur eine Frage, weil Sie ja auch die Haarfarbe offenbar von Ihrer Großmutter geerbt haben. Viele Menschen haben nur als kleine Kinder Locken, genauso, wie mancher Glatthaariger während der Pubertät welche bekommt."
"Vom Friseur", spöttelte ihr Mann.
"Nein, von Natur, du Schlaumeier. Ach du meine Güte", Frau Hoppe hielt sich die Hand vor den Mund, "jetzt bedienen wir uns bereits seiner Ausdrucksweise", sagte sie mit einem Seitenblick auf Maxi, der einen Lachkoller bekam. Frau Hoppe ignorierte ihn und wandte sich wieder Gerlinde zu: "Ihre Großmutter lebt also nicht mehr?"
"Nein, es leben nur noch sehr wenige Verwandte von mir, und die wohnen in der Ostzone. Hier im Westen, in Hamburg, lebt nur Frau Beese, die ich seit klein auf Tante Magda nenne. Sie war die beste Freundin meiner Mutter, denn meine Eltern lebten früher auch in Hamburg. Kurz bevor meine Mutter auf der Flucht starb, erinnerte sie mich noch mal an ihre Freundin", gab Gerlinde bereitwillig Auskunft.
"Und trotzdem wuchsen Sie alleine in München auf."
"Weil ich dort gleich nach der Flucht angekommen war. Frau Beese hatte im Krieg alles verloren, doch jetzt hat sie endlich eine eigene kleine Wohnung."
"Wodurch Ihr Umzug letzten Endes doch noch geklappt hat", warf Herr Hoppe ein.
"Ja, aber auch nur, weil Sie mir mit der Fahrkarte geholfen haben", sagte Gerlinde dankbar.
"Nein, kein Wort mehr über die Fahrkarte", entgegnete Frau Hoppe bestimmt. "Schließlich freuen wir uns schon auf Ihre Besuche; damit dürfen wir doch rechnen?"
Gerlinde fühlte sich mit dieser gewiß gut gemeinten Einladung etwas in die Enge getrieben, denn sie dachte sofort an die damit verbundenen Reisekosten. Für sie war es mühselig genug, sich ihr Studium durch Küchenarbeit zusammenzusparen. Trotzdem stimmte sie höflichkeitshalber zu.
89

"Von Hamburg bis Kiel ist ja keine große Entfernung, wie Sie inzwischen selbst erfahren haben", meinte Herr Hoppe. "Wie heißt es doch in einem Lied? 'Von Hamburg bis Kiel, das kostet nicht viel'?"
"Ja, so heißt es", bestätigte seine Frau. Sie war aufgestanden und notierte gerade am Schreibschrank auf einem Zettel: Magda Beese, Hamburg. Dann setzte sie sich wieder zu ihnen an den Tisch. "Ja, so heißt es", wiederholte sie nachdenklich, als plötzlich ihre Augen aufleuchteten. "Ich habe eine glänzende Idee; nächstes Mal holt unser Kurt Sie bei Frau Beese in Hamburg ab."
"Kurt?" fragte Herr Hoppe spöttisch. "Der scheint ja nicht mal den Bahnhof seiner eigenen Heimatstadt zu finden."
Frau Hoppe ließ sich nicht beirren. "Wären Ihre Eltern also nicht nach Pommern verzogen, Gerlinde, dann wären Sie eine waschechte Hamburgerin geworden."
"Auch dann wohl kaum, denn ich wurde zwei Monate früher als erwartet in den Sommerferien geboren. Immerhin hat es mir zwei Geburtstage eingebracht, einen offiziellen und einen inoffiziellen", erzählte Gerlinde freudig aus ihrer Kindheit. "Der inoffizielle wurde mit dem meines Vaters im September gefeiert, denn wer war in den Schulferien schon zu Hause, um zur Geburtstagsfeier zu kommen."
Frau Hoppe kannte das Problem. "Unser Christinchen hat ihren Geburtstag im Juli, am fünfundzwanzigsten."
"Auch Ende Juli, genau wie ich", sagte Gerlinde vergnügt.
In diesem Augenblick wurde die Wohnungstür aufgeschlossen. Gleichzeitig klingelte in der Küche das Telefon.
"Wenn wir Glück haben, ist das unser Christinchen!" rief Frau Hoppe hoffnungsvoll und eilte hinaus.
Herr Hoppe, gesprächiger als zuvor, nahm die Unterhaltung wieder auf. Er erkundigte sich eingehend nach Gerlindes Berufsplänen, obwohl sie darüber bereits geschrieben hatte. Sie wiederholte aber gerne alles noch mal, in der Hoffnung, er möge dabei von selbst erkennen, daß ihre finanzielle Lage ihr keine häufigen Reisen nach Kiel erlaubte.
Dann griff sie geschickt auf ihre Kindheit zurück und erzählte, wie der Lehrberuf ihres Vaters sie zu ihrer eigenen Berufswahl angeregt hatte. "Meinen Vater nahm ich mir auch in manch anderer Hinsicht zum Vorbild." Nachdenklich sprach sie weiter: "Er wurde erst kurz vor Kriegsende eingezogen und kam nicht mehr zurück."
"Ja, das waren furchtbare Zeiten", sagte Herr Hoppe, der Hans-Jürgens Tod noch nicht verwunden hatte. Seine Frau und er zeigten ihre stille Trauer in den regelmäßigen Gängen zum Friedhof. "Wenn man bedenkt, daß Ihnen die traurigen Folgen der Flucht erspart geblieben wären, wenn Ihre Eltern nicht aus Hamburg fortgezogen wären, dann fragt man sich doch: Werden wir vom Schicksal bestimmt, oder gestaltet der Mensch sein Schicksal selbst?"
"Wäre uns wirklich alles erspart geblieben, so sehr, wie Hamburg im Krieg zerstört wurde?" gab Gerlinde zu bedenken. "Man weiß es nicht."
Während der ganzen Unterhaltung spürte Gerlinde, wie Herr Hoppe sie beobachtete. Zwar nicht aufdringlich, jedoch auffällig genug, gerade so, als studiere er sie. Aber wen würde ihr Anblick nicht irritieren, dachte sie verständnisvoll, denn schließlich hatte er nicht täglich das Vergnügen, sich mit einer Vogelscheuche zu unterhalten.
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, denn Kurt kam ins Wohnzimmer, wo er sogleich von seinem Vater mit einem milden Tadel empfangen wurde.
"Es tut mir wirklich leid", entschuldigte er sich, "ich habe noch auf den nächsten Zug gewartet."
"Ja, ja,", winkte Herr Hoppe ab. Für ihn galt lediglich die Tatsache, daß Kurt Gerlinde nicht abgeholt hatte.
90

Kurt wußte es, und er war froh, daß sein Vater seine Enttäuschung nicht noch deutlicher zeigte, sondern ihn nun mit Gerlinde bekannt machte.
"Ja, ich bin Christinas Bruder, Fräulein Hoffmann", sagte Kurt. "Aber ich bin leider keine Reklame für'n Jungbrunnen, wie meine Schwester." Er strich sich über sein bereits schütter gewordenes Haar. "Wovon ich früher zu viel hatte, habe ich nun zu wenig. Und das, obwohl ich erst siebenundzwanzig bin."
"Erst?" Herr Hoppe wiegte bedenklich seinen Kopf. "Gerade kein übertrieben junger Junggeselle."
"Wir heiraten alle spät, Fräulein Hoffmann", meinte Kurt entschuldigend.
"So? Christina ist dafür ja der beste Beweis, nicht wahr?" Herr Hoppe schüttelte ärgerlich den Kopf.
"Ach Vater", entgegnete Kurt mit einem schelmischen Grinsen, das seinem Gesicht einen jungenhaften Ausdruck verlieh. "Jedenfalls freue ich mich, Sie kennenzulernen, ich habe nämlich schon eine Menge von Ihnen gehört", sagte Kurt zu Gerlinde und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.
"Auch, daß ich so lustig aussehe?" fragte sie lachend.
"Ja, auch darauf wurde ich soeben vorbereitet. Jetzt seh ich mal, daß meine Mutter gut ein paar Pfündchen abnehmen könnte."
"Sieh mal an, wer da spricht! Wie steht es denn mit deinen Pfunden, mein Sohn?" fragte Herr Hoppe entrüstet.
Kurt sprang auf und strich sich Über seinen Bauch: "Ich fühl mich so richtig sauwohl. Außerdem, Fräulein Hoffmann, sagen Sie selbst, bin ich wirklich zu dick?"
"Ihre Mutter ist es auch nicht", lachte Gerlinde.
Das Eis zwischen ihnen war schnell gebrochen, wie auch Frau Hoppe zu ihrer Freude bemerkte, die mit einem Teller Gebäck und einer Kanne Kaffee zurückkam. Kurt ging ihr rasch zur Hand.
"Das war Winnie am Telefon. Sie wollte wissen, wann Christinas Außenaufnahmen in Plön sind. Soweit bekannt ist, sollen sie Ende Juni stattfinden. Ja, Gerlinde, unser Christinchen ist pausenlos unterwegs."
"Aber wenn sie mal in Kiel ist, vergißt sie nie, uns auch zu besuchen", bemerkte Kurt, während er der Mutter seine Tasse zum Einschenken reichte. "Das letzte Mal ist noch gar nicht so lange her, nämlich genau am vierten April."
"An dem Tag ist Gerhard endlich aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt", ergänzte Herr Hoppe. "Er ist unser ältester Sohn."
"Ja, und am gleichen Abend ist Christinchen ganz unerwartet wieder abgereist. Dabei war sie gerade erst zwei Tage zuvor aus New York gekommen und hätte die Woche bis nach Ostern bleiben sollen."
Mit dieser Erklärung von Frau Hoppe verstand Gerlinde nun auch die Traurigkeit, die ihr vorhin bei der Begrüßung aufgefallen war.
"Ach Mutti, es dauert ja nicht mehr lange, bis sie in der Nähe von Plön filmt", tröstete Kurt sie. "Und dann fahren wir alle hin, auch Sie, Fräulein Hoffmann, denn Plön ist nicht weit von Kiel."
"Aber weiter weg als Falkenstein", sagte Gerlinde. "Der Ort muß direkt bei Kiel sein."
"Ja", Kurt nickte. " Haben Sie für Ihre Frage einen bestimmten Grund?"
"Und was für einen." Gerlindes Augen leuchteten. "Dort am Strand wurde ich nämlich der Urlaubsschrecken meiner Eltern. Im Eiltempo ging's für meine Mutter damals zur Entbindung ab nach Kiel."
"Dann sind Sie ja Kielerin", stellte Frau Hoppe erfreut fest, "genau wie wir alle."
91

Ob mit oder ohne Einladung, bei Hoppes fühlte Winnie Zieglitz sich jederzeit willkommen; auch an diesem Nachmittag. Sie hatte sich extra sportlich schick gekleidet, denn schließlich galt es, die aus München plötzlich aufgetauchte Freundin von Christina, die Frau Hoppe am Telefon erwähnt hatte, in Augenschein zu nehmen.
Das war sie also; kein Wunder, daß sie bisher nichts von ihr gehört hatte. Wer sprach schon gern über die Bekanntschaft zu einer Witzblattfigur, dachte Winnie mit einem abschätzenden Blick, als Kurt sie miteinander bekannt machte.
Verlegen nahm Gerlinde sich das Handtuch vom Kopf und entschuldigte sich für einen Moment, um sich zu frisieren.
Frau Hoppe stellte ein weiteres Gedeck auf den Tisch, während Herr Hoppe einen Stuhl heranholte, den er neben Kurts stellte. Winnies Verhalten war Kurt nicht entgangen, und an der Tür flüsterte er Gerlinde aufmunternd zu : "Machen Sie sich nichts aus dem Gör."
Sie gab ihm im stillen recht; Winnie war offenbar ein recht verwöhntes Gör. Und so etwas versuchte sie einzuschüchtern? Gerlinde schüttelte über sich selbst den Kopf.
"Humpelnd, dürr und rothaarig - eine komische Schönheit ist sie", bemerkte Winnie völlig unbekümmert, nachdem Gerlinde das Zimmer verlassen hatte.
Frau Hoppe glaubte, ihren Ohren nicht recht zu trauen. "Seit wann spottest du, Winnie?"
"Ich?" Erst jetzt wurde Winnie klar, daß sie sich die Zunge verbrannt hatte. "Ach, das ist mir nur so herausgerutscht, der Anblick halt."
"Der ist sogar sehr hübsch; dieses zarte, intelligente Gesicht ... ", wies Frau Hoppe sie energisch zurecht. "Und nicht nur das; auf der Flucht wurde sie Vollwaise, wuchs seitdem fast ausschließlich im Heim auf und verdient sich jetzt durch Küchenarbeit ihr Mathematikstudium. So ein Leben sieht ein bißchen anders aus als deines, Winnie, findest du nicht auch?" Sie reichte ihr den Teller mit Cremeschnitten, von dem Winnie sich, betroffen mit dem Kopf nickend, eine abhob.
Kurt hatte sich aus der Runde entfernt und war ans Fenster getreten, an das immer noch der Regen prasselte. Er fand Winnies Benehmen abstoßend.
Seine Mutter setzte die Unterhaltung fort: "Sag mal, Winnie, unser Telefongespräch liegt nicht mal eine Stunde zurück. Es ist erstaunlich, wie schnell du es hierher geschafft hast."
"Durch Herrn Hinrichsen, unseren Fahrer", antwortete Winnie, als sei es das selbstverständlichste von der Welt.
Frau Hoppe war erstaunt. "Dann kannst du ihn mit deinen siebzehn Jahren einfach so in Anspruch nehmen?"
"Sofern meine Eltern ihn nicht persönlich brauchen. Außerdem ist meine Mutter zur Zeit in Paris, und meine Großmutter ist auch für eine Woche verreist", erklärte Winnie und fragte dann neugierig: "Wie lange bleibt sie?" wobei es ihr nicht gelang, den Mißmut in ihrer Stimme zu unterdrücken.
"Gerlinde, meinst du? Sie bleibt übers Wochenende, das heißt, am liebsten würde ich sie ganz in Kiel behalten, dann hätten wir wieder ein junges Wesen im Haus. Was hältst du davon, Friedrich?" wandte Frau Hoppe sich an ihren Mann, der aufgestanden war, um die Heizung unterm Fenster ein bißchen zu drosseln. Alarmiert horchte Winnie auf.
Herr Hoppe zog sich die braune Strickjacke aus und sagte: "Es ist ein bißchen zu warm, findest du nicht auch?"
"Nein. Was hältst du von meiner Idee?" wiederholte seine Frau ihre Frage.
"Von welcher?"
"Daß sich Gerlinde ebensogut hier in Kiel Arbeit suchen könnte. Krankenhäuser und Hotels gibt es hier auch."
"Hm", er war etwas überrascht und setzte sich zunächst wieder, bevor er antwortete. "Bist du sicher, daß ...?" Er räusperte sich und brach die angefangene Frage ab, doch sah er am Blick seiner Frau, daß sie ihn verstanden hatte. "Vergiß nicht, in Hamburg hat sie ihre
92

sogenannte Tante", fügte er noch hinzu.
"Und hier hätte sie uns, eine Familie."
Herr Hoppe blieb skeptisch: "Eine Familie, die ihr praktisch fremd ist. Ich finde, du solltest es vorläufig bei den Besuchen belassen; Hamburg ist doch wirklich nicht weit."
In Hamburg? Nicht mehr in München, wunderte sich Winnie. Auch das noch! Dann würde sie jedesmal hier wohnen! Nein, da mußte man sich schnell etwas ausdenken. Vor allem schien Gerlinde noch keine Arbeit zu haben, war also an nichts gebunden. Winnie überlegte krampfhaft und plötzlich kam ihr die rettende Idee: Fräulein Gerda würde doch bald heiraten, und sie brauchten einen Ersatz. Wäre Gerlinde bei ihnen Hausmädchen, dann müßte sie auch bei ihnen wohnen, und wenn sie Hoppes besuchen ginge, wäre auch sie, Winnie, immer willkommen. Aber ob die Großmutter ein Hausmädchen einstellen würde, das humpelt? Sie muß! Und wenn Gerlinde nicht mitmacht?
Gerlinde kam ins Wohnzimmer zurück. Sie hatte ihre Haare frisch frisiert und nahm nun unbekümmert wieder am Tisch Platz. Winnie registrierte es mit einem unauffälligen spöttischen Seitenblick. Diese Bühnenschönheit mußte eingestellt werden, bevor Großmama zurückkam, und da durfte man keine Zeit verlieren. Am besten mit Freundlichkeit und Vorsicht zur Sache kommen, nahm Winnie sich vor.
Im Laufe des weiteren Gesprächs mußte sie noch einige Geduld aufbringen, bis sich ihr endlich die Chance bot. Es ging gerade um Kurts neue Arbeitsstelle als Tischler in Kiel, und das Thema Arbeit aufgreifend, fragte sie interessiert: "Sag mal, Gerlinde, macht es eigentlich einen Unterschied, ob du im Krankenhaus oder im Haushalt arbeitest?"
Erstaunt über das plötzliche Interesse, antwortete Gerlinde sachlich: "Der Unterschied liegt im Verdienst."
"Und wenn es keinen gäbe?" fragte Winnie.
Frau Hoppe ahnte sofort, um was es Winnie ging. Der große Haushalt und Zieglitzens Ansprüche... "In einem großen Betrieb ist die Arbeitszeit geregelt, das ist ein wichtiger Unterschied", kam sie Gerlinde mit der Antwort zuvor. "Hausangestellte werden oftmals ausgenutzt."
"Nicht bei uns", entgegnete Winnie schnell, verärgert über Frau Hoppes Einmischung. "Fräulein Gerda hat ihre geregelte Arbeitszeit, und ihrer Aussteuer nach zu urteilen, verdient sie gewiß nicht schlecht. Sie heiratet nämlich in drei Wochen, und auch wenn sie jetzt am liebsten schon frei hätte, hat sie uns versprochen, solange zu bleiben, bis wir einen Ersatz gefunden haben."
"Also daher weht der Wind", mischte Kurt sich jetzt ebenfalls ein. "Wie kann sie ersetzt werden, wenn weder deine Mutter noch deine Großmutter zu Hause sind?"
"Unsere Köchin, Frau Pingel, ist da", sagte Winnie, und es gelang ihr nur mühsam, ihren Ärger auf Kurt zu unterdrücken.
Frau Hoppe versuchte, das Thema zu beenden. "Ihr werdet sicherlich keine Schwierigkeiten haben, jemanden zu finden. Ich glaube aber, eine Stellung im Haushalt ist für Gerlinde zu anstrengend."
"Falls Sie dabei an meine Hüfte denken, Frau Hoppe; die Verletzung liegt lange genug zurück und behindert mich kaum noch direkt", erwiderte Gerlinde. "Damit will ich allerdings nicht sagen, daß ich eine Stellung im Haushalt suche. Für mich zählt wirklich ausschließlich der Verdienst."
Es entwickelte sich eine rege Diskussion über das Für und Wider einer Arbeit im Haushalt oder in einem Betrieb, und Winnie sah langsam ihre Erfolgsaussichten schwinden. Deshalb ergriff sie abermals die Initiative und schlug vor: "Ein Anruf bei Frau Pingel schadet nichts, und hinterher wissen wir mehr."
Gerlinde fand Winnie zwar trotz ihrer momentanen Freundlichkeit alles andere als sympathisch, aber sollte sich das Gehalt lohnen, und sollte sie angenommen werden, warum
93

eigentlich nicht? Sie hatte sich in ihrem Leben schon oft anpassen müssen.
"Ich würde mich freuen, Gerlinde, wie ist es?" fragte Winnie ungeduldig.
Gerlindes Achselzucken genügte Winnie als Zusage. Sofort sprang sie auf und ging in die Küche zum Telefon. Dieser Eifer machte Frau Hoppe skeptisch. Unter dem Vorwand, nochmals Kaffee aufzubrühen, ging sie ebenfalls in die Küche und kam gerade rechtzeitig, als Winnie ihr Gespräch begann:
"Frau Pingel? Hier ist Winnie. - Ja, Winnie. Frau Pingel, stellen Sie sich vor, ich habe hier bei Hoppes das Mädchen kennengelernt, den Ersatz für Fräulein Gerda, ja wirklich. Gerlinde heißt sie. Was würde sie verdienen? - Ich weiß, daß mich das nichts angeht, aber sie nimmt die Stellung nur, wenn das Gehalt stimmt. Sie will nämlich mal Mathe studieren. - Und ob! Frau Pingel, noch fester mit beiden Beinen auf der Erde stehen als die, kann niemand, der geborene Schürzentyp. Sie steht morgens mit dem Staubwedel auf und geht abends damit ins Bett. Außerdem, bedenken Sie mal, so doof wie unser Günther ist, ein Hausmädchen, das ihm täglich Nachhilfeunterricht in Mathe geben kann, so ein Wunderexemplar hatten wir noch nie. Das allein wäre schon ein paar Mark extra wert. Darüber können Sie ja mal mit meinem Vater sprechen. Gerlinde kommt sich dann bei Ihnen und Vati vorstellen, okay? - Ja, bis nachher, tschüs!"
Frau Hoppe atmete auf; das war ein kurzes, handfestes Gespräch.
94

MONTAG, 6.6.1955
Gerlinde stand am Küchentisch und putzte Gemüse, als neben ihr plötzlich winselnd Fräulein Plattschnut auftauchte. Nichts Gutes ahnend, schaute Gerlinde von ihrer Arbeit auf: natürlich, in der Tür, die von der Küche direkt in den Garten führte, stand Winnie und grinste sie an.
Ja, sie hatte erreicht, was sie hatte erreichen wollen, aber ein Triumph war verfrüht, dessen war Gerlinde sich sicher. "Jetzt schon aus der Schule zurück?" sagte sie. "Wehe, wenn Frau Pingel den Hund in der Küche sieht."
"Hund?" wandte Winnie empört ein. "Diese Primadonna habe ich Günther zum letzten Geburtstag aus dem Tierheim geholt, als Ersatz für unseren Felix. Wenn auch eine Primadonna, die doofe Schnauze ist dieselbe, der Rest ist egal. Frau Pingel ist es übrigens gleich, ob Fräulein Plattschnut in der Küche ist. Großmama scheucht sie immer raus, und die ist ja noch auf Reisen." Winnie schleuderte ihre Schultasche auf den Fußboden vor die weißlackierten Küchenschränke und flegelte sich auf einen der Stühle am Tisch.
"Daß du heute bei uns Gemüse putzt, hättest du dir vorige Woche nicht träumen lassen, wie?" Sie nahm sich eine der geputzten Karotten. "Warum ist Frau Hoppe eigentlich so nett zu dir?"
Gerlinde sah sie erstaunt an: "Wahrscheinlich ist es gegenseitige Sympathie; sie ist wie eine Tante zu mir."
"Wie lange kennt ihr euch?" fragte Winnie weiter.
"Hoppes und ich?"
Winnie schüttelte den Kopf. "Nein, Christina und du."
"Kennen ist gut, wir haben uns vor einigen Jahren am Heiligabend im Waisenheim gesehen, und später trafen wir uns noch mal durch Zufall", erzählte Gerlinde nachdenklich.
"Frau Hoppe sagt doch immer, ihr seid Freundinnen."
"Nein, wir waren Brieffreundinnen, mehr nicht."
Erleichtert sagte Winnie: "Dann bin ich beruhigt. Der erste Platz von Christinas Feundinnen ist nämlich längst besetzt."
"Von dir?"
"Wünschenswert."
"Also nicht?" bemerkte Gerlinde mit leichter Ironie.
"Nein. Sie heißt Inga. Die beiden haben schon in der Sandkiste gebuddelt und halten zusammen wie Pech und Schwefel. Ich bin erst später auf der Bildfläche erschienen." Winnie schubste Fräulein Plattschnut zur Seite, die an ihr hochspringen wollte. "Wir haben uns im Ballett kennnengelernt, wo man versucht hat, mir Grazie beizubringen."
"Ja, als Kind konnte Christina schon genauso gut tanzen wie singen. Ich habe sie im Weihnachtsmärchen 'Hansel und Gretel' gesehen", erzählte Gerlinde. "Sie war ganz allerliebst."
"Wirklich? Ich meine, daß sie allerliebst war, kann ich mir vorstellen, aber daß du sie damals gesehen hast. Du Glückliche! Stell dir vor, sie war erst dreizehn Jahre alt und hatte schon eine Hauptrolle an einer richtigen Bühne. Wie sah sie aus? Gerlinde, du mußt mir alles genau erzählen; nur einen Moment noch, ich muß erst Plattschnut raussetzen, die geht mir auf den Wecker."
Gerlinde war gerne bereit, ihre Erlebnisse zu berichten. Sie fragte sich, ob das vielleicht der erste Schritt zu einer Freundschaft mit Winnie sein könnte. Außerdem machte es ihr Spaß, die Erinnerungen an den Theaterbesuch, der sie damals sehr beeindruckt hatte, wieder her-
95

vorzuholen, zumal Winnie eine aufmerksame Zuhörerin war.
Während sie am Tisch saß, eine Karotte nach der anderen knabberte und lauschte, fiel ihr Blick auf das Medaillon, das Gerlinde trug. Kaum hatte diese ihre Geschichte beendet, fragte Winnie: "Du, dein Medaillon ist mir schon bei Hoppes aufgefallen. Bedeutet es dir viel, weil du es immer trägst?"
"Ja, es sind Bilder von meinen Eltern darin, und eins von mir", sagte Gerlinde.
"Darf ich sie sehen?"
Gerlinde hatte nichts dagegen. Sie rieb sich die Hände an ihrer Schürze trocken und nahm vorsichtig das Goldkettchen ab. Dann öffnete sie das Medaillon und reichte Winnie die Bildchen, die sie eingehend betrachtete.
Doch was konnte man darauf schon erkennen? Einen Mann und eine Frau, die sie nicht kannte und die eigentlich nur demjenigen etwas bedeuten konnten, dessen Angehörige sie waren. "Nett sehen sie aus", sagte Winnie etwas unsicher. "Und wo ist deins?"
"Unter dem Bild meiner Mutter. Sei aber bitte vorsichtig, wenn du es herausziehst", bat Gerlinde sie.
Winnie zog eine Schwarzweißaufnahme hervor. "Das bist du? Wie süß!"
Gerlinde mußte lachen; da war ihr doch spontan eine positive Kritik herausgerutscht.
Doch plötzlich, nach eingehender Betrachtung, sagte Winnie überzeugt: "Nein, Gerlinde, das bist nicht du! Ich erinnere mich ganz genau; Christina und ich haben mal bei Hoppes alte Fotografien durchgestöbert, und dazwischen war eine mit genau dem gleichen Baby, nur das Foto war größer. Ich weiß noch genau, wie verwundert Christina war. Ihre Mutter hat ihr dann erzählt, das sei eine entfernte Verwandte. Sag mal, bist du etwa mit Hoppes verwandt?"
"Oh Winnie, zügel deine Phantasie. Eine Brieffreundschaft mit Christina ist schon etwas anderes, als eine Verwandtschaft zu Hoppes", entgegnete Gerlinde.
Winnie sah ein, daß man sich auch mal irren konnte. "Aber auf jeden Fall hast du früher mal süß ausgesehen", sagte sie unbekümmert. "Und in zwei Wochen können wir Christina endlich besuchen; die wird Augen machen, wenn sie dich wiedersieht." Mit diesen Worten griff Winnie sich ihre Schultasche und verließ die Küche, um sich, wie sie sagte, 'pflichtbewußt' den Hausaufgaben zuzuwenden.
96

DIENSTAG, 21.6.1955
Es war Spätnachmittag, als der Reisebus durch die sanfte hügelige Landschaft der Holsteinischen Schweiz nach Plön fuhr. Draußen zogen Felder, schmucke Bauernhöfe und kleine Ortschaften vorbei, und die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel.
Das ist genau der richtige Tag zum Reisen, dachte Inga, während sie aus dem Fenster schaute. Hoffentlich wird das Wiedersehen mit Christina auch so erfreulich. Das letzte Mal hatte sie Christina im Januar in Kiel gesehen. Es war ein Abend gewesen, an den sie sich seither oft erinnert hatte. Sie hatte Christina vor einem Glas Kognak angetroffen, das offensichtlich nicht das erste gewesen war. Warum Christina? fragte Inga sich auch jetzt wieder, als sie sich den Abend ins Gedächtnis zurückrief:
"Ja, warum? Vielleicht weil ich manchmal überhaupt nicht mehr weiß, wer ich bin und was ich mache."
Wie widersinnig; und das ausgerechnet von Christina zu hören, die so erfolgreich war, pausenlos filmte, deren Fotos ständig die Titelseiten der Magazine zierten und die immer nur gute Kritiken bekam. Außerdem hatte sie einen gutaussehenden Mann, der, ohne zu klagen, ständig alleine war, und eine reizende Tochter, die sich mit den kurzen Besuchen der Mutter begnügen mußte.
Christina lächelte schwach. "Mir ist, als zeigt mir dein Schweigen deine Gedanken."
"So?" Inga schaute sie ernst an. "In diesem Fall wiederhole ich meine Frage: Warum, Christina?"
"Mein Gott, dein ewiges 'Warum?' - Na gut, wenn's dich glücklicher macht; ich hatte Besuch von Gottfried Steiner. Kennst du seine Frau Margot?"
"Nein." Inga kannte auch ihn nicht persönlich, wußte aber, daß er seit der Kieler Faust-Aufführung zu Christinas Freunden gehörte.
"Margot besuchte ihre kranke Schwester in Frankfurt und wurde dort selbst krank Nun fehlte Gottfried das nötige Geld für die Reise nach Frankfurt; er hat oft Geldprobleme bei den geringen Gagen und wenigen Engagements, außerdem ist er noch Vater von zwei Kindern", erzählte Christina.
"Hast du ihm ausgeholfen?"
"Hattest du etwas anderes erwartet?"
"Nein, eigentlich nicht", antwortete Inga.
"Du nicht, aber Ric. Und dem ist Steiner ausgerechnet in die Arme gelaufen, als er gehen wollte. Sie grüßten sich nur kurz, von mir aber verlangte Ric dann eine Erklärung. Das Resultat: er reagiert sich jetzt seine Wut ab, wahrscheinlich dort, wo Männer meistens ihre grundlose Wut rauslassen."
Und ihr genügte offenbar so ein kleiner Ehedisput, um zur Flasche zu greifen. Inga schüttelte verständnislos den Kopf und hob dann ein Buch auf, das jemand in seinem Zorn auf den Boden gefeuert hatte. Es war ein Filmmanuskript.
"Oh, du erkennst es ganz richtig, mein nächster Film", sagte Christina. Niedergeschlagen schaute sie auf das Glas in ihrer Hand. "Ja, Angelika schläft, Mommsens sind im Kino, und ich?" Doch plötzlich richtete sie sich auf und lächelte: "Ich habe Besuch von dir, darüber freue ich mich sehr. Ach Inga, heute ist halt so ein Tag, an dem man alles verfluchen möchte, und morgen lacht man über seine Launen."
Inga lehnte sich in den Sitz zurück. Mittlerweile war sie sicher, daß Christinas Verhalten ein deutliches Zeichen der Auswirkungen ihrer harten Arbeit war. Warum legte sie keine größeren Pausen ein? Inga hatte immer geglaubt, ihre Freundin genau zu kennen. Sie hatte
97

sich fest vorgenommen, jetzt, bei ihrem Besuch in Plön, mit Christina zu reden.
Kurze Zeit später hielt der Bus in Plön. Inga mußte mit dem Taxi weiterfahren, das sie zu dem außerhalb gelegenen Gutshof brachte, wo die Aufnahmen gemacht wurden. Dort angekommen, wies ihr ein leicht untersetzter, älterer Herr, der nach Rasierwasser duftete, den Weg zu Christinas Zimmer im ersten Stock. Die Wiedersehensfreude war groß:
"Inga! Guten Abend! Du also!" rief Christina erfreut und sprang vom Sekretär auf, an dem sie gesessen hatte. "Meine Mutter hat mir telefonisch Besuch angekündigt, aber ohne zu verraten, wer es sei." Ihr Gesicht strahlte und glücklich drückte sie Ingas Hände. "Wie nett von dir, Inga. Ich freu mich."
Auch Inga freute sich, sie endlich wiederzusehen. Lachend sagte sie: "Meine Mutter hat bestimmt mit deiner gesprochen, sonst wüßte die es ja nicht. Aber ist ja auch egal. Sag mal, mit deinem Turban", sie zeigte auf das weiße Frottiertuch, das Christina um den Kopf geschlungen hatte, "hätte ich dich fast nicht erkannt. Im ersten Moment dachte ich, ich bin im falschen Zimmer gelandet."
Christina hatte wohl gerade geduscht; ihr Hausanzug aus weinrotem Samt wies auf getane Tagesarbeit hin. Mit ausgebreiteten Armen zeigte Christina auf das Zimmer: "Hier ist für einige Tage mein Reich", sagte sie. "Weißt du, Inga, daß es schon wieder über fünf Monate her ist, seit du mich das letzte Mal bei mir zu Hause besucht hast?"
Und ob sie das wußte! "Wie nett, daß du dich noch daran erinnerst, vor allem daran, daß du auch noch ein Zuhause hast."
"Ohje, Inga, ich hör schon wieder den Auftakt zu einer Moralpredigt. Ich freu mich so über deinen Besuch, aber bitte, sprich heute kein Wort über meine Arbeit", bat Christina sie. "Von meinen Eltern und Geschwistern bekomme ich das oft genug zu hören."
"Ach, und deshalb soll ich schweigen? Aber gerade das fällt mir schwer", erwiderte Inga offen. Sie warf einen Blick auf den Sekretär: "Schon wieder Autogramme?"
"Ja, Autogramme und nochmals Autogramme. Ich hatte gerade Zeit dazu", sagte Christina fast entschuldigend.
Inga betrachtete die drei unterschiedlichen Aufnahmen und zeigte dann mit dem Finger auf die, die ihr am besten gefiel. "Diese da unterschreibst du bitte noch für mich, und dann ist Feierabend für heute."
"Ach komm, du hast mich doch in natura."
"Aber nicht mit langen Zöpfen. Außerdem werde ich mich in natura bald eher mit einem Omalook begnügen müssen, wenn du dein Arbeitstempo nicht einschränkst."
"Ein äußerst reizendes Kompliment!" lachte Christina und schrieb eine Widmung auf das Foto. Inga steckte es sich gleich in die Tasche.
Sie nahm Christina den Füllfederhalter aus der Hand, die noch schnell eine weitere Fotografie unterschreiben wollte, schob die Aufnahmen in den Sekretär und klappte, sehr zu Christinas Belustigung, die Schreibtischplatte hoch. "Und jetzt ist endgültig Schluß, du Trotzkopf*
"Ist ja nett! So wurde ich als Kind auch oft gescholten", amüsierte sich Christina.
"Das kann man heute noch genauso gut zu dir sagen, denn das hier", Inga nahm ein halbvolles Glas vom Sekretär, "ist, wenn mich mein Geruchssinn nicht täuscht... "
"Nein, der ist leider besser, als mir lieb ist", unterbrach Christina sie und nahm ihr das Glas aus der Hand. "Whisky - Prost! Es ist nicht immer leicht, Christina Gessler zu sein. Darf ich dir auch ein Glas einschenken? Whisky mit Zitronensaft gemischt schmeckt gut, solltest du mal probieren."
Inga ließ sich nicht beirren: "Zitronensaft ohne Whisky, bitte; und wenn du mir dabei Gesellschaft leistest, dann schmeckt er mir noch besser."
"Ich sag's ja immer wieder, an dir ist eine Diplomatin verloren gegangen." Christina nahm aus einer kleinen Vitrine ein weiteres Glas und füllte es am Tisch mit frischem Zitronensaft.
98

Unterdessen schaute sich Inga etwas genauer in dem geräumigen Zimmer um. Es war, bis auf das grüne Plüschsofa und die zwei dazugehörenden Sessel, im Biedermeierstil eingerichtet und wirkte im Schein der Abendsonne sehr gemütlich. Durch zwei geöffnete Fenster wehte milde Luft herein, die die bunten Gardinen leicht bewegte. Die Stille wurde nur durch die lebhafte Diskussion zweier Männer im Nachbarzimmer und durch Schlagermusik, die aus dem Parterre herauf tönte, gestört.
Christina reichte ihr das Glas, und Inga probierte vorsichtig einen Schluck.
"Es ist reiner Zitronensaft." Christina konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. "Inga, hier bei meinen Kollegen im Haus findest du auch nicht bloß Limonade und Selterswasser. Außerdem sind die Dreharbeiten für heute beendet, und darauf noch einmal Prost!" Christina nahm einen absichtlich großen Schluck und setzte sich vor die Spiegelkommode.
Inga hatte mittlerweile auf dem Sofa Platz genommen und saß aufrecht, während sie mit beiden Händen ihr Glas auf den Knien hielt. "Christina, wenn du nicht bald eine solidere Lebensweise beginnst, dann ist es mit deiner Karriere plötzlich mal vorbei."
Christina lachte nur, nahm sich das Frottiertuch vom Kopf und begann ihr Haar zu bürsten. "Übrigens bin ich hier in einer Woche fertig, dann werden die Dreharbeiten in Berlin fortgesetzt. Anschließend erfülle ich einen Vertrag in London und ... Kurz, ich bin bis zum Jahresende voll ausgebucht. Was sagst du dazu?"
Inga war entsetzt: "Ohne eine Pause dazwischen?"
"Ja." Christina band sich geschickt ein weinrotes Seidenband um den Kopf, das ihre Haare aus der Stirn hielt. "Nächstes Jahr feiern wir aber ganz sicher ein Wiedersehen in Kiel." Sie ging zum Sekretär und holte aus einer Schublade eine Notenmappe hervor. "Schau mal, was das ist: 'La Traviata' am Kieler Stadttheater. Meine Partie wird die Violetta sein. Ein Geschenk von Ric zu meinem zwanzigsten Geburtstag. Von da an darf ich nämlich selbst über meine Gagen verfügen. Den Tag läßt er sich nicht entgehen; der wird groß gefeiert. Ja, Ric versteht es wirklich, mich zu verwöhnen."
"Ich versteh überhaupt nichts mehr, Christina", sagte Inga verwirrt.
"Ein Schluck Whisky, und dein Geist wird wieder klar." Christina wollte sich ihr Glas wieder füllen, doch Inga legte ihre Hand auf die Flasche, die neben dem kleinen Krug mit Zitronensaft und der Vase mit bunten Strohblumen stand.
"Christina, bitte hör mir mal zu. Probleme sind dazu da, daß man sich mit ihnen auseinandersetzt, um sie auf vernünftige Weise zu bewältigen."
"Du hast leicht reden", versuchte Christina sich zu verteidigen. "Dein Leben verläuft in geordneten Bahnen. Im vergangenen Jahr hast du dein Abitur gemacht, und zur Zeit verdienst du dir im Büro das Geld fürs Studium, das du im nächsten Jahr antrittst. Ich aber frage mich immer wieder, wer ich eigentlich bin, wem ich ähnlich sehe, von wem ich die Stimme geerbt habe."
"Das ist doch kein Grund, sich dem Alkohol zu ergeben", warf Inga ein.
"Nein, aber meine Angehörigen wollen, daß ich mich mehr meiner Familie widme, während Ric nur meine Karriere interessiert. Ich stehe ständig in der Mitte."
"Ric ...?" Inga glaubte nicht recht zu hören. "Und dagegen wehrst du dich nicht?"
"Mein Gott, wie oft schon. Du hättest Ries Argumente hören sollen: ich würde ihm später die Schuld an meiner verpatzten Karriere geben, oder ich wäre noch zu jung, um bereits urteilen zu können." Christina füllte ihr Glas jetzt auch mit Zitronensaft, dann setzte sie sich Inga gegenüber in den Sessel und lehnte sich seufzend zurück. "Oh Inga, gegen Ric bin ich machtlos."
"Ist das eure Liebe, die in der Öffentlichkeit so gepriesen wird?" fragte Inga ungläubig.
Nachdenklich nippte Christina an ihrem Glas. Dann schüttelte sie den Kopf: "Aber immerhin bin ich mit Ric verheiratet; ein Vorteil gegenüber einer anderen, die übrigens auch
99

verheiratet ist. Du mußt nämlich wissen, daß ein Mann wie Ric nicht alleine ist."
"Was? Bist du dir sicher?"
"Ja, seit Gerhards Rückkehr aus der Gefangenschaft im April. Um es genauer zu sagen, seit dem vierten April, dem Montag vor Ostern. Ich vergesse diese Tage nie mehr. Am zweiten April war ich aus New York zurückgekommen, und Ric hatte mich auf dem Hamburger Flughafen abgeholt. Statt mir traurig den Tod seiner angeblich über alles geliebten Tante in Wiesbaden mitzuteilen, stellte er mir stolz seinen neuen Sportwagen vor, den er vom geerbten Geld gekauft hatte. Sportwagen, mußt du wissen, sind nämlich Ries große Leidenschaft."
Inga war sprachlos. Das konnte Christina doch nicht alles erfunden haben, das mußte wirklich stimmen.
"Mit ihm zu fahren, war übrigens die reinste Nervenprobe für mich. Jedenfalls erfuhr ich sofort bei meiner Ankunft zu Hause, daß mein Bruder zwei Tage später aus Rußland zurückerwartet wurde. Und er kam. Die Freude, Inga, kann ich nicht beschreiben, aber Gerhards Anblick war erschütternd." Für Sekunden barg Christina ihr Gesicht in den Händen, dann fuhr sie mit einem Seufzer fort: "Ja, am Tag von Gerhards Heimkehr war ich früher, als Ric mich zurückerwartet hatte, von meinen Eltern nach Hause gekommen. Ich überraschte ihn mit seiner sogenannten Kollegin vor dem Haus, gerade als sie abfahren wollten. Sie hätte ihren Wagen in der Werkstatt gehabt, und deshalb hätte Ric ihr seine Hilfe angeboten. Beide waren sehr erstaunt, als ich diese Kollegin mit 'Frau Elfie Kunze' begrüßte, noch bevor sie mir vorgestellt werden konnte. Mit äußerster Liebenswürdigkeit gab ich ihr sogar die Hand; weiß der Teufel, wie ich dazu fähig war. Sie sah gut aus, Inga, diese Elfie Kunze. Ric hat wirklich einen guten Geschmack." Christina konnte dem Anblick der Flasche nicht länger widerstehen, doch Inga kam ihr wieder zuvor. Diesmal stellte sie die Flasche neben sich auf den Fußboden.
'Bitte erzähl weiter", bat Inga, als sei nichts gewesen.
'Weiter? Es gibt nicht mehr viel. Ric fuhr sie halt nach Hause, und ich warf mich zunächst wutentbrannt aufs Bett. Als ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, überlegte ich mir, welchen Vorteil diese Kunze mir gegenüber hatte, und ich kam zu dem Ergebnis: sie war älter und reifer als ich. Da, Inga, wurde mir zum ersten Mal klar, daß ich in Ries Augen von Anfang an nichts anderes als ein unerfahrenes Mädchen gewesen war, dem er aus einer peinlichen Situation geholfen hatte, und dem eine große Karriere in Aussicht stand. Verstehst du, Gagen! Geld! Er schließt nämlich sämtliche Verträge ab."
"Das klingt unglaublich, Christina."
"Ja, so ist es aber. Für mich gibt es nur eine Möglichkeit, seine Liebe zu gewinnen: ich muß ihm beweisen, daß ich nicht mehr sein Schulmädchen bin." Sie erhob ihr Glas. "Auf das mein Erfolg wächst. Und was sagen die Reporter zu dieser Tragikomödie?" Seufzend ließ sie ihren Arm sinken. "Sie halten mich für arbeitssüchtig, ehrgeizig, besessen und so weiter."
"Sag mal, haben deine Eltern noch nicht hinter die Kulissen deiner Ehe geschaut?" fragte Inga.
"Gottlob nicht, und niemals, Inga, niemals dürfen sie etwas erfahren. Ich hab dir das alles im Vertrauen erzählt. Jetzt weißt du auch, warum wir uns im April nicht mehr gesehen haben. Bevor Ric wieder zurück war, bin ich kurzerhand abgefahren. Seitdem verständigen wir uns ausschließlich telefonisch. Ric hat bis heute nicht nach dem Grund gefragt, und ich habe nichts gesagt."
"Wieso warst du dir bei dieser Kunze so sicher?" wollte Inga wissen.
Christina erzählte ihr, was sie von Frau Mommsen wußte. Inga war skeptisch, ob das alles wirklich Beweise für eine Affäre waren. Aber so direkt wollte sie das Christina nicht sagen. Vorsichtig fragte sie: "Wäre es nicht besser, wenn du Ric daraufhin ansprechen würdest? Nur so kannst du Klarheit in die ganze Sache bringen."
"Das geht nicht", erwiderte Christina kopfschüttelnd. "Ich habe Frau Mommsen versprochen, nichts zu sagen. Außerdem würde es bei Ries ausgeprägtem Starrsinn sowieso nichts nützen."
100

"Vielleicht doch, denn du solltest mal hören, wie besorgt er von dir spricht."
"Von seinem kleinen Kuckuck, nicht wahr?" höhnte Christina.
Inga fragte sich besorgt, ob Christina überhaupt noch zwischen Wirklichkeit und Phantasie unterscheiden konnte. "Ich bitte dich, Christina, unternimm was; fang bei deinen Verträgen an, schränke zunächst dein Arbeitspensum ein, bevor es zu spät ist, und dann... "
"Pst!" unterbrach Christina sie. Es hatte an der Tür geklopft. Inga kam diese Störung sehr ungelegen, während Christina sogleich aufsprang. Aus ihrem Gesicht waren schlagartig alle Spuren des Kummers verschwunden, als sie nun gelassen 'Herein' rief.
"Christina, Besuch für dich", rief Roland Petersen, der Regieassistent, als hinter ihm auch schon Winnie im Türrahmen erschien.
"Hallo Christina, ich bin's!" rief sie fröhlich. "Schau mal, wen ich dir mitgebracht habe; unser neues Hausmädchen."
Winnie zeigte auf ihre Begleiterin, die, während Petersen sich wieder verabschiedete, langsam näherkam.
Christina begrüßte Winnie erfreut, und als sie ihrer Begleiterin die Hand reichte, stutzte sie: "Ihr Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor."
"Da bin ich schon mal froh, aber auch überrascht, nach all den Jahren", sagte das Mädchen lächelnd. "Ich bin Gerlinde, Gerlinde Hoffmann."
Christina schlug vor Überraschung die Hände über dem Kopf zusammen: "Gerlinde! Aus München! Das darf doch nicht wahr sein!" Sie umarmte Gerlinde voller Herzlichkeit. "Daß wir uns nach all den Jahren wiedersehen! Bei mir regt sich sofort das schlechte Gewissen, weil ich dir nicht mehr geschrieben habe. Hoffentlich bist du mir nicht böse. Aber sag, was machst du in Kiel?"
"Ich habe doch gesagt, sie arbeitet bei uns", mischte Winnie sich ein.
"Na gut, aber wie bist du nach Kiel gekommen und ausgerechnet bei Zieglitzens gelandet?" fragte Christina genauer, ohne Winnie auch nur eines Blickes zu würdigen.
Winnie ließ Gerlinde aber auch diesmal keine Chance zur Antwort. Verwundert hatte sie Ingas Anwesenheit bemerkt und konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen: "Gerlinde, das ist übrigens Inga, Christinas Beichtmutter."
"Jetzt schlägt's aber Dreizehn, holdes Kind", rief Christina verärgert über die vorlauten Bemerkungen, während Inga und Gerlinde sich die Hand reichten. "Wie hältst du es nur den ganzen Tag mit solch einem Hofnarren aus, Gerlinde?"
Gerlinde umging die Antwort mit einem vielsagenden Lächeln.
"Ich hab dir übrigens früher schon von Gerlinde erzählt, Inga", sagte Christina. "Wir haben uns durch Zufall in München kennengelernt und uns geschrieben, bis ich", sie wurde verlegen, "ja, bis ich nach Kiel zurückfuhr. Ach Gerlinde, entschuldige bitte meine Schreibfaulheit."
"Du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen", erwiderte Gerlinde ruhig. "Wir waren damals doch praktisch noch Kinder."
Inga erinnerte sich an Christinas Schilderungen, besonders an die Schokolade, die sie damals im Spind aufbewahrt hatte, und die zum Schluß ganz weiß geworden war.
"Ach Gott, die Schokolade. Die hatte ich in München in der Hoffnung aufgehoben, dich und Liselotte mal wiederzusehen", erzählte Christina lachend.
Inga erhob sich und schwang sich ihre Tasche über die Schulter: "Weißt du, Christina ..."
"Willst du etwa schon gehen?" fragte sie enttäuscht.
"Nein, aber ihr habt euch lange nicht gesehen, da ist man gern mal alleine. Ich werde eine Weile die Landschaft genießen, und Winnie leistet mir dabei Gesellschaft", sagte Inga bestimmt.
"Besuch ich dich oder Christina?" rief Winnie trotzig.
"Winnie!" Inga ermahnte sie so energisch, daß sie erstaunlicherweise nicht mehr
101

widersprach. So unauffällig wie möglich ergriff Inga im Hinausgehen die Whiskyflasche, doch Christina bemerkte es natürlich.
"Wozu nimmst du die denn mit?" fragte sie belustigt.
"Damit die Enten und Gänse weiterfeiern können", antwortete Inga kurz.
"Möchtest du noch mehr mitnehmen?"
Winnie lachte laut auf, und Gerlinde wandte sich schmunzelnd ab, als Inga Christina einen verärgerten Blick zuwarf: "Gib mir alles, was du hier hast."
"Hm, lieber nicht; das Federvieh wird morgen bei den Außenaufnahmen gebraucht, und leicht angesäuselte Darsteller könnten die Szene schmeißen."
"Komm, Winnie!" befahl Inga kurz.
"Gleich!" Christina hielt Winnie am Arm zurück. "Mich interessiert noch, wie ihr eigentlich hierhergekommen seid?"
"Mit unserem Fahrer", antwortete Winnie. "Er wartet unten."
"Und was sagen deine Eltern dazu?"
"Was sollen sie sagen? Mein Vater hat doch seine Zustimmung gegeben."
"Und deine Mutter?" fragte Christina weiter.
Winnie schüttelte ungeduldig den Kopf. "Die kommt morgen früh aus Paris zurück."
"Wenn sie es erfährt, schlägt sie bestimmt Purzelbäume vor Freude", bemerkte Christina.
"Oh, deine ewige Kritik! Ich muß jetzt gehen, der Admiral hat's befohlen." Winnie drehte sich um und verließ hinter Inga das Zimmer.
"Himmel!" rief Christina, als sich hinter ihnen die Tür geschlossen hatte "Ein gutgemeinter Rat, Gerlinde, laß dich von Winnie nicht ins Bockshorn jagen. Am besten, du hältst dich an Inga, sie ist das, was man eine echte Freundin nennt. Ich bin ja selbst leider kaum noch zu Hause. Aber, jetzt nimm erstmal Platz und erzähl mir in Ruhe, wie du überhaupt nach Kiel gekommen bist. Und warum du ausgerechnet bei Zieglitzens arbeitest."
"Ja, die Familie Zieglitz ... " Gerlinde setzte sich aufs Sofa. Sie war plötzlich froh darüber, endlich mit Christina alleine zu sein. Bereitwillig erzählte sie von ihrem Umzug und Stellenwechsel, und wie alles damit angefangen hatte, daß Frau Hoppe Liselotte um ihre Adresse gebeten hatte.
Christina holte unterdessen ein Glas aus der Vitrine und schenkte Gerlinde Zitronensaft ein. Dann setzte sie sich wieder in ihren Sessel und hörte gespannt zu. Unvermittelt fragte sie sich im stillen, warum sie sich eigentlich so sehr über Gerlindes unerwarteten Besuch freute. Sie hatten sich doch nur zweimal als Kinder gesehen. Gerlinde war inzwischen, genau wie sie selbst, erwachsen geworden, auch wenn sie sich nicht stark verändert hatte. Ihre schmale Figur und ihre zarten Gesichtszüge waren dieselben geblieben, und auch ihre freundliche, zurückhaltende Art hatte sie nicht verloren. Wieso hatte Christina das eigenartige Gefühl, als hätte sie Gerlinde schon immer gekannt?
"Woran denkst du, Christina?", unterbrach Gerlinde ihre Schilderungen.
Die plötzliche Frage überraschte Christina. "Ich höre dir zu", antwortete sie schnell. Sie spürte, wie sie errötete, weil sie sich ertappt vorkam. "Ganz bestimmt", betonte sie mit Nachdruck. "Ich mußte nur an unsere zweite Begegnung in München denken... "
"Vor'm Geschäft?"
"Ja. Es ist schon seltsam, wie sich so manches im Leben wiederholt. Damals hatte Elsbeth für dich das Wort, heute war es Winnie", sagte Christina.
"Da hast du recht. Elsbeth ist übrigens Verkäuferin in einem Musikgeschäft, was bei ihrer Redseligkeit genau der richtige Beruf ist. Und Liselotte studiert seit zwei Jahren in München Literatur."
"Wollte sie nicht Krankenschwester werden?" fragte Christina erstaunt.
Gerlinde war verblüfft. "Daß du das noch weißt!"
"Also stimmt's. Ich kann mich nämlich nicht mehr an alles erinnern. Zum Beispiel war
102

ich der Meinung, daß ihr beide dieselbe Klasse besucht habt, aber dann hättet ihr ja auch das Abitur im gleichen Jahr gemacht."
"Auch das hast du ganz richtig in Erinnerung. Aber ich war von einem Auto angefahren worden", Gerlinde wies auf ihre Hüfte, "und der Unfall hat mich um ein Schuljahr zurückgeworfen."
Christina bekam wieder ein schlechtes Gewissen. "Ich hätte wirklich auf meine Mutter hören und dir früher schreiben sollen. Dann hätten wir während dieser Zeit wenigstens Kontakt gehabt. Es tut mir wirklich leid."
"Ach, nun laß doch. Dafür habe ich jetzt deine Familie kennengelernt. Und deine Mutter, Christina, ist wirklich ein rührender Mensch. Mich gleich zu Ostern einzuladen, ohne mich überhaupt zu kennen."
"Vielleicht kannte sie dich besser, als du denkst. Ich habe ihr so viel von der Zeit in München erzählt. Sie hatte übrigens schon vor knapp zwei Jahren ohne mein Wissen an Frau Schubert geschrieben, um dich einzuladen. Aber der Brief kam zurück, und so erfuhren wir von Frau Schuberts Tod", erzählte Christina.
"Ja, Frau Schubert starb ganz plötzlich, nach einer kurzen Krankheit. Ich habe nie richtig erfahren, was ihr eigentlich gefehlt hat, aber ich durfte sie noch einmal im Spital besuchen. Es war ein Tag, an den ich mich noch genau erinnere, obwohl es im Oktober schon fünf Jahre her ist. Ich wußte nicht, ob sie mich überhaupt noch erkennen würde, denn sie bekam starke Drogen gegen die Schmerzen. Aber als sie mich sah, hat sie schweigend meine Hand ergriffen, und ausgerechnet in dem Moment, Christina, hatte einige Türen weiter ein Mädchen geschrien. Nur gut, daß eine Rot-Kreuz-Schwester bei mir gewesen war, denn alles zusammen, war einfach zu viel."
"Das glaube ich", sagte Christina verständnisvoll. Plötzlich erinnerte sie sich an etwas: "Sag mal, Gerlinde, in welchem Krankenhaus war das?"
Als Gerlinde den Namen Dr. Hofstadt erwähnte, war sich Christina sicher: ihre Wege hatten sich in München ein drittes Mal gekreuzt.
Gerlinde war verwirrt. Sie verstand nicht so recht, warum sie ausgerechnet Christina dieses Erlebnis erzählt hatte, über das sie sonst kaum sprach. "Es ist übrigens dasselbe Hospital, in dem ich nach der Schulentlassung in der Küche gearbeitet habe", sagte sie.
"Du hast doch dann nach Frau Schuberts Tod wieder im Kinderheim gewohnt. Das war doch bestimmt nicht einfach", fragte Christina mitfühlend.
"Immerhin hatte ich eine Unterkunft", gab Gerlinde zu bedenken.
"Ach Gerlinde, deine Bescheidenheit drückt mir nur noch mehr aufs schlechte Gewissen. Ich hätte dir wirklich schreiben sollen. Sprechen wir lieber nicht mehr davon; oder - nein, ich hab's!" Christina schnalzte mit den Fingern und sprang auf. Sie holte eine Ansichtskarte und ihren Füller aus dem Sekretär. "Die Karte schreiben wir beide jetzt zusammen an Liselotte, einverstanden?"
Und wie Gerlinde einverstanden war. Sie freute sich über Christinas unkompliziertes Wesen. Von einem Menschen, der so sehr in der Öffentlichkeit stand und verehrt wurde, wie sie, hatte sie das nicht selbstverständlich erwartet.
103

MITTWOCH, 22.6.1955
An der Treppe der ersten Etage horchte Gerlinde auf; von unten aus der Eingangshalle vernahm sie zwei Frauenstimmen. Frau Eggert begrüßte ihre Tochter, die soeben aus Paris zurückgekommen war. Gerlinde schaute auf die Vase mit den verwelkten Blumen in ihrer Hand. Sie wollte sie gerade hinunterbringen. Ob sie nun damit warten sollte? Sich Frau Zieglitz jetzt vorzustellen, ging sicher kurz und schmerzlos, denn direkt nach der Rückkehr von einer Reise hatte man wohl kaum großes Interesse am neuen Personal.
Auf halber Treppe blieb Gerlinde staunend stehen. Es war das erste Mal, daß sie Frau Zieglitz sah; ihre schlanke Erscheinung, elegant in einem silbergrauen Kostüm und in gleichfarbigen Pumps gekleidet, beeindruckte Gerlinde. Und wie erstaunlich herzlich Frau Eggert sein konnte, wie verbindlich ihr Ton. Gerlinde wußte, daß sie mit ihrem festgeflochtenen Zopf und dem schlichten dunkelblauen Baumwollkleid, über dem sie eine weiße Trägerschürze trug, adrett aussah. Dennoch gab sie sich einen Ruck, bevor sie weiter nach unten ging. Sie stellte die Vase auf einem Tischchen neben der Treppe ab und trat mit einem freundlichen Lächeln auf Frau Zieglitz zu.
Der Begrüßung konnte Gerlinde weder Abneigung noch Freundlichkeit entnehmen. Frau Zieglitz war lediglich verwundert, wieder ein neues Mädchen im Haus zu sehen. Nachdenklich fragte sie: "Gerlinde, sagten Sie? Haben wir uns schon mal irgendwo gesehen? Mir kommt es so vor, als kenne ich Sie."
"Wohl kaum", kam Frau Eggert Gerlinde mit der Antwort zuvor. "Fräulein Gerlinde ist ein Flüchtling aus Pommern."
"Ach so." Frau Zieglitz fragte sich insgeheim, was die Mutter wohl zu ihrer Wahl veranlaßt hatte, ein leicht gehbehindertes und nicht sehr kräftiges Hausmädchen einzustellen. "Nun, die Flüchtlingszeit liegt Jahre zurück, es hätte ja angehen können, daß wir uns schon mal in einem anderen Haushalt begegnet wären."
"Es ist meine erste Haushaltsstelle", antwortete Gerlinde.
"So, und haben Sie sich schon eingelebt?"
"Doch, ja." Gerlinde hatte in den zweieinhalb Wochen begriffen, daß man sich in diesem Haushalt zu rühren hatte, aber dafür verdiente sie auch etwas mehr.
"Sehr schön", sagte Frau Zieglitz. "Dann kümmern Sie sich bitte um mein Gepäck. Die Reisetasche kommt ins Schlafzimmer; auspacken werde ich sie später selbst. Meine gesamte Garderobe können Sie gleich hier unten aus dem Koffer nehmen; ich möchte sie heute noch zur Reinigung gebracht haben, teilweise nur zum Auffrischen. Herr Hinrichsen kann Sie damit hinfahren."
Das war eine freundliche, sachliche Anweisung, die Gerlinde gefiel, und sogleich trug sie die Tasche nach oben.
Frau Eggert und Frau Zieglitz gingen gemeinsam auf die Terrasse hinaus, um sich ungestört unterhalten zu können. In der Sonne war es so warm, daß Frau Zieglitz nochmals ins Wohnzimmer hineinging, und ohne Kostümjacke, die obersten Knöpfe ihrer roten Seidenbluse geöffnet, trat sie mit einer angezündeten Zigarette wieder hinaus auf die Terrasse. Sie zog sich einen Liegestuhl neben den Gartensessel der Mutter und setzte sich hin, sichtlich froh, sich nach den Anstrengungen der Reise endlich entspannen zu können. Das Plätschern des kleinen Springbrunnens im Garten und der süße Duft des Flieders, der das Grundstück säumte, wirkten beruhigend.
"Gerlinde macht übrigens einen netten intelligenten Eindruck", sagte Frau Zieglitz nach einem tiefen Zug an ihrer Zigarette. "Du hattest sie bei unseren Telefongesprächen nicht erwähnt."
104

"Ich bitte dich, Viktoria", entgegnete Frau Eggert. "Hattest du allen Ernstes eine Diskussion über die Hausangestellten am Telefon erwartet? Noch dazu, wenn man von einem Menschen so gut wie nichts weiß, außer daß er geflüchtet ist und in einem Heim in München als Vollwaise herangewachsen ist?"
"Hat sie hier im Westen niemanden?"
"Doch, es kam einmal ein Brief für sie von einer Frau Beese aus Hamburg, anscheinend eine frühere Freundin der Mutter. Also, Viktoria, du mußt schon zugeben, daß man ein beachtliches Risiko eingeht, wenn man einen Menschen einstellt, von dem man nichts, aber auch absolut nichts weiß", sagte Frau Eggert.
Ihre Tochter sah sie verwundert an: "Dann ist es aber sehr erstaunlich, daß du sie trotz dieser Zweifel eingestellt hast."
"Aber, ich bitte dich! Ich war gar nicht hier. Nein, das hast du deinem Mann zu verdanken, oder, genauer gesagt, Eleonores Drängeln bei ihm und Frau Pingel. Gerlinde ist nämlich eine Freundin von dieser Gessler, und du weißt, was man alleine davon schon zu halten hat."
Das wußte Frau Zieglitz allerdings. "Glücklicherweise ist Christina ja kaum noch zu Hause."
"Das wohl schon", stimmte Frau Eggert zu. "Die Freundschaft aber scheint sich auf die gesamte Hoppe-Familie zu beziehen, vor allem der Sohn ruft ab und zu hier an und holt sie ab."
Darüber beruhigt nahm Frau Zieglitz einen Zug von der Zigarette: "Und wie verrichtet sie eigentlich ihre Arbeit?"
"Ordentlich. Frau Pingel hat sie gut in der Hand, in den Bewegungen ist sie zwar ein bißchen langsam, dafür aber um so flinker mit den Händen. Diebstahl habe ich auch noch nicht beobachtet, aber sie ist ja auch erst kurze Zeit hier. Übrigens hat sie die Oberschule besucht und will Mathematik studieren."
"Also ist sie eine gute Hilfe für Günther. Ich verstehe nicht, Mutter, was für dich dann noch fraglich ist", sagte Frau Zieglitz kopfschüttelnd.
Energisch richtete Frau Eggert sich auf. "Damit teilst du genau die Ansicht deines Mannes. Fraglich ist für mich ihre Herkunft, daß du das nicht verstehst, Viktoria. Man möchte schließlich etwas mehr über die Eltern wissen, wenn man so ein Mädchen im eigenen Hause wohnen hat."
Frau Zieglitz verlor jegliches Interesse, sich noch länger über die neue Hausangestellte zu unterhalten. Schließlich war sie selbst gerade aus Paris zurückgekommen und hatte das Bedürfnis, der Mutter von den Parties und Modenschauen zu erzählen. Nach einem tiefen Zug an ihrer Zigarette wechselte sie das Thema, gerade als Winnie im rosa Morgenmantel, barfuß und ungekämmt auf der Terrasse erschien. Gähnend wünschte sie einen guten Morgen.
"Wo kommst du her?" fragte Frau Eggert böse.
Winnie schaute leicht belustigt an sich herab. "Eigentlich seh ich nicht so aus, als wenn ich von einem Einkaufsbummel komme. Du aber siehst blendend aus, Mutti." Sie gab der Mutter einen Kuß.
"Naseweise Antwort", schimpfte Frau Eggert. "Seit wann entschuldigt ein schulfreier Tag Langschläferei?"
Günther, der auch auf die Terrasse kam, schnappte die Frage der Großmutter auf, und voller Eifer, seiner Schwester brüderlichen Beistand zu leisten, sagte er: "Nur diesmal, Großmama, so spät, wie sie und Gerlinde aus Plön zurückgekommen sind." Er hatte zwar genauso spät aus den Federn gefunden, aber immerhin war er schon angezogen, was seine Mutter mit einem Kompliment registrierte.
"Ja, wir haben Christina dort nach ihren Dreharbeiten besucht", erklärte Winnie. "Paps hat es erlaubt", fügte sie rasch hinzu. "Er hat uns sogar Herrn Hinrichsen zur Verfügung gestellt."
105

"Wieder mal euer Vater!" rief Frau Eggert entrüstet.
"Großmama, Christina und ich sehen uns kaum noch; sie hat ständig neue Verträge zu erfüllen, und glaub mir, es scheint nicht leicht zu sein, immer vor der Kamera zu stehen," erklärte Winnie.
"Ja, denkt mal, sie trinkt deshalb schon", fügte Günther hinzu, der glaubte, damit Verständnis für Christina zu wecken.
"Dich sollte man mit dem Klammerbeutel pudern, du Idiot, wenn man dir schon mal was auf die Nase bindet", fuhr Winnie ihn an und versetzte ihm einen Puff. Völlig verdattert machte Günther sich aus dem Staub.
"Winnie!" warnte die Mutter in scharfem Ton.
"Erst ein uneheliches Kind, und jetzt Trunksucht? Das ist skandalös! In so einer Gesellschaft treibt sich meine Enkelin herum." Frau Eggert konnte sich gar nicht beruhigen. "Wie oft, Eleonore, haben wir dich gewarnt? Viktoria, da sagst du nichts?"
Frau Zieglitz zuckte nur mit den Achseln. Schließlich hatte ihre Mutter alles gesagt, was zu sagen war.
"Wenn ihr Richter wärt, würde jeder Angeklagte, egal ob schuldig oder nicht, erbarmungslos am Galgen landen, oder zumindest auf Nimmerwiedersehen ins Gefängnis geschickt werden. Christina war zu Angelikas Geburt doch verheiratet, ist das nicht alles, was zählt?" Und bevor Frau Zieglitz, die sie böse ansah, sich äußern konnte, sprach Winnie hastig weiter: "Außerdem sehe ich Christina so selten; aber nächstes Jahr im Juli, da feiert sie ihren zwanzigsten Geburtstag in Kiel, und ich bin eingeladen."
"Juli sechsundfünfzig?" fragte Frau Zieglitz nachdenklich.
'Ja. Das ist noch ein ganzes Jahr hin. Und noch etwas; du Großmama, hast doch Christinas Stimme früher mal sehr gelobt. Du kannst sie dir nächstes Jahr in Kiel anhören, in 'La Traviata'. Christina wird die Violetta singen."
"Eine äußerst passende Rolle für sie", bemerkte Frau Eggert abschließend und erhob sich.
"Seit wann verachtest du Verdi?" rief Winnie ihrer Großmutter nach, die, ohne sich noch einmal umzuwenden, die Terrasse verließ.
"Jetzt hast du es wieder mal geschafft", tadelte Frau Zieglitz ihre Tochter, während sie ihre Zigarette ausdrückte.
"Großmutter kann mir die Freundschaft mit Christina nicht verbieten!" sagte Winnie trotzig. "Ihr sucht immer nur die negativen Seiten, aber daß sie schuftet wie ein Pferd, das entgeht euch. Auch wie rührend sie und die ganze Familie Hoppe sich um Gerlinde kümmern, die praktisch seit der Flucht kein richtiges Zuhause hat. Weißt du, was das für einen Menschen bedeutet?"
"Gerlinde ist ja jetzt hier... " entgegnete Frau Zieglitz.
"Ja, Mutti, und Christina, da bin ich mir ganz sicher, hat es in ihrem Leben auch nicht immer leicht gehabt", sagte Winnie nachdrücklich.
"Winnie, wir sind nicht für die Probleme anderer da, die sie sich selbst zuzuschreiben haben."
Aufgebracht sprang Winnie vom Liegestuhl hoch. "Nein! Nur ein bißchen Verständnis dürftet ihr haben. Würde nämlich nicht Christina die Violetta singen, würdet ihr alle ins Theater gehen, mit Großmutter jubelnd voran. Ich kenn sie doch!" entlud Winnie ihre Wut und stürmte davon.
"Winnie! Du zügelst bitte deine Worte!" rief Frau Zieglitz ihr noch nach. Dann war sie froh, endlich alleine zu sein.
106

MITTWOCH, 13.6.1956
In ihrem dicken grünen Pullover, den langen grauen Hosen, und einen grünen Schal um den Kopf gebunden, fühlte Gerlinde sich einem Spaziergang mit Kurt am Hafen entsprechend angezogen. Sie stand auf der Bahnhofsbrücke, es wehte ein kühler Wind, und skeptisch betrachtete sie die tiefen Wolken. Dann sah sie auf ihre Armbanduhr - sie mußte noch zehn Minuten warten, wenn Kurt es bis vierzehn Uhr schaffte. Meistens kam er aber zu spät. Immerhin hatte man hier am Hafen keine Langeweile. Gerlinde atmete tief den Geruch von Tang und Teer ein, den sie sehr liebte. Das Wasser war leicht bewegt, Frachter zogen vorüber, und in der Ferne leuchteten zwei Segel. Sie mochte die Atmosphäre und dankbar dachte sie an Hoppes, die es ihr ermöglicht hatten, ihre Geburtsstadt kennenzulernen. Ja, Hoppes, seufzte sie, wie sehr würde sie heute alle enttäuschen. Aber es war ihr Leben, ihre Zukunft, die sie sich aufzubauen versuchte.
Gerlinde sah hinüber zu den Werften und den reparaturbedürftigen Schiffen, als sie einen sanften Händedruck auf ihrer Schulter spürte, und eine vertraute Stimme sagte: "Heute bin ich aber pünktlich."
Sie drehte sich um. Da stand Kurt, im marineblauen Wollpullover und mit weißer Pudelmütze, und lachte sie an.
"Kurt,... " Sie begrüßten sich erfreut. "Aber pünktlich?" lächelnd wies Gerlinde auf ihre Armbanduhr.
"Naja, so ziemlich", entgegnete er mit einem schelmischen Augenblinzeln und nahm sie in die Arme. Seinen Kuß wehrte Gerlinde jedoch ab.
"Bei Zieglitzens geht eine starke Erkältung mit Fieber um", erklärte sie ihm. "Frau Eggert und Günther sind schon auf dem Weg der Besserung, jetzt fühlt Frau Zieglitz sich nicht wohl. Das gleiche kann ich von mir sagen; zwar hab ich noch keinen Schnupfen, aber halt so allgemein... "
"Dann gehörst du ins Bett", sagte Kurt besorgt.
"Bei Zieglitzens? Das kannst du nicht ernst meinen. Den Luxus kann man sich als Hausmädchen nicht leisten."
"Dann legst du dich bei uns ins Bett", schlug Kurt vor. "Meine Mutter ist eine vorzügliche Krankenpflegerin."
Gerlinde schüttelte den Kopf. "Nein, danke, das ist lieb von dir, aber wer würde sich dann um die Wehwehchen der Herrschaften kümmern? Und nur die zählen."
"Diese Schmarotzertypen, die sind mir schon lange ein Dorn im Auge; auch wegen Christina, wie die über sie denken", sagte Kurt verärgert.
Das stimmt, pflichtete sie ihm im stillen bei. Es war noch ein ganzer Monat, bis zu Christinas Rückkehr, und Zieglitzens waren jetzt schon in Abwehrhaltung. Gerlinde umfaßte Kurts Arm. Vielleicht würde er gerade in diesem Augenblick ihren Entschluß am besten verstehen können. Sie holte tief Luft und sagte dann hastig, so als wollte sie alles schnell hinter sich bringen: "Kurt, ich hatte nach München geschrieben, und gestern kam die positive Antwort. Ich möchte nämlich schon dieses Jahr mit dem Studium anfangen. Und das kann ich unmöglich mit meiner Tätigkeit bei Zieglitzens verbinden, wohl aber mit der Schichtarbeit im Spital."
Kurt sah sie entgeistert an; das kam weiß Gott unerwartet. "Warum ausgerechnet München, Gerlinde?" fragte er betroffen. "Hospitäler gibt es doch auch hier."
"Das weiß ich, aber in München bekomme ich meine alte Stellung zurück. Meine Kolleginnen sind noch alle da und freuen sich auf meine Rückkehr. Und im Falle einer
107

Grippe, Kurt, kann man sich krankschreiben lassen."
"Und wenn du noch ein, nein, sagen wir lieber, eineinhalb Jahre wartest? Das ist wichtig!" sagte Kurt eifrig.
Erstaunt sah Gerlinde ihn an. "Warum wichtig?"
Kurt wurde verlegen und stammelte: "Halt für dich, für uns alle, weil... Naja, weil man eben nichts übereilen sollte. Und Weihnachten sollst du doch in diesem Jahr bei uns feiern, meine Mutter plant jetzt schon dafür."
"Mein Gott, sie auch? Dabei ist doch erst Juni!" lachte Gerlinde. "Die Herrschaften erwarten nämlich zum Fest Besuch aus Paris, und das hätte für mich bedeutet, am Heiligabend und ersten Feiertag zum Dienst antreten zu müssen."
"Reine Schikane ist das!" Mißmutig schlug Kurt mit der Hand auf die Brüstung.
"Glaub mir Kurt, es war kein rascher Entschluß, aber mein Studium ist mir wichtig. Außerdem weißt du, daß Frau Zieglitz und Frau Eggert ständig Angst haben, daß ich meine ganze freie Zeit mit euch verbringe. Wenn die zum Beispiel wüßten, daß ich jetzt hier bin ... Ich geh heimlich fort und werde hinterher gewöhnlich gefragt, wo ich gewesen bin. Nun stell dir das mal nächsten Monat vor, wenn Christina in Kiel ist", sagte Gerlinde und schüttelte den Kopf. "Ich besitze viel Anpassungsfähigkeit, Kurt, aber diese ständigen Konflikte wegen meiner Freundschaft zu euch halte ich nicht aus." Sie dämpfte ihre Stimme etwas und fügte hinzu: "Ich habe meinen Entschluß gefaßt; nächste Woche kündige ich, und dabei bleibt es."
"Und wir beide?" fragte Kurt bedrückt.
Gerlinde hatte diese Frage erwartet und sie wußte selbst, daß auch sie Kurt vermissen würde. "Wir beide müssen uns etwas einfallen lassen, um uns mal wiederzusehen."
"Mal?" fragte Kurt enttäuscht. "Nein, oft und am besten immer. Du wirst deinen Plan noch ändern, Gerlinde", sagte er bestimmt, was sie sehr überraschte. Sie waren zwar sehr gute Freunde geworden, aber er hatte ihr keine Vorschriften zu machen.
Das kam auch Kurt sehr wohl zu Bewußtsein; er hatte eine Idee, wie die Situation noch zu retten sei. Suchend tastete er nach dem Kartenspiel in seiner Hosentasche und deutete dann auf ein Fährschiff, das sich der Anlegestelle näherte. "Machen wir eine Hafenrundfahrt, einmal Laboe hin und zurück?" fragte er Gerlinde. "Fahrkarten habe ich bereits."
Sie nickte zustimmend. "Und sollte das Wetter sich halten, gehen wir in Laboe spazieren. Einverstanden?"
"Damit schon", entgegnete Kurt, "aber mit deiner Rückkehr nach München nicht. Das wird auch meine Familie sehr enttäuschen, sie haben dich nämlich sehr ins Herz geschlossen, Gerlinde."
"Ich sie auch Kurt, das weißt du genau, aber ich bin mir sicher, daß sie mich verstehen werden. So, und jetzt wechseln wir das Thema, schließlich habe ich nicht umsonst eine Kopfschmerztablette genommen; ich wollte mich einigermaßen gut fühlen, um ein paar schöne Stunden mit dir zu verbringen", sagte Gerlinde und schmiegte sich an ihn.
Während sie beobachteten, wie das Fährschiff, die 'Möltenort', auf die Brücke zusteuerte, überlegte Kurt, wie er seinen Plan am besten verwirklichen konnte. Er brauchte ein ruhiges Plätzchen, um die Karten für sich sprechen zu lassen.
Doch als sie an Bord waren, sah Kurt sein Vorhaben gefährdet. Im Aufenthaltsraum drängten sich wegen des unbestimmten Wetters viele Menschen; mißmutig schaute Kurt, ob sie irgendwo noch einen freien Platz finden konnten. Gerlinde nahm seine Hand und lächelte ihm aufmunternd zu, aber sie hatten kein Glück und mußten auf dem Außendeck zwischen anderen Passagieren auf einer Bank Platz nehmen. So hatte Kurt sich das nicht vorgestellt. Warum mußte auch ausgerechnet heute eine Reisegruppe unterwegs sein. Es herrschte große Unruhe, und Kurts Nervosität stieg von Anlegebrücke zu Anlegebrücke, denn niemand verließ das Schiff.Wiederholt griff er in seine Hosentasche zu den Karten.
Bei der Ankunft in Möltenort fielen die ersten Regentropfen, aber glücklicherweise ging
108

auch der Großteil der Passagiere von Bord. Kurt atmete auf und verließ mit Gerlinde das Außendeck. Im Aufenthaltsraum war es fast menschenleer geworden, und in einer Ecke fanden sie das, was Kurt sich von Anfang an gewünscht hatte; einen Tisch mit zwei freien Bänken. Jeder an einem Fensterplatz, saßen sie sich nun gegenüber, und ohne zu zögern holte Kurt die Karten hervor und legte sie auf den Tisch.
"Mir war gar nicht klar, daß du ein Kartenspieler bist", sagte Gerlinde belustigt.
"Und was für einer!" erwiderte Kurt und erhob Achtung heischend seinen Zeigefinger. "Aber es geht nicht um einfache Glücksspiele, nein, in diesen Karten steht die Zukunft geschrieben."
Gerlinde brach in lautes Gelächter aus und hielt sich rasch die Hand vor den Mund. Verstohlen sah Kurt sich um, aber weder das alte Ehepaar noch der Mann gegenüber schienen sich um sie zu kümmern.
Kurt schüttelte verständnislos den Kopf: "Gerlinde, das ist kein Spaß, du wirst sehen, ich kann dir wirklich die Zukunft voraussagen."
"Danke vielmals", wehrte sie lachend ab, "mir reicht bereits die Gegenwart."
"Aber deine Zukunft, Gerlinde, die sieht rosig aus. Fortuna ist auf deiner Seite. Ich hatte die Karten für dich schon mal gelegt, aber jetzt mußt du es selbst machen."
Gerlinde wollte ihm den Spaß nicht verderben, schob sich ihren Wollschal vom Kopf und begann, langsam und etwas ungeschickt, die Karten zu mischen, während Kurt die Bedienung herbeirief.
"Für mich bitte einen Grog, und für meine Verlobte ... ", fragend schaute er Gerlinde an, die vor lauter Verblüffung kein Wort herausbrachte. "Tee, bitte", entschied sich Kurt rasch für sie.
"Was soll das bedeuten?" fragte Gerlinde, als sie wieder alleine waren.
"Entschuldige, es ist mir nur so herausgerutscht. Die Karten haben es mir verraten", entgegnete er.
"Kurt, wenn du mir etwas sagen möchtest, brauchst du dich doch nicht hinter diesem Hokuspokus zu verstecken."
'Tu ich auch nicht, ehrlich", sagte Kurt, ohne rot zu werden. "Die Karten haben mir etwas anderes verraten, etwas ganz Wichtiges für deine Zukunft. Tu mir den Gefallen und misch weiter. Ich warte noch auf meinen Grog, und dann fangen wir an." Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte angespannt.
"Deine Gedanken möchte ich lesen können", sagte Gerlinde.
"Ich konzentriere mich nur", erklärte er kurz.
"Ah ja, auf das, was du mir gleich alles vorspinnen willst. Hoppla!" rief sie, denn ihr waren die Karten aus der Hand gerutscht, und einige waren zu Boden gefallen. Kurt sammelte sie auf, und sie schob ihm die restlichen Karten zu: "Ich hab genug gemischt, okay?" fragte sie.
"Meinetwegen, aber ich muß noch ein paar Minuten meine Gedanken sammeln", bat er. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und schloß die Augen.
"Seekrank, junger Mann?" fragte die Bedienung, die die Getränke brachte.
Kurt riß die Augen auf. "Nein, alles in Ordnung", sagte er mit einem verlegenen Lächeln, zog sein Portemonnaie hervor und zahlte. Daß ihm auch das noch passieren mußte, schimpfte er sich selbst, als er obendrein noch Gerlindes Grinsen bemerkte. Er hob sein Glas und sagte zu ihr: "Also, auf eine erfolgreiche Zukunft, Prost!"
Gerlinde antwortete mit einem zweifelnden Kopfschütteln und trank schweigend ihren Tee. Auch Kurt nahm einen kräftigen Schluck von seinem Mutspender, wie er heimlich den Grog nannte, und legte dann entschlossen neun Karten nebeneinander aufgedeckt auf den Tisch. Als Gerlinde ihn darauf aufmerksam machte, daß das Schiff gleich in Laboe anlegen würde, sagte er, nach einem Blick aus dem Fenster: "Da es regnet, fällt der Spaziergang
109

sowieso ins Wasser. Also, Gerlinde, jetzt kann es losgehen." Er fuhr mit den Fingern beschwörend über die Karten und tippte dann auf die mittlere. "Die Kreuzzehn, ja, die sagt mir, daß du sehr alt wirst. Und hier, die Karoacht bedeutet, daß du viel Geld gewinnst", sagte er ernst.
"So, dann müßte sie aber eigentlich grün sein, bei so viel Hoffnung", erwiderte Gerlinde amüsiert.
"Nicht unterbrechen", bat Kurt sie. Er schloß einen Moment lang die Augen und sagte dann mit einem strahlenden Lächeln: "Ja, so ist das. Ich sehe es jetzt ganz deutlich. Nur noch ein ganz klein wenig konzentrieren." Wieder schloß er die Augen und legte den Kopf in den Nacken, während er die Hände ausgestreckt über die Karten auf dem Tisch hielt.
Gerlinde senkte peinlich berührt ihren Blick, denn jetzt stiegen neue Passagiere hinzu, auf die Kurts Anblick bestimmt seltsam wirken mußte.
Plötzlich sagte jemand neben ihnen:"Mein Gott, bei dir hat's eingeschlagen."
Erschrocken schaute Kurt auf; vor ihnen stand Gisela mit Annelie an der Hand.
Lachend fragte sie: "Wartest du auf eine Eingebung von da oben?"
"Ich warte darauf, daß ihr wieder geht", antwortete Kurt unfreundlich.
"Aber Onkel Kurt", krähte Annelie vergnügt, "wir sind doch gerade erst gekommen." Und schon setzte sie sich zu ihrem Onkel auf die Bank. Ihre Wangen waren von der frischen Luft gerötet, und der Wind hatte ihr Haar zerzaust.
Gerlinde, gar nicht böse wegen der Störung, begrüßte beide erfreut, und während Gisela sich auch zu ihnen setzte, erzählte Gerlinde ihr amüsiert: "Laut Kurts Karten soll ich sehr alt werden, und an Geld soll's mir auch nicht mangeln."
Gisela sah ihren Bruder verständnislos an. "Wenn wir dreißig Grad im Schatten hätten, wäre die Diagnose eindeutig Sonnenstich, mein Lieber", sagte sie belustigt.
Kurt nahm es ohne Widerspruch hin, jetzt war sowieso nichts mehr zu retten, aber vielleicht konnte er heute noch mal mit Gerlinde alleine sein. Mürrisch fragte er: "Was macht ihr überhaupt hier?'
"Wir wollten an den Strand, aber jetzt ist es doch zu kalt geworden", erklärte Gisela.
"Krieg ich auch viel Geld?" rief Annelie dazwischen. "Schau mal in deine Karten, Onkel Kurt."
Er gab sich geschlagen. Unlustig breitete er die restlichen Karten auf dem Tisch aus und tippte auf den Herzkönig: "Da steht, daß dein Onkel dir nachher eine Tafel Schokolade kauft."
Annelie klatschte begeistert in die Hände und sagte: "Siehst du, Onkel Kurt, wenn wir nicht gekommen wären, dann hättest du die Karten nicht gelegt und das dann gar nicht gewußt!"
110

Vierter Teil
Ingas Prophezeiung, über alles wachse einmal Gras, war längst eingetroffen. Christina Gessler war ein Star, behebt im In- und Ausland. Aber Freunde und Angehörige kannten den Preis für den Ruhm, wenn es auch für das Publikum so aussah, als verliefe ihr Leben im Gleichgewicht, bis eines Tages erneut Schlagzeilen die Zeitungen füllten.
SONNTAG, 29.7.1956
Christina hatte die vergangenen Tage allein in einem Raum gelegen. Als sie jetzt erwachte, nahm sie erschrocken die neue Umgebung wahr: ein Saal mit zwei langen Reihen weißer Betten, die durch einen breiten Mittelgang getrennt waren. Fast alle Betten waren belegt, und die meisten Patienten schienen zu schlafen. Christina betrachtete ihre Bettnachbarin auf der linken Seite, die ebenfalls schlief. Dann wandte sie ihren Kopf zur rechten Seite und beobachtete die junge Frau, die auf dem Bett saß und murmelnd ein unverständliches Selbstgespräch führte. Niemand schien sich daran zu stören.
Christina stellte verwundert fest, daß nirgendwo Nachtschränke zu sehen waren. Ihr Blick wanderte nach vorne zum Eingang, wo einige Tische und Stühle standen. Zwei Patientinnen waren dort mit einem Würfelspiel beschäftigt. Warum trugen beide die gleichen, blauweiß gestreiften Kittel? Zwei andere Frauen, die genauso gekleidet waren, kamen den breiten Gang entlang. Wie im Gefängnis, dachte Christina verwirrt. Die beiden Frauen grüßten sie im Vorbeigehen, die eine mit einem freundlichen Kopfnicken, die andere sagte laut: "Halleluja!"
Verwundert schaute Christina ihnen nach. Wo war sie hier gelandet? Mit steigender Unruhe versuchte sie sich an den Tag ihrer Einlieferung zu erinnern:
Es war Dienstag, und sie war im Kieler Stadttheater bei den Proben zu 'La Traviata'. Georg Haller war wieder der Dirigent, und Martin Rieger, der stark beleibte Tenor aus Hamburg, war ihr Partner. Christina war enthusiastisch bei der Sache, und dennoch schien Georg Haller, der am Flügel saß, zu verzweifeln.
"Christina, kein Trauermarsch! Das ist ein Trinklied, zügig, fröhlich!" sagte er.
"Aber genauso singe ich es doch! Wie viele Wiederholungen verlangen Sie denn noch?" sagte Christina aufbrausend und bemerkte, daß Georg Haller sie verblüfft ansah. "Können wir eine kurze Pause einlegen?" bat sie, setzte sich auf einen Stuhl neben ihn und schloß für Sekunden die Augen.
"Bist du krank? " fragte Martin Rieger besorgt.
"Offen gestanden, du gefällst mir schon seit Beginn der Proben nicht so recht", bemerkte auch Haller beunruhigt.
"Ach was, nur ein kleiner Schwächeanfall, das gibt sich wieder", entgegnete Christina.
Doch Georg Haller glaubte nicht so recht daran und bestimmte, für diesen Tag Schluß zu machen.
Martin Rieger reichte Christina fürsorglich den Arm und begleitete sie in ihre Garderobe. Frau Stolte, die Garderobenfrau, war gerade nicht da, also kümmerte er sich selbst darum, daß Christina sich sofort auf die Liege legte. Er deckte sie mit ihrem leichten Mantel zu und bemerkte, daß sie trotz des warmen Sommertages fröstelte. Er zog sich einen
111

Stuhl heran und betrachtete aufmerksam ihr Gesicht. Dann sagte er besorgt: "Freitag hattest du einen ähnlichen Anfall, mir war aufgefallen, wie du dich rasch am Treppengeländer festgehalten hast."
"Das war weiter nichts", entgegnete sie.
"Christina, du solltest einen Arzt aufsuchen."
"Den Satz habe ich nun schon so oft gehört; Ärzte, immer nur Ärzte", sagte sie abwehrend. Doch dann nickte sie plötzlich und seufzte: "Vielleicht habt ihr aber recht, irgend etwas scheint nicht zu stimmen."
"Nicht nur vielleicht", betonte Rieger mit Nachdruck.
"Martin, du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich auf die Zusammenarbeit mit dir gefreut habe, mit dir und Herrn Haller. Seit Jahren schon war es mein Wunsch, hier im wieder aufgebauten Stadttheater zu singen, noch dazu meine Lieblingsoper", sagte Christina mit leiser Stimme.
"Und die wirst du auch singen", ermunterte Rieger sie, "sofern du dich möglichst rasch um deine Gesundheit kümmerst."
"Ja, um meine Gesundheit", flüsterte sie und schloß die Augen. Bald war sie in einen kurzen, unruhigen Schlaf gesunken.
Als Christina erwachte saß Gottfried Steiner bei ihr.
"Wo ist Martin?" fragte sie.
"Er wurde ans Telefon gerufen, als ich kam", antwortete Steiner.
"Ich muß ein bißchen geschlafen haben", sagte Christina und kuschelte sich fester in ihren Mantel.
Gottfried Steiner sah sie an und schüttelte dann den Kopf: "Christina, ich habe das schon lange kommen sehen. Es ist deine eigene Schuld, immer nur Gagen, Gagen, und darüber ist dir deine Gesundheit gleichgültig geworden. Wenn du wüßtest, wie du aussiehst."
"Noch nicht so, als hätte ich Violettas Schwindsucht", erwiderte sie mit einem gequälten Lächeln.
"Ich kann nur sagen, vom blühenden Aussehen der Margarethe vor vier Jahren, ist keine Spur mehr zu sehen ... "
"Hör auf, Gottfried!"
"Nein, dir muß mal jemand deine Unvernunft vor Augen führen, denn anscheinend hat dein Mann das bisher versäumt. Oder du hast einen solchen Dickschädel, daß du ihm nicht glaubst. Du wirst morgen erst zwanzig Jahre alt, hast praktisch das ganze Leben noch vor dir. Wenn du aber so weiter machst, wie bisher, ist beruflich bald alles vorbei."
Ja, morgen werde ich zwanzig, dachte Christina; morgen hat Ric sein Ziel erreicht, dann kümmert sich mein Vater nicht mehr um die Gagen. Verbittert preßte sie die Lippen aufeinander, eine Geste, die Steiner mißverstand.
"Wozu soll ich eigentlich noch reden, das hab ich früher schon vergeblich versucht. Eigentlich bin ich gekommen, um dir dein Geld zurückzugeben. Entschuldige, Christina, daß es so lange gedauert hat." Mit diesen Worten zog er einen Scheck aus seiner Brieftasche. Er wollte ihn Christina geben, doch sie schob seine Hand zurück.
"Bitte behalt ihn ", sagte sie.
"Nein, du hast das Geld nötiger als ich", entgegnete er ironisch und legte ihr den Scheck auf den Mantel.
"Gottfried, bitte nimm das Geld. Ich versteh dich doch, du mußt um jedes Engagement kämpfen und hast eine Familie zu ernähren."
"Ja, so ist es", gestand er. Er sah zu Christina, bemerkte ihren müden, traurigen Blick und bedauerte sofort, daß er so unbeherrscht gewesen war. Sie hatte ihm immer geholfen, war eine wirkliche Freundin gewesen. "Verzeih, Christina. Ich wollte dich nicht persönlich treffen, es ist meine allgemeine Unzufriedenheit. Ich bin dir doch dankbar, daß du mir damals geholfen hast."
112

"Schon gut", erwiderte Christina, "und jetzt steck den Scheck wieder ein."
"Ja, also helfen würde uns das Geld wirklich. Ich hab in letzter Zeit viele schlaflose Nächte gehabt."
"Nimmst du immer noch Schlaftabletten?" fragte sie.
Steiner steckte den Scheck zurück in seine Brieftasche und zog eine Packung Tabletten aus seiner Jackentasche: "Gerade heute habe ich mir wieder ein Rezept geholt."
"Ich habe zwar keine Schulden, schlafe aber trotzdem schlecht. Wahrscheinlich ist das der einzige Grund, weshalb ich mich nicht so ganz wohl fühle. Ich brauche keinen Arzt, sondern innere Ruhe. Morgen wird sich die Spannung bestimmt lösen. Weißt du, Gottfried, es ist kurios, aber ich fühle mich tatsächlich wie ein kleines Kind vorm Weihnachtsfest. Wenn ich nur einige Nächte richtig schlafen könnte, wäre mir schon geholfen. Bitte laß mir ein paar von deinen Schlaftabletten da ", bat sie ihn.
"Wenn sie nicht so stark wären, hätte ich nichts dagegen. Aber so keinesfalls", sagte er bestimmt und wollte die Packung wieder einstecken.
Doch Christina hielt ihn zurück. "Noch nicht! Zuerst erklärst du mir, warum die Tabletten für mich zu stark sind und für dich nicht. Und weil es in Wirklichkeit keinen Unterschied gibt, kannst du es nicht erklären", sagte sie schnell, bevor er etwas einwenden konnte. "Du siehst also, daß es keinen Grund zur Sorge gibt, und mir würden ein paar Tabletten den Gang zum Arzt ersparen. Außerdem wäre das eine Gelegenheit für dich, mir auch mal zu helfen."
"So? Ich hoffe aber, daß es nicht zur Gewohnheit wird", seufzte er und öffnete die Packung. "Glaub bloß nicht, daß die Tabletten dir den Weg zum Arzt ersparen. Bevor ich deiner Erpressung nachgebe, mußt du mir versprechen, daß du hingehen wirst. Du weißt ganz genau, daß das keine Hilfe für dich ist. Martin hat mir gesagt, du hättest am Freitag schon einen ähnlichen Anfall gehabt."
"Ich bekomme keine Anfälle", flüsterte Christina.
"Das behauptet auch niemand", antwortete jemand neben ihr.
Christina schlug die Augen auf und erkannte Gottfried Steiner, der, mit einem großen Strauß Nelken in der Hand, auf einem Stuhl neben ihrem Bett saß.
"Bist du schon lange hier?" fragte sie.
"Nein, vielleicht fünf Minuten. Christina, was machst du nur für Geschichten ... "
"Oh Gottfried, du bist mir jetzt bestimmt böse", unterbrach sie ihn.
Bedrückt antwortete er: "Eher auf mich selbst."
"Bitte nicht, die paar Tabletten von dir waren nur eine zusätzliche Sicherheit für mich. Oder sagen wir besser, ich war mir sicher, damit mehr als genug zu haben. Aber es sollte eben nicht sein", sagte sie voll Verbitterung.
"Gott sei Dank! Die Stunden, bis feststand, daß du über den Berg warst, waren unerträglich." Steiner gab ihr die Nelken. "Eigentlich hättest du sie schon Mittwoch haben sollen, heute muß ich dir nachträglich gratulieren, auch von Margot und den Kindern aus", sagte er freundlich.
"Wie aufmerksam von dir, Gottfried", sagte Christina gerührt und atmete tief den Duft ihrer Lieblingsblumen ein. Dankbar drückte sie seine Hand. "Ja, jetzt bin ich zwanzig, und ich kann mich nicht mal an meinen Geburtstag erinnern. Ich weiß nicht, wie ich hier gelandet bin." Verstohlen schaute sie nach rechts und links auf ihre Bettnachbarinnen. "Gottfried, ich versteh beim besten Willen nicht, warum man mich ausgerechnet hierher gebracht hat; ich bin doch vollkommen normal."
"Natürlich bist du das, vielleicht bist du deshalb hier, weil die Klinik nicht weit von eurem Haus entfernt liegt, denn schließlich kam es auf die Zeit an", sagte er beruhigend.
113

"Ja, die Zeit", seufzte Christina. "Ich erinnere mich noch daran, daß Ric an dem bewußten Abend nicht da war", offenbarte sie zögernd, "und daß ich glaubte, es dadurch zeitlich gut abgepaßt zu haben."
"Zeitlich gut abgepaßt hatte es deine Haushälterin. Glücklicherweise kam sie an dem Abend noch mal zu dir ins Schlafzimmer und fand die Tablettenröhre auf deinem Nachtschrank, laut Zeitung jedenfalls", erklärte Steiner.
"Frau Mommsen? Was wollte sie um diese Zeit noch?" fragte Christina aufgebracht.
"Keine Ahnung, aber es sollte wohl so sein. Christina, du hast das Leben noch vor dir, hast einen Ehemann, eine prächtige Tochter und eine glänzende Karriere ..."
"Ja, zu glänzend", fiel sie ihm ins Wort. "Wie schon gesagt: Gagen, Gagen, Gagen."
Steiner rührte das schlechte Gewissen. "Ist es wirklich nötig, Christina, mich an meine dumme Bemerkung zu erinnern? Ich hab sie schon oft genug bereut, glaub es mir", fügte er bedrückt hinzu.
"Ich meine nicht dich, sondern jemand anderen", sagte Christina und preßte die Lippen zusammen.
Er überlegte, wer dieser andere sein könnte. Es gab eigentlich nur eine Person, die in Frage kam, denn schließlich hatte Gessler alle ihre Verträge abgeschlossen. Kopfschüttelnd zog Steiner einen Zeitungsauschnitt aus der Brusttasche seines Jacketts. "Dann versteh ich nicht, wieso dein Mann in einem Interview nicht etwas diskreter war. Vielleicht war es ja die Aufregung..."
"Was für ein Interview?" unterbrach Christina ihn verblüfft. "Was hat er gesagt?"
Gottfried Steiner faltete den Artikel auseinander und warf einen Blick darauf: "Hier, dein Drang zur Arbeit... "
"Was? Drang zur Arbeit!" Sie setzte sich steil auf.
'Ja, aber das habe ich gar nicht gemeint. Es weiß ja sowieso jeder, daß du zu viel arbeitest. Aber hier, dieser Grund war in der Öffentlichkeit nicht bekannt."
Christina verlor die Geduld und riß ihm den Artikel aus der Hand. Als sie ihn las, zitterte ihre Hand, und Steiner dachte unsicher, ob es vielleicht falsch gewesen war, ihr davon zu erzählen.
"Was? Alkohol- und drogensüchtig! Das behauptet mein Mann?" schrie Christina plötzlich. Mit einem Ruck warf sie die Bettdecke zurück und stand aufrecht im Bett, während sie die Blumen, die sie noch in der Hand gehalten hatte, fest an sich drückte. "Alkoholsüchtig!" wiederholte sie, und bevor Steiner begriff, was passierte, sprang sie vom Bett und lief den Gang entlang. Dort wich sie zwei Schwestern aus, die herbeigeeilt waren, und sprang auf das Bett einer älteren Patientin, wo sie weinend am Fußende zusammenbrach.
Während eine der Schwestern versuchte, die ältere Frau zu beruhigen, kümmerte sich die andere um Christina. Die wenigen Besucher, die im Raum waren, wurden von den Schwestern aufgefordert, nach vorn zur Sitzecke zu gehen. Auch Steiner ließ sich erschüttert und voller Selbstvorwürfe dort nieder. Er bemerkte nicht mal Christinas Eltern, die in diesem Augenblick hereingekommen waren, und mit beruhigenden Worten von einer Schwester empfangen wurden.
Der diensthabende Arzt, Dr. Schäfer, der sofort alarmiert worden war, ließ nicht lange auf sich warten. Er wurde von Dr. Markus, dem Stationsarzt der Kinderabteilung, begleitet, mit dem er gerade zusammengesessen und über einen Fall diskutiert hatte. Er bat eine Schwester, ein Beruhigungsmittel für Christina zu holen, und kümmerte sich zunächst um die ältere Patientin, die recht verstört war.
Dr. Markus trat zu Christina, die noch immer leise schluchzte, und faßte sie an den Schultern, um sie ein wenig aufzurichten, damit er ihr Gesicht sehen konnte. "Frau Gessler", sagte er, "ich bin Doktor Markus. Frau Gessler, wir beide kennen uns."
Verwirrt blickte Christina den Arzt an und senkte schweigend wieder ihren Kopf.
114

"Ganz bestimmt, Frau Gessler, wir kennen uns." Mit dieser Beteuerung injizierte Dr. Markus Christina das Beruhigungsmittel, das ihm die Schwester gebracht hatte.
1951 war er es gewesen, der dem Ehepaar Hoppe bestätigt hatte, daß weiterer Unterricht in Berlin Christinas Gesundheitszustand nicht schaden würde. Seine Patientin war damals vierzehn Jahre alt gewesen, ein hübsches Mädchen, das ausschließlich ein einziges Ziel vor Augen gehabt hatte: die Bühnenkarriere. Wie sehr hatte er später diese Frau bewundert, und jetzt saß sie in solch einem Zustand hier vor ihm.
"Frau Gessler, Sie zerdrücken ja die wunderbaren Nelken", machte er ihr behutsam klar.
Doch Christina preßte die Blumen nur noch fester an sich und schleuderte ihm mit verzerrtem Gesicht entgegen: "Die sind nicht für Ries Freundin, nein, die gehören mir. Die kriegt mein Mann nicht!"
So ist das also, dachte Dr. Markus, davon hatten die Zeitungen bisher noch nichts berichtet. Er versuchte Christina abzulenken und sagte: "Es sind doch Ihre Geburtstagsblumen, nicht wahr? Sie sind am Mittwoch zwanzig Jahre alt geworden."
Doch Christina reagierte nicht mehr; das Beruhigungsmittel hatte zu wirken begonnen. Widerstandslos ließ sie sich nun die Blumen abnehmen und zu ihrem Bett zurückführen. Erschöpft legte sie sich hin, doch bevor sie einschlief, richtete sie ihren Blick noch einmal auf Dr. Markus. Er erweckte Vertrauen in ihr. Mit sichtlicher Anstrengung ergriff sie seinen Arm und sagte: "Bitte behandeln Sie mich in Zukunft weiter, Herr Doktor."
"Ich? Ja, ich werde sehen, was ich tun kann", antwortete er überrascht. "Jetzt schlafen Sie aber erst mal. Schwester Hannah kümmert sich um Ihre Blumen."
Richtig, die Blumen, erinnerte sich Christina plötzlich wieder. Mit schwacher Stimme wies sie nochmals darauf hin, daß es wirklich ihre waren.
Christina lag nicht mehr im großen Gemeinschaftssaal, sondern alleine in einem kleinen, diesem Saal angeschlossenen Zweibettzimmer. Dr. Markus saß auf dem Rand des unbenutzten Bettes, das Christinas gegenüber stand. Er hatte die Krankenakte seiner Patientin vom Januar 1951, mit dem ärztlichen Bericht aus München, vor sich aufgeschlagen. Nicht, daß er an einen direkten Zusammenhang ihres momentanen Zustands mit ihrer damaligen Erkrankung glaubte, aber schließlich war es ihr zweiter Aufenthalt in einer Nervenklinik, und die bisherigen Untersuchungsergebnisse waren unzureichend. Aufgrund ihrer Verschwiegenheit hatte man sich einzig und allein auf die Angaben ihres Ehemannes gestützt: unüberwindbarer Arbeitsdrang, Alkohol- und Tablettensucht. Aber Dr. Markus war davon überzeugt, daß das nicht alles war. Was genau wußte seine Patientin zum Beispiel von der Freundin ihres Ehemannes, die sie erwähnt hatte? Was war der wirkliche Grund für den Selbstmordversuch gewesen?. Dr. Markus hatte das Gefühl, auf der richtigen Spur zu sein, aber um sie zum Sprechen zu bewegen, brauchte er Geduld.
Er sah Christina an, die ihn müde und mißtrauisch beobachtete, obwohl sie bei seinem Erscheinen erleichtert bemerkt hatte: 'Gottlob nicht Dr. Wielinger'.
"Frau Gessler", begann Dr. Markus das Gespräch, "Sie irren sich in meinem Kollegen .."
"In Dr. Wielinger? Der mir Fragen wie einem Schulmädchen stellte?" unterbrach Christina ihn. "Sie waren doch selbst dabei."
Dr. Markus konnte sein Schmunzeln nicht ganz verbergen. "Ja, und Ihre Abneigung haben Sie auch deutlich zu erkennen gegeben, und zwar so deutlich, daß mein Kollege Ihre weitere Behandlung mir übertragen hat."
"Ihnen?" Christina richtete sich erstaunt etwas auf. "Sind Sie nicht mehr auf der ..." Zweifelnd brach sie ihre Frage ab.
"Meinen Sie auf der Kinderstation?" fragte Dr. Markus erfreut. "Also erinnern Sie sich daran? Ignorieren Sie einfach meine kleinen Patienten. Sie vertrauten mir damals, als Sie
115

vierzehn waren, und ich hoffe, daß es auch diesmal so ist."
Also hatte sie sich doch nicht geirrt, dachte Christina beruhigt, denn sie hatte schon an ihrem Gedächtnis gezweifelt.
"Außerdem haben Sie selbst mich vorgestern darum gebeten, Sie weiter zu behandeln."
"Ich?" Das begriff Christina nicht. Wie konnte sie ihn vorgestern um etwas gebeten haben, wenn sie ihn erst gestern gesehen hatte. "Herr Doktor, Sie irren sich", sagte sie überzeugt, doch sein unerschütterliches 'Nein' bewies ihr genau das, was Dr. Markus ihr zu beweisen beabsichtigte: eine Lücke in ihrem Gedächtnis. Aber sie war doch nicht krank! Nein, niemals, dachte sie. "Mein Problem in München hat nichts mit dem Aufenthalt hier zu tun, Herr Doktor. Damals war ich krank."
"Das sind Sie auch heute", entgegnete Dr. Markus.
"Nein", wehrte sie entschieden ab, doch gleichzeitig wurde ihr klar, daß es keinen Zweck hatte, sich zu widersetzen. Das beste war noch, daß dieser Wielinger sie nun nicht mehr behandelte. Mit einem Lächeln bemerkte sie: "Ich bin nun also Ihr ältestes Kind. Da werde ich bestimmt wieder gesund."
"Sofern Sie sich helfen lassen und selbst mithelfen", erwiderte Dr. Markus.
"Jeder muß mit seinen Problemen selbst fertig werden, Herr Doktor."
Das konnte Dr. Markus nicht akzeptieren. "Oftmals gelingt es einem aber nicht, und dann braucht man die Hilfe anderer, wie in Ihrem Fall. Sie haben die Schlaftabletten schließlich nicht grundlos genommen", erinnerte er sie.
Christina schüttelte verneinend den Kopf: "Wie jeder mittlerweile von meinem Mann erfahren hat, leide ich unter fanatischer Arbeitswut. Ich hatte plötzlich nur noch Sehnsucht nach Ruhe", sagte sie.
Warum dieser sarkastische Tonfall, wenn sie von ihrem Mann sprach, wunderte sich Dr. Markus. "Ihr Bedürfnis nach Ruhe, Frau Gessler, ist verständlich, aber dafür gibt es Urlaub oder Erholungskuren, das wissen Sie so gut wie ich. Aber Sie wollen mir doch sicher nicht weismachen, daß Sie zuviele Tabletten genommen haben, nur um schlafen zu können. Außerdem, was hat Sie dazu gedrängt, sich dermaßen viel Arbeit aufzuladen?" fragte er.
"Ja, was, Herr Doktor?" sagte Christina niedergeschlagen und lehnte sich zurück.
Dr. Markus klappte unzufrieden die Krankenakte zu und trat an das vergitterte Fenster. Nachdenklich betrachtete Christina den Arzt: er konnte kaum älter als vierzig sein, und mit seinen schon leicht graumelierten Haaren, der sportlichen Figur und dem offenen Gesicht, sah er gut aus. Seine ruhige Art war sympathisch, und sie fragte sich, wovor sie sich überhaupt fürchtete. Es war die Atmosphäre in der Klinik, und die Angst vor der Öffentlichkeit, die Christina beunruhigte. Was würden die Zeitungen alles über sie schreiben? Und was würde Erich noch alles erzählen?
Dr. Markus hatte sich ihr wieder zugewandt. "Um noch mal auf Ihren Arbeitsdrang zurückzukommen, Frau Gessler, warum haben Sie es in Kauf genommen, Ihre Tochter kaum noch zu sehen?"
"Ich wollte mich meinem Mann beweisen, Herr Doktor, bitte fragen Sie nicht nach dem Grund", antwortete Christina erschöpft.
Dr. Markus erkannte, daß es für heute genug war. Er schaute auf seine Armbanduhr und sagte: "Lassen Sie sich bitte unser Gespräch durch den Kopf gehen, Frau Gessler, morgen unterhalten wir uns weiter. Ich möchte Ihnen noch sagen, daß Sie sicher sein können, daß alles, was Sie mir anvertrauen, ausschließlich zwischen Ihnen und mir bleibt."
Christina wich dem Blick des Arztes aus. "Morgen kommen Sie schon wieder?" fragte sie unbehaglich.
Der Arzt blieb fest. "Ja. Ich möchte Sie außerdem sobald wie möglich auf die Privatstation verlegen lassen, wo Sie es gemütlicher haben als hier", sagte er und verabschiedete sich.
116

Nachdem Dr. Markus gegangen war, atmete Christina auf. "Gottlob, wieder allein", sagte sie laut. Und übergangslos bemächtigte die Depression sich ihrer wieder. "Das hab ich bei dir, Erich, zuletzt auch immer gesagt. Ich wollte dich nie mehr wiedersehen, und jetzt... " Sie erschrak bei der Vorstellung seines Besuchs und der Vorwürfe, die er machen würde. "Ach, ich hätte vom Turm springen sollen, dann wäre jetzt alles vorbei!" rief sie verzweifelt aus.
117

MONTAG, 13.8.1956
Bemüht, die Eisenstäbe zu ignorieren, sah Christina aus ihrem Fenster hinunter auf die Anlagen und das gegenüberliegende Gebäude, in dem sie bis zu diesem Morgen noch gelegen hatte. Sie empfand Mitleid für die vielen schwerkranken Patientinnen, für die keine Aussicht bestand, jemals ein so freundlich eingerichtetes Zimmer auf der Privatstation zu bekommen. Von ihnen hatte wohl auch kaum eine die Chance, vom arroganten Wielinger an Dr. Markus überwiesen zu werden.
Plötzlich stutzte Christina. Sie sah eine ältere Frau, die von einer Krankenschwester gestützt wurde und spazierenging. Groß, schlank, die aufrechte Haltung und der graue Mantel; das war sie, ihre Schwiegermutter. Für Christina gab es keinen Zweifel. Mit starrem Blick verfolgte sie die beiden Frauen, bis sie bei einem der Gebäude um die Ecke bogen.
"Meine Schwiegermutter", sagte sie verbittert, "die ich immer 'Mutti' nenne. Wie oft war sie verletzend zu mir. Und trotzdem bin ich freundlich und nenne sie 'Mutti'." Erschrocken horchte Christina auf. Sie glaubte, hinter sich die Stimme ihrer Schwiegermutter zu hören und auch Erichs. Sie umklammerte das Fensterbrett und hatte Angst, sich umzudrehen. Da, schon wieder die Stimmen. "Dir braucht nichts abzustreiten", sagte Christina laut. "Ich war doch nur ein geduldeter Gast in unserem Haus. In Wirklichkeit regierte deine Mutter bei uns, Erich, und mich habt ihr behandelt wie ein Schulmädchen, das ihr aus der Gosse gezogen habt. Oder wie die Margarethe aus dem 'Faust'. Aber dein Erich, Mutti, trägt keine reinere Weste als Faust, und dazu brauchte er mein Geld, meine Gagen. Er schloß Vertrag um Vertrag ab, jagte mich von Filmstudio zu Filmstudio, möglichst weit weg von Kiel. Fort aus seiner Nähe, damit ich nicht im Weg war. Fort!" schrie sie schließlich und drehte sich um. Mit weit aufgerissenen Augen stammelte sie: "Fort! Verstehst du?"
Sie blickte geradewegs auf Dr. Markus, der aufmerksam zuhörend bei der Tür stand. Aufmunternd wünschte er ihr einen guten Morgen und trat auf sie zu. "Sieht es in diesem Zimmer nicht freundlich aus?" fragte er. "Und der Sonnenschein verleiht neue Hoffnung, die Hoffnung auf einen neuen Anfang, Frau Gessler."
"Wie lange sind Sie schon hier?" wollte Christina verstört wissen. "Warum habe ich Sie nicht hereinkommen hören?"
Dr. Markus versuchte, sie zu beruhigen und redete behutsam auf sie ein. Nach einer Weile löste sich Christinas Anspannung. Sie erinnerte sich wieder an die Frau, die sie vom Fenster aus beobachtet hatte. Ob es wirklich ihre Schwiegermutter gewesen war? Was machte ausgerechnet sie hier in der Klinik? Vielleicht habe ich mich aber auch getäuscht, dachte Christina. Sie hatte sich jetzt soweit wieder beruhigt, daß ihr mit einem Mal klar wurde, daß sie barfuß und im Nachthemd war. Schnell lief sie zum Bett und schlüpfte unter die Decke.
"Wir möchten Ihnen helfen, Frau Gessler", sagte Dr. Markus und rückte sich einen Stuhl in die Nähe ihres Bettes. "Sie brauchen keine Angst zu haben."
Christina war seit dem heutigen Morgen entschlossen, Hilfe zu akzeptieren. "Bitte, Herr Doktor", sagte sie, "wenn Sie meinen, mir helfen zu können ... Sie wissen nun alles von mir."
Der Arzt schüttelte den Kopf. "Sagen wir einiges, Frau Gessler. Sie sind von der Untreue Ihres Mannes überzeugt, nicht wahr?" fragte er vorsichtig.
Christina erschrak. Was hatte sie in ihrem Selbstgespräch alles gesagt? Wenn sie sich nur daran erinnern könnte. Forschend sah sie Dr. Markus an, so als könnte sie auf seinem Gesicht die Antwort lesen. Aber sie glaubte, eine gewisse Sorge zu erkennen. Konnte sie ihm wirklich offen sagen, was sie von dieser Kunze wußte? Es war ihr klar, daß sie durch Verschwiegenheit keine Hilfe erwarten konnte. Dennoch voller Bedenken richtete Christina
118

sich auf und sagte: "Herr Doktor, Sie können das nicht verstehen, aber wenn mein Mann von diesem Gespräch erfährt..."
"Ihr Mann wird es nie erfahren", unterbrach Dr. Markus sie und ergriff tröstend ihre Hände. "Frau Gessler, heute müssen Sie ganz besonders stark sein. Es ist etwas passiert", sagte er langsam.
"Mit Erich?" Weiter wagte Christina nicht zu fragen.
Er nickte. "Ja, er ist tödlich mit dem Auto verunglückt."
"Ric? Er ist tot?" sagte Christina. Verwirrt sah sie den Arzt an. Sie begriff nicht sofort, was er eigentlich gesagt hatte. Einige Minuten starrte sie schweigend vor sich hin, bis sie leise sagte: "Ich kann es gar nicht glauben, so plötzlich." Sie wußte nicht, was sie überhaupt empfand. "Wie eigenartig das Leben manchmal spielt. Ich wollte sterben, und mein Mann mußte sterben. Wo ist es passiert?" fragte sie.
"Auf der Preetzer Chaussee, nahe der Iltisstraße. Ihr Mann war aus Elmschenhagen gekommen", fügte Dr. Markus vorsichtig hinzu.
"Ja, er kümmerte sich ab und zu sonntags um das Grab seines Vaters auf dem Elmschenhagener Friedhof. Mein Gott!" rief Christina und entzog dem Arzt ihre Hände, die er bis jetzt beruhigend gehalten hatte. "Die Beerdigung, die Vorbereitungen; bestimmt ist es gestern passiert, warum erfahre ich erst heute davon?" fragte sie verstört.
"Weil Sie vor zwei Wochen noch nicht in der..."
"Herr Doktor, Sie wollen doch nicht sagen, daß es schon so lange her ist?" fiel sie ihm ins Wort.
"Doch, ganz genau heute vor zwei Wochen", erwiderte Dr. Markus.
"An einem Montag? Unmöglich! Oder doch... " Elfie Kunze, dachte Christina sofort. Sie wohnt in Elmschenhagen, bei ihr mußte Ric gewesen sein. "Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit, war mein Mann alleine im Wagen?" fragte Christina.
Dr. Markus atmete tief ein, denn was er ihr zu sagen hatte, war sicherlich sehr schmerzhaft für sie. Längst hatte er erkannt, daß die Affäre ihres Mannes die Ursache für ihr Verhalten war, aber was genau wußte sie? Vorsichtig begann er: "Nein, Frau Gessler, Ihr Mann war nicht allein. Er hatte zwei außereheliche Kinder namens Kunze, falls Ihnen der Name bekannt ist?"
Und ob sie den Namen kannte, viel zu gut kannte sie ihn. "Zwei Kinder?" sagte Christina. "Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß beide im Wagen waren?"
"Leider doch", antwortete er ernst. "Sie sind beide tot."
Christina war erschüttert. Aber gleichzeitig überkam sie eine unaussprechliche Wut auf ihren Mann. Am liebsten hätte sie laut geschrien. Sie hatte zwar die Beziehung geahnt, aber daß er zwei Kinder mit dieser Frau hatte, war ein Schock.
"Zwei Kinder hatte er mit dieser Kunze", entfuhr es ihr,"nein, das wußte ich nicht."
"Herr Kunze konnte keine Kinder bekommen, was natürlich keine Entschuldigung sein soll. Übrigens wußte er von dem Verhältnis seiner Frau zu Ihrem Mann", teilte der Arzt ihr mit, während er ihre Reaktion sorgfältig beobachtete.
"Äußerst großzügig!" entgegnete Christina. Er wußte also davon und sie wurde erst jetzt vor die nackte Tatsache gestellt. Sie empfand keine Trauer über den Tod ihres Mannes, sondern nur einen bitteren Groll wegen seiner Lügen. "Woher wissen Sie das alles, Herr Doktor?" fragte sie schließlich.
"Durch einen Kollegen", entgegnete er kurz. Er wollte nun nicht weiter über diese Angelegenheit reden. "So traurig und hart für Sie das alles sein muß, Frau Gessler, müssen Sie jetzt vor allem an sich denken. Sie müssen sich zum Ziel setzen, Ihr Leben in die richtige Bahn zu lenken, damit es wieder einen Sinn erhält."
"Falls Sie Angst haben, daß ich wieder zu meinem sogenannten Arbeitsdrang zurückkehre - da kann ich Sie beruhigen, Herr Doktor. Wer wird mir nach diesem Klinikaufenthalt
119

noch einen Vertrag anbieten?" sagte Christina resigniert.
"Bei Ihren Fähigkeiten?" wandte Dr. Markus ein.
"Dankeschön für das Kompliment, aber die Schlagzeilen werden mehr Macht haben als meine Fähigkeiten. Sehen Sie, ich hatte, bis auf Herrn Steiner, noch kein einziges Mal Besuch von einem Kollegen", führte sie zur Bekräftigung an.
"Das liegt daran, daß ich mit dem Einverständnis Ihrer Eltern gewisse Maßregeln getroffen habe, damit Sie zunächst mal in Ruhe zu sich selbst zurückfinden konnten, und Ruhe haben Sie auch jetzt noch nötig", sagte Dr. Markus.
Das stimmt, dachte Christina, danach sehnte sie sich wirklich. Sie legte sich zurück und schloß die Augen. Bevor Dr. Markus das Zimmer verließ, drückte er ihr noch mal die Hand.
Frau Hoppe schloß ihre Tochter zur Begrüßung fest in die Arme, und jedesmal, wenn sie sie seither in der Klinik besucht hatte, fühlte sie die Dankbarkeit und Freude darüber, daß Christina noch lebte, noch bei ihr war. Die Angst jener Nacht, als sie mit der Schreckensnachricht aus dem Bett geholt worden war, und das Bangen, ob Christina überleben würde, konnte Frau Hoppe nicht vergessen.
"Christinchen", sagte sie und schaute sich im Zimmer um. "Wie hübsch du es hier hast. Nun wirst du bald wieder gesund."
"Ich muß!" entgegnete Christina. "Wegen Angelika, denn du weißt ja, Ric ...?" Der Vorwurf in ihrer Stimme, weil man ihr das Unglück so lange verschwiegen hatte, war unüber-hörbar.
Ohne sich erst ihren Wollmantel auszuziehen, setzte Frau Hoppe sich zu Christina aufs Bett und ergriff tröstend ihre Hände.
"Genau wie Dr. Markus", bemerkte Christina, "Nur, daß seine Hände größer sind."
"Er hat vorhin mit dir gesprochen, nicht wahr? Es ist bewundernswert, wie tapfer du dich hältst, Christinchen", sagte Frau Hoppe.
'Tapfer?" entfuhr es Christina heftiger, als sie beabsichtigt hatte. "Mutti, so traurig es ist und so gefühllos es klingt, aber statt Trauer empfinde ich nur Zorn." Kaum hatte sie es ausgesprochen, als sie, erschrocken über die Offenheit ihres Geständnisses, zu weinen begann.
Frau Hoppe war über diesen Gefühlsausbruch froh. Sanft strich sie Christina über den Kopf. "Ich versteh dich vollkommen, mein Kind."
"Wirklich? Du verstehst, daß ich keine Trauer empfinde, kein Mitleid?" Christina sah sie erstaunt an. Dankbar nahm sie das Taschentuch, das die Mutter ihr gab und sagte: "Dabei habe ich Ric mal sehr geliebt, aber all die Liebe, nach der ich mich die Jahre über so gesehnt habe, hat er dieser Kunze geschenkt. Offengestanden, Mutti, ich hatte es geahnt, nur daß er auch zwei Kinder mit ihr hatte ... "
"Ich weiß, Christinchen", unterbrach die Mutter sie, "ich weiß auch, was du fühlst, und trotzdem, die Kinder waren unschuldig." Sie hob hilflos die Schultern. "Vati und ich waren blinde Narren, weil wir schließlich nur noch sahen, was wir sehen sollten - immer nur, wie glücklich du warst."
"Weil ich es zu sein glaubte, versteh doch!" rief Christina.
Frau Hoppe schüttelte den Kopf. "Oder, weil du uns deine Probleme verheimlicht hast? Eltern sind aber dazu da, um mit ihren Kindern deren Probleme zu lösen; und wie gern hätten wir dir geholfen, wenn du dich uns nur anvertraut hättest."
Christina nahm die Hand der Mutter und drückte sie liebevoll an ihre Wange. "Das weiß ich, aber ich wollte es mal alleine schaffen. Ich wollte Ric beweisen, daß ich nicht mehr das Schulmädchen war, das er mal geheiratet hatte. Nur habe ich mich selbst überhaupt nicht mehr gekannt. Ja, ich kannte meine Stimme, meine schauspielerischen Fähigkeiten, aber mich selbst?"
120

"Gerade darum ist es so wichtig, mein Kind, daß du zu dir selbst zurückfindest. Du hast das ganze Leben noch vor dir und kannst noch alles daraus machen, für dich und für deine kleine Angelika", sagte Frau Hoppe.
Ein flüchtiges Lächeln zeigte sich auf Christinas verweintem Gesicht. Ihrer Tochter, dachte sie, der wollte sie von jetzt an eine vorbildliche Mutter sein.
"Und nun, Mutti, möchte ich bitte alles wissen, über den Unfall, die Beerdigung, halt alles", forderte Christina energisch.
Auch das noch, dachte Frau Hoppe. Sie hatte es geahnt. Aber Christina brauchte jetzt Trost und neue Hoffnung, so labil, wie sie noch war. Und Frau Hoppe besaß ein Geheimnis, das Christina wahrscheinlich neue Kraft geben würde, wenn sie es ihr erzählte. Sie atmete tief durch und sagte: "Ich finde, mein Kind, du hast für heute genug verkraften müssen. Was ich dir erzählen kann, ist etwas anderes, etwas Erfreuliches, wie ich denke", sagte sie mit einem geheimnisvollen Lächeln.
Christina hatte gehofft, endlich Einzelheiten über den Unfall und die Beerdigung zu erfahren, statt dessen wich die Mutter aus. "Noch etwas?" fragte Christina ungehalten.
"Ja, aber du mußt mir versprechen, daß es ausschließlich zwischen uns bleibt. Ich kann mich auf dich verlassen?"
Verwundert überlegte Christina, was denn jetzt in die Mutter gefahren sei. Nur um sie abzulenken, brauchte sie doch nicht so ein Theater zu machen. Aber ihr zuliebe spielte sie das Spiel mit und sagte: "Natürlich, bitte schieß los."
"Also gut", sagte Frau Hoppe. Angestrengt überlegte sie, wie sie den richtigen Anfang finden konnte und starrte nachdenklich vor sich hin, bis Christina sie plötzlich erinnerte:
"Weißt du noch Mutti, du wolltest mir was erzählen?"
"Ja, natürlich!" Frau Hoppe gab sich einen Ruck. "Christinchen, erinnerst du dich noch an meine Fragen nach deinen Freundinnen aus München?"
Diese Frage erstaunte Christina sehr. "Nun, ja", antwortete sie zögernd.
"Ich war eine neugierige Mutter, nicht wahr? Und zwar seit ich den Namen Gerlinde Hoffmann hörte, und daß sie aus Pommern war."
"Sag bloß, du kanntest sie?" fragte Christina.
"Nein, Vati und ich kannten nur dem Namen nach eine Gerlinde Hoffmann aus Pommern. Aber der Krieg hatte uns die Hoffnung genommen, sie jemals ausfindig zu machen. Später dann, als wir Gerlinde aus München kennenlernten, und nachdem wir mit Frau Beese in Hamburg gesprochen hatten, bestand kein Zweifel mehr, Christina. Es war die betreffende Gerlinde." Tränen der Rührung traten Frau Hoppe in die Augen, und erneut nahm sie Christinas Hände: "Und was glaubst du wohl, wer sie ist?"
Stumm zuckte Christina die Achseln.
"Sie ist deine leibliche Schwester", eröffnete die Mutter ihr.
"Gerlinde?" rief Christina.
"Ja, sie ist deine Zwillingsschwester."
Nein, was die Mutter da behauptete konnte nicht wahr sein. Besorgt faßte Christina sie ins Auge, doch Frau Hoppe nickte ihr aufmunternd zu. "Mutti, bitte sag die Wahrheit, wirklich ohne Zweifel, meine Zwillingsschwester?"
"So wahr ich hier sitze", versicherte Frau Hoppe ihr.
"Das klingt phantastisch, Christina Gessler, Zwillingsschwester von Gerlinde Hoffmann. Nur leider vergißt du, daß Gerlinde ein Jahr älter ist als ich", entgegnete Christina, die das alles nicht so recht glauben konnte.
Frau Hoppe lächelte: "Erinnerst du dich noch, daß du dir ihr Alter anhand der Schuljahre berechnet hast? Aber Gerlinde übersprang ein Schuljahr, Liselotte ist ein Jahr älter."
"Wir sind also wirklich gleichaltrig?" fragte Christina und empfand plötzlich ein unerklärliches Gefühl von Erwartung, Bangen und Freude.
121

"Nein, du bist älter", lachte Frau Hoppe, "und zwar nicht ein Jahr, sondern gerade so viel, daß dein Geburtstag einen Tag vor Gerlindes liegt."
"So viel, da muß sie ja regelrecht Respekt vor mir haben", lachte nun auch Christina. Doch so plötzlich eine leibliche Schwester zu haben, eine Zwillingsschwester, der sie gar nicht ähnlich sah, konnte sie nicht so schnell begreifen. "Ich weiß nicht, ob du es verstehst, Mutti, aber es wird eine Weile dauern, bis ich mich mit dem Gedanken richtig vertraut gemacht habe."
"Aber selbstverständlich verstehe ich das", antwortete die Mutter.
Sie ist heute so verständnisvoll, wunderte sich Christina. Aber vielleicht ist sie das schon immer gewesen, nur ihr war es nicht bewußt. Interessiert fragte sie: "Lebte meine leibliche Mutter nach unserer Geburt in Pommern?"
"Nein, Gerlinde war auch im Heim bei Frau Haberland."
"Ihr wißt offenbar so viel. Bitte, Mutti, erzähl mir alles, und zwar nicht erst morgen oder irgendwann, sondern jetzt", bat Christina.
"Das will ich gern, Christinchen, nur leider wissen wir weniger, als du gewiß annimmst. Zum Teil weißt du ja von Gisela, wie du zu uns kamst, und wie Frau Buchholz uns von dir erzählt hatte. Nur wußte Gisela nicht, daß Frau Buchholz nicht nur von einem kleinen Mädchen gesprochen hatte. Das weiß Gisela auch bis heute noch nicht. Durch Frau Buchholz erfuhren wir also von Zwillingen, und auch, daß sie von einem kinderlosen Ehepaar namens Hoffmann getrennt worden waren. Dieses Ehepaar hatte nämlich direkt vor seinem Umzug nach Pommern den Adoptionsprozeß erledigt, um Gerlinde als leibliche Tochter ausgeben zu können. Zum Glück hatte Frau Buchholz gewußt, daß das Baby auf den Namen Gerlinde getauft werden sollte. Wir waren uns jedenfalls einig, daß es nicht richtig war, die Zwillinge zu trennen. Daraufhin beschlossen Vati und ich, daß ich mir das zurückgelassene kleine Wesen einmal anschauen sollte. Und da lagst du, Christinchen, und lächeltest mich an, und ich habe dich sofort in mein Herz geschlossen", schilderte Frau Hoppe mit glücklichem Gesichtsausdruck. "Wir hatten uns das feste Ziel gesetzt, Gerlinde ausfindig zu machen, damit ihr euch kennenlernen könnt. Aber nach dem Krieg hatten wir die Hoffnung aufgegeben und geschwiegen, um dir den Kummer zu ersparen. Doch mit Gottes Hilfe ist es uns dann doch noch gelungen, sie zu finden."
Voller Dankbarkeit umarmte Christina die Mutter und gab ihr einen Kuß. "Was sagt Gerlinde dazu?" fragte sie erwartungsvoll.
"Jetzt kommt das Problem, mein Kind", sagte Frau Hoppe vorsichtig, während sie besorgt Christinas sofortigen Stimmungswechsel beobachtete, die sich enttäuscht abwandte. "Vor einem Jahr haben Vati und ich erfahren, daß Frau Beese die einzige Eingeweihte in der ganzen Angelegenheit war. Sie und Frau Hoffmann waren Freundinnen gewesen. Die alte Frau gab uns leider nur sehr unwillig Auskunft. Vor drei Monaten versuchten wir es dann nochmals, leider aber wieder vergeblich. Sie beharrt darauf, auch nach dem Tod ihrer Freundin noch schweigen zu müssen."
"Heißt das etwa, daß Gerlinde es nicht wissen soll?" fragte Christina ungläubig.
"Ja, sie befürchtet, daß Gerlinde es nicht glauben würde. Aber das macht nichts, Christinchen", fügte Frau Hoppe sofort hinzu. "Sobald ihr beide einundzwanzig seid, und das ist ja in einem Jahr, ist auch Gerlinde mündig. Zu dem Ereignis laden wir sie zusammen mit Frau Beese ein, und ohne Rücksicht auf die alte Frau, werden wir es Gerlinde dann erzählen. Frau Beese muß es dann bestätigen."
"Und wenn sie sich widersetzt? Oder wenn sie dann nicht mehr lebt?" gab Christina zu bedenken.
"Noch erfreut sie sich bester Gesundheit. Vati hat sich übrigens schon genau ausgedacht, wie er die Rede formulieren wird. Wenn du wüßtest, wie er euren Geburtstag plant..."
122

"Für nächstes Jahr?" fragte Christina.
"Du solltest es schließlich auch dann erst erfahren, um dir die Wartezeit zu ersparen. So aber lebst du nun bis dahin in der Vorfreude."
Christinas Gesicht hellte sich wieder auf, und Frau Hoppe sah die Stimmung gerettet. Vorsichtshalber fügte sie aber hinzu: "Vor allem mach dir keine Sorgen wegen Frau Beese. Das Heim existiert zwar nicht mehr, aber wenn es unbedingt sein muß, finden wir noch andere Mittel und Wege. Auf jeden Fall ist es uns lieber, wenn wir warten, bis Gerlinde mündig ist."
Christina verstand die Bitte um ihr Schweigen und Verständnis. "Mein Mund bleibt bis dahin versiegelt, das versprech ich dir, auch wenn es mir schwerfallen wird", sagte sie. In Gedanken fragte sie sich, wie sie diese Last ein ganzes Jahr aushalten sollte. Doch mit einem kindlichen Ausdruck von Freude lachte Christina und meinte: "Jedenfalls seid ihr großartig!"
123

MONTAG, 20.8.1956
Unruhig warf Christina sich in ihrem Bett hin und her. Die Zeit der Mittagsruhe schien wieder mal endlos! 'Versuch mal, an was anderes zu denken, oder versuch mal, zu schlafen', war leicht gesagt. Ob der Vater das in einer ähnlichen Situation könnte? Oder die Mutter, die so sensibel und pflichtbewußt war? Würde sie sich bei einer so plötzlichen Veränderung in ihrem Leben ruhig auf die Seite legen können? Noch dazu bei den Zweifeln, jemals wieder Engagements zu bekommen, auf die sie als Witwe so angewiesen war?
Dann der Hausbau ... Onkel Eduard wollte an diesem Nachmittag endlich die genaue Anzahl der Räume wissen. Vor allem mußte sie ihn darauf aufmerksam machen, daß der Bauplan eine kleine Wohnung für Mommsens mit einschloß und einen besonders großen, zunächst als Gästezimmer eingezeichneten Raum mit Bad für Gerlinde. Woran mußte sie noch denken? "Muß! Muß! Muß! Dieses verfluchte Muß!" stieß Christina aus. "Oh Gerlinde!" Wie gern würde sie jetzt mit ihr von Schwester zu Schwester sprechen. Ein ganzes, unendliches langes Jahr mußte sie noch warten. Warum war alles nur so kompliziert? Genügte nicht die Tatsache, daß sie Zwillinge waren?
Verdrossen schob sie ihre Bettdecke ans Fußende, als die kleine, etwas rundliche Schwester Gerda, vergnügt einen Schlager summend, ins Zimmer kam. Sie brachte eine Tasse Kakao und ein Stück Kuchen.
"Zur Stärkung, Frau Gessler, Sie sehen aus, als hätten Sie es nötig", sagte sie freundlich.
"Stimmt", erwiderte Christina, obwohl ihr ein Kaffee lieber gewesen wäre. "Wie spät ist es?"
"Drei Uhr", antwortete Schwester Gerda.
"Da kann ich mich endlich wieder anziehen, hier zu liegen macht ja den stärksten Menschen schwach", sagte Christina und setzte sich auf den Bettrand.
"Sie grübeln zu viel, Frau Gessler." Die Schwester stellte das Tablett auf den Tisch. "Was Sie brauchen ist Ablenkung, Unterhaltung. Erwarten Sie Besuch?"
"Meinen Onkel, aber erst später. Bis dahin werde ich mich verziehen", erklärte Christina.
"Aha! Vielleicht wieder zu den Kleinen ins Spielzimmer?" fragte Schwester Gerda lachend.
Schmunzelnd entgegnete Christina: "Schließlich bin ich Dr. Markus' größtes Kind."
Christina angelte mit den Füßen ihre Hausschuhe unter dem Bett hervor und sagte mit unveränderter Miene: "Ich versprach es den Kleinen gestern. Ich soll nämlich eine 'Eschichte' erzählen, wie Inge immer sagt. Meine Kurzlehrzeit für Mutterpflichten."
"Tante Christina ist da! Wir haben schon gewartet!" übertönten einige Stimmen den Krach im Spielzimmer der Kinderstation. Im Nu stand die kleine Margot mit erhobenen Ärm-chen vor ihr. "Hoch!" forderte sie. Der Wunsch wurde ihr sofort erfüllt. Die Aufregung im Kinderzimmer war unbeschreiblich. Mittendrin saß Dr. Markus auf dem Fußboden und bemühte sich, schneller Türme zu bauen, als sie wieder umgestoßen werden konnten.
Der neunjährige Wilfried kam, mit einer Babypuppe auf dem Arm, zu Christina und fragte: "Du erzählst uns doch heute wieder eine Geschichte?"
"Das haben Sie uns versprochen!" fügte die sommersprossige Heike hinzu.
"Und was versprochen ist, muß man auch halten. Also erzähle ich euch eine Geschichte", sagte Christina vergnügt.
"In dem Fall, Schwester Anna, übergeb ich Ihnen die Klötze", wandte sich der Arzt der
124

Schwester zu, die die Aufsicht im Spielzimmer hatte. Zu Christina sagte er anschließend: "Eines merkt man immer wieder, Frau Gessler, Sie haben Kinder wirklich gern."
"Ich wünschte manchmal, ich wäre selbst noch eins", meinte Christina.
"Waren Sie früher immer brav?" fragte Heike.
"Oh weh!" Mit nachdenklicher Miene kratzte Christina sich am Kopf. "Wäre ich nur halb so brav gewesen, wie du es bist, wären alle glücklich gewesen."
"Na, na!" lachten Dr. Markus und Schwester Anna.
"Bestimmt, ich war schrecklich. Ständig hatte ich irgendwelche Flausen im Kopf, besonders in der Schule. Bis ich nach München kam; da wurde ich von allen Übeln kuriert."
"Dann war Ihnen nach der Kur nicht mehr übel?" fragte die zehnjährige Greta interessiert.
Dr. Markus und Christina wechselten einen amüsierten Blick. "Nein, mir war dann nicht mehr übel. Darum kann ich euch jetzt auch eine Geschichte erzählen."
Die Kinder setzten sich im Halbkreis vor Christina auf den Boden, während Dr. Markus sich Schwester Anna zuwandte: "Ich muß jetzt gehen. Bringen Sie mir bitte zur gewohnten Zeit Anne-Marie, Heike, Joachim, Fritz und Steppke ins Behandlungszimmer."
"Die kann ich Ihnen bringen, ich muß dann sowieso wieder zurück sein, wegen meiner Injektion", bot Christina sich an. Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr stellte sie fest, daß sie sich beeilen mußte, wenn sie nicht nur die Hälfte der Geschichte erzählen wollte.
Sie nahm die kleine Margot auf den Schoß und begann, das Märchen vom Rotkäppchen zu erzählen. Gefesselt lauschten die kleinen Zuhörer Christinas anschaulicher Erzählung, nur Heike hatte sich hinter sie gekniet und flocht ihr zwei abstehende Rattenschwänze. Die fünfjährige Inge plapperte eifrig mit, bis Christina zum Abschluß kam und sagte: "Und jetzt erzählt Inge uns noch einmal, was Rotkäppchen alles für die Großmutter im Korb hatte."
"Das war eine feine Eschichte", rief Inge lachend und klatschte vor Vergnügen in die Hände.
"Kuchen und Wein, du Döskopp!" korrigierte Fritz sie.
Christina mahnte ihn mit erhobenem Zeigefinger und rief dann: "Und nun husch, husch zum Gänsemarsch antreten! Doktor Markus wartet. Anne-Marie, Heike, Fritz, Joachim, Steppke!"
"Zum Jägermarsch!" verbesserte Fritz und bestimmte: "Ich bin der Jäger, Steppke ist der Wolf, und du, Heike, du bist Rotkäppchen."
"Nee, ich will Friseuse werden", protestierte sie energisch.
Die Kinder um sich scharend, trat Christina rückwärts durch die Tür, wobei sie auf ein Hindernis traf.
"Der unterste war meiner!" sagte Schwester Olga vernehmlich.
"Entschuldigung, ich hatte Sie nicht bemerkt", sagte Christina verlegen. Warum mußte sie ausgerechnet diesem stattlichen Weib auf den Fuß treten, fragte sie sich im stillen.
Die Kinder waren mittlerweile den Flur entlang zur Treppe vorausgelaufen, wo sie vergnügt kreischend auf dem Geländer hinunterrutschten. Christina folgte ihnen auf die gleiche Weise, doch sie hatte nicht darauf geachtet, daß am Fuß der Treppe Dr. Wielinger stand. Ungebremst prallte sie auf ihn. Ein Stoß Papiere, die er in der Hand gehalten hatte, flatterte zu Boden. Mit verkniffenem Gesicht schaute er Christina an. Die war völlig verdattert und brachte vor lauter Schreck kein Wort heraus.
Kopfschüttelnd brach Dr. Wielinger das Schweigen: "Bei Ihnen überrascht mich überhaupt nichts mehr." Mit einem letzten Blick auf ihre Rattenschwänze entfernte er sich.
Von der Tür seines Behandlungszimmers aus hatte Dr. Markus den Vorfall schmunzelnd beobachtet.
"Ihre kleinen Patienten, Herr Doktor, habe ich jedenfalls sicher abgeliefert", sagte Christina zu ihm. "Wenn auch mit dem Resultat, daß meine geistigen Fähigkeiten nun sicher
125

mit einem Minuspunkt bewertet werden. Danach wird man hier doch eingeschätzt, nicht wahr?"
"So kritisch?" entgegnete Dr. Markus. "Sagen wir, daß Ihre reizende Frisur alles wieder ausgleicht."
"Die hab ich gemacht!" rief Heike stolz.
Christina fiel ein, daß es höchste Zeit für sie wurde. "Schwester Olga wartet mit meiner Sonderzuteilung, die sie mir diesmal bestimmt mit besonderem Schwung versetzen wird. Ich hab ihr nämlich aus Versehen auf den Fuß getreten", erzählte sie dem Arzt.
"Kommst du nachher wieder?" fragte Steppke.
"Heute nicht mehr, vielleicht morgen früh, aber nur, wenn ihr jetzt schön brav seid." Sie tippte Steppke mit dem Zeigefinger an seine kleine Stupsnase und machte sich eilig auf den Weg. Denn was immer Schwester Olga vorhin auf der Kinderstation zu tun gehabt hatte, Christina wußte, daß sie pünktlich in ihrem Zimmer erscheinen würde.
126

DONNERSTAG, 23.8.1956
"Frau Gessler, Sie sollten einen Chor gründen, einen Kieler Kinderchor, ähnlich dem Münchener, von dem Sie mir schon so oft erzählt haben. Was halten Sie von der Idee?" fragte Dr. Markus Christina, während sie gemeinsam einen Spaziergang durch die Klinikanlagen machten.
Sie, Christina Gessler? Einen Chor wie den Münchener? Ungläubig schaute sie den Arzt an. Erst gestern hatte man ihr wieder eine Filmrolle angeboten, und jetzt traute man ihr gar eine Chorgründung zu?
"Ausgerechnet ich?" fragte sie unsicher.
"Natürlich! Warum sind Sie so erstaunt? Ich meine keinen Chor mit eigenem Wohnheim. Ein Raum für die Proben, das würde genügen. Und Ihr Umgang mit Kindern, Ihre deutlich wahrnehmbare Liebe zu ihnen, Ihre Erfahrungen vom Münchener Kinderchor, und nicht zuletzt Ihre musikalischen Fähigkeiten sprechen doch dafür. Was wollen Sie mehr?" sagte Dr. Markus aufmunternd.
"Gott, Herr Doktor", rief Christina und blieb stehen. "Ihre Idee ist phantastisch, einfach großartig, aber ich habe doch gar keine Erfahrung." Und mit Tränen in den Augen fügte sie hinzu: "Außerdem bin ich zweimal in der Nervenklinik gewesen, als alkohol- und drogensüchtig verschrien. Wer wird mir da noch seine Kinder anvertrauen?"
"Also das ist es. Nein, Unsinn! Über alles ist bald Gras gewachsen. Viele Eltern würden sich freuen, Sie, Frau Gessler, als Lehrerin ihrer Kinder zu sehen. Sie müssen es ja nicht alleine machen", sagte Dr. Markus mit Überzeugung. "Geteilte Verantwortung ist halbe Verantwortung. Die Organisation überlassen Sie jemand anderem, der es aus Liebe zur Musik ehrenamtlich macht. Und Sie bilden die Stimmen aus, vielleicht nachmittags, nach der Schule."
Christina nickte zögernd.
"Sehen Sie, Frau Gessler, jeder Mensch braucht ein festes Ziel, das er deutlich vor sich sieht und mit dem er emotional harmoniert. Mit anderen Worten, Sie müssen zu sich selbst und auch zu Ihrer Tochter finden. Das ist im Grunde das Problem jedes Künstlers, der Rolle auf Rolle erlebt, und das auf Kosten seiner eigenen Persönlichkeit", sagte Dr. Markus und lächelte Christina freundlich an.
"Sie wissen doch, daß ich Ende des Monats wieder filmen werde. Alle werden von meinem Selbstmordversuch wissen, und nicht nur davon ..." Christina stockte, denn seit sie sich zu dieser neuen Aufgabe entschlossen hatte, erfüllte sie der Gedanke daran mit Angst und Hemmungen.
Dr. Markus entgegnete beruhigend: "Ich bin der erste, der ihre herrliche Stimme der Welt erhalten möchte. Ihr einziges Ziel muß es jetzt sein, innere Kraft zu gewinnen. Dann kann Ihnen kein Neid und keine Mißgunst etwas anhaben. Der Beruf einer Lehrerin, die ihr Wissen und ihre Erfahrungen unserem musikalischen Nachwuchs vermittelt, die die Stärke auch aus den Erfolgen ihrer Schüler gewinnt, ist das sicherste Heilmittel für Sie. Überlegen Sie sich meinen Vorschlag ganz in Ruhe, Frau Gessler. Morgen können wir weiter darüber sprechen."
Als Christina an diesem Abend im Bett lag, hielt sie der Vorschlag von Dr. Markus noch lange wach. Sie mußte an Herrn Traugard denken, an die Jahre, die sie selbst beim Münchener Kinderchor gewesen war. Wie oft hatte sie ihn damals darum beneidet, selbst-
127

ständig an dieser Musikschule zu unterrichten. Warum konnte eigentlich keine gleichwertige Schule in Kiel gegründet werden? Eine mit einem eigenen Wohnheim, mit Grünanlagen für die Kinder, mit einem eigenen Bus für Tourneen. Besaß sie nicht bereits ein herrliches und gut geeignetes Grundstück? Es war groß und bot einen freien Blick über den Nord-Ostsee-Kanal bis Knoop. Ihre Ersparnisse würden leicht die Bau- und Einrichtungskosten decken, zumal sie ja bereits wieder ein Engagement bekommen hatte. Nur die laufenden Kosten, würde es dafür reichen? Für die Gehälter der Lehrkräfte? Und würde sie überhaupt Lehrkräfte, die die Fähigkeiten von Direktor Günther, Herrn Traugard oder anderer Münchener Lehrer besaßen, für eine solche Schule interessieren können?
Plötzlich dachte Christina an Alois Vierärpel, den Lausebengel von damals. Mit Alois kam auch Anton Wechselberger, sein bester Freund, in ihr Gedächtnis zurück. Beiden war sie später noch einige Male an der Musikhochschule in Berlin begegnet, aber seither hatte sie nichts mehr von ihnen gehört. Vielleicht würde sie auf eine schriftliche Anfrage eine Antwort erhalten. Sie könnte ihm einfach von Dr. Markus' Idee berichten, und auch von ihrer eigenen, ohne Verschönerung der finanziellen Lage.
Sie nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen diesen Brief zu schreiben und an Frau Lingner zu adressieren, mit der Bitte, ihn an Alois weiterzuleiten, denn sie selbst kannte seine Anschrift nicht. Und Dr. Markus gegenüber wollte sie erst mal nur ihr Interesse an seinem Vorschlag zum Ausdruck bringen, ohne ihm von ihren eigenen weitergehenden Plänen zu berichten. Sollte dann daraus wirklich etwas werden, wollte sie den Arzt damit überraschen. Er würde sich bestimmt wundern; erst ihre Angst vor diesen neuen Pflichten, und plötzlich ihr Optimismus für eine unvergleichlich größere Aufgabe.
Und erfüllt von hoffnungsvoller Vorfreude fand Christina dann schließlich doch noch Schlaf.
128

MONTAG, 3.9.1956
Seit dem Absenden des Briefes an Alois waren zehn Tage vergangen. Ob er überhaupt jemals antworten würde? Diese Frage stellte Christina sich täglich, und ihre Zweifel und Erwartungen wuchsen mit jedem Tag. Besonders während ihrer langen Spaziergänge in den Klinikanlagen, wenn sie an der frischen Luft und mit ihren Gedanken allein war, beschäftigte sie diese Frage.
An diesem Vormittag mischte sich in Christinas Stimmung die Freude, in drei Tagen entlassen zu werden. Dr. Markus hatte ihr vorhin seinen Entschluß mitgeteilt. Nur noch drei Tage! Die Vorfreude darauf ließ diesen schönen Septembertag für sie noch strahlender erscheinen.
Aber trotz des herrlichen Wetters waren nur wenige Menschen draußen. Drüben, vor den Gebäuden der Schwerkranken, ging ein älterer Herr am Arm einer Schwester spazieren, beide waren in ein Gespräch vertieft. Und hier auf der Bank saß eine Patientin, die in einer Zeitschrift las. Als Christina vorbeikam, schaute sie kurz auf und grüßte freundlich. Christina erwiderte den Gruß und fügte eine kurze Bemerkung über das schöne Wetter hinzu.
Sie ging weiter und entspannte sich immer mehr. Sie empfand es wie einen neuen Lebensanfang, sich wieder so völlig frei fühlen zu dürfen, erfüllt von Zukunftsplänen. In wenigen Wochen würde sie zu Dreharbeiten nach Wien fahren, für einen heiteren Film mit viel Gesang. Diese erfreuliche Arbeit würde sie stärken und ihr die Selbstsicherheit zurückgeben. Die Wochen bis zum Drehbeginn aber würde sie mit ihrer Tochter verbringen. Von dieser Zeit erhoffte sie sich ein engeres Verhältnis zu Angelika. Ihre kleine Tochter sollte sie nicht mehr entbehren. Nun würden unbeschwerte Jahre folgen. Und vielleicht würde der Chor gegründet. Wie sehr hatte Dr. Markus ihr mit dieser Idee, mit seinem Glauben an sie selbst, geholfen.
So in Gedanken verloren, hatte sich Christina wieder dem Gebäude genähert, in dem die Privatstation untergebracht war. Als sie die Stufen zur ersten Etage hinaufging, kam ihr Schwester Olga entgegen. Ein Mann säße im Tagesraum, dessen Namen sie nicht zu sagen vermochte. Die Schwester hatte sich nicht nach dem Namen erkundigt, dachte Christina belustigt, wo sie doch sonst immer so neugierig war.
Sie ging zum Tagesraum und öffnete erwartungsvoll die Tür. Sie erkannte ihn sofort. Groß und breitschultrig, sein unverkennbar welliges, braunes Haar und das schalkhafte Lächeln.
"Alois! Das kann nicht wahr sein!" rief Christina erfreut und reichte ihm die Hand.
"Christina, so schön wie früher, laß mich dich ansehen. Nein, noch viel schöner", begrüßte Alois Vierärpel sie.
Christina mußte lachen. "Ach, Alois, hör auf, nach meinem wochenlangen Aufenthalt hier..."
"Der hat an deiner Schönheit nichts verändert", versicherte er ihr.
"Du Schmeichler, von der Seite kenne ich dich ja gar nicht", sagte Christina mit einem verstohlenen Lächeln. Seine ungezwungene Art gefiel ihr. "Wie nett, daß du gekommen bist, auch wenn ich momentan leider noch in der Klinik bin."
"Na und?" entgegnete er mit einer Selbstverständlichkeit, die Christina verblüffte.
Gemeinsam gingen sie zu Christinas Zimmer, und nachdem Alois an dem runden Tischchen in der warmen Sonne in einem Sessel Platz genommen hatte, sprach er Christina sein Beileid aus.
"Schon gut, Alois, ich hatte Erich vor der Raserei gewarnt", erwiderte Christina und
129

setzte sich ihm gegenüber. Sie empfand ihre Antwort zwar als etwas unziemlich, aber nach wie vor war ihr Zorn stärker als die Trauer. Und wie oft würde man ihr nach der Entlassung noch das Beileid aussprechen. "Mein Arzt riet mir, von schwarzer Kleidung abzusehen."
"Das war wirklich sehr vernünftig von ihm, genauso, wie dir zur Gründung eines Chores zu raten. Die Idee stammt doch auch von ihm, wie du geschrieben hast", sagte Alois.
Mit einem glücklichen Lächeln schob sie eine Vase mit rosa Nelken zur Seite und bemerkte: "So, die Idee gefällt dir also? Wirklich?"
"Wäre ich sonst so schnell gekommen? Allerdings mußt du entschuldigen, daß ich so völlig unangemeldet aufgekreuzt bin. Meine Mutter rief mich gestern in Kopenhagen an, und dadurch erfuhr ich von deinem Brief."
"Bist du in Kopenhagen engagiert?" fragte Christina interessiert.
"Ja, ich dirigiere in Vertretung ein Tanzorchester in einem Hotel. Toni unterrichtet übrigens Musik an einer Volksschule in München", berichtete Alois bei der Gelegenheit.
"Und was ist mit eurem eigenen, großen Orchester?" fragte Christina eher scherzhaft.
"Ja, das blieb ein Traum", gestand Alois freimütig. "Vergiß aber bitte nicht, daß ich troztdem einmal die Ehre hatte, dich bei einem Konzert zu begleiten."
Christina überlegte einen Moment, dann mußte sie lachen. "Zu Direktor Günthers Geburtstag, nicht wahr? Dafür muß ich dir sogar dankbar sein, denn es war das entscheidende Konzert für mich."
Sie vertieften sich in Erinnerungen an die Zeit beim Münchener Chor. Alois wußte, daß sich außer dem Tod von Mimi dort nichts verändert hatte. Er hatte Christina einige Fotos als Andenken an die damalige Zeit mitgebracht, mit denen er ihr eine große Freude machte. Immer mehr Erinnerungen wurden wachgerufen, bis sie schließlich vom Münchener Kinderchor auf die Gründung eines Kieler Kinderchores zu sprechen kamen.
Voller Begeisterung und ohne die finanziellen Probleme zu übergehen, unterbreitete Christina Alois ihre Pläne, als Schwester Olga sie unterbrach.
"Die Sonderzuteilung berücksichtigt keinen Besuch, sondern einzig und allein die Zeit", sagte die Schwester auf die Spritze in ihrer Hand deutend. Unaufgefordert verließ Alois das Zimmer.
Als er zurückkam, saß Christina bereits wieder am Tisch. "Ich kann also nur wiederholen, Alois, was ich vorhin gesagt habe", nahm sie das Gespräch sofort wieder auf. "Für das Schulhaus besitze ich bereits ein großes Grundstück, und meine Mittel reichen auch für ein angemessenes Gebäude mit allen erforderlichen Räumlichkeiten aus, zumal vieles in Selbsthilfe gemacht werden kann. Den Bauplan macht ein Onkel von mir, der Architekt ist. Oder die Möbel - einer meiner Brüder ist Tischler, und der andere ist auch nicht ungeschickt. Er besucht zur Zeit die bautechnische Hochschule, zwar nicht in Kiel, aber am Wochenende ist er zu Hause."
"Damit wäre ein Teil der Probleme gelöst, wie aber denkst du, die laufenden Kosten zu decken?" fragte Alois.
"Unser Hauptproblem!" sagte Christina. "Wir müßten uns um Unterstützung bemühen, vielleicht hier bei der Stadt. Immerhin könnte man es versuchen. Außerdem würde ich den Großteil meiner Gagen zusteuern; es gehört nun mal ein gewisser Idealismus dazu, denn du weißt, wir können am Anfang vom Chor mit keinerlei Einnahmen rechnen."
"Das ist mir vollkommen klar. Nur hast du geschrieben, in wenigen Jahren deine Arbeit im Showbusiness so ziemlich aufgeben zu wollen." Mit unüberhörbarer Betonung formulierte Alois die nächste Frage: "Willst du dann die Leitung des Chores alleine übernehmen?"
'Nein", antwortete Christina entschieden. "Ich möchte mich endlich um meine Tochter kümmern. Selbstverständlich werden wir dann weiterhin alles gemeinsam besprechen, aber die Hauptleitung läge bei dir."
Nachdem dieser entscheidende Punkt für Alois geklärt war, gab er Christina seine feste
130

Zusage, unter den gegebenen Voraussetzungen Leiter des Chores zu werden.
Gerade im richtigen Augenblick brachte Schwester Olga Kaffee und Gebäck, und lachend stießen Christina und Alois auf den gewünschten Erfolg des zukünftigen Kieler Kinderchores an.
Nach der Mittagsruhe notierte sich Christina voller Begeisterung ihre ersten Ideen für den eigenen Kinderchor. Ihr schien es endlos lange her, daß sie einen solchen Eifer empfunden hatte. Es galt, einen Kindheitstraum zu verwirklichen, von dem sie sich so viel versprach. Sie sah bereits deutlich die Einrichtung vor sich: die Schlafräume mit schlichten hellbraunen Holzmöbeln, einem schmalen Kleiderschrank für jedes Kind, und Betten mit festen Matratzen; dazu buntgeblümte Gardinen und Tagesdecken aus dem gleichen Stoff.
Kräftiges Klopfen an die Tür riß Christina aus ihren Gedanken. "Herein!" rief sie verärgert, und im nächsten Augenblick stand Winnie im Zimmer.
Beim Anblick des vergitterten Fensters rief sie erstaunt: "Jetzt noch Scheinwerfer, und die Szene einer Gefangenen ist komplett. Christina, wo bist du nur gelandet?"
"In des Teufels Netz, wie du siehst", entgegnete Christina ungehalten. "Aber du hast nun mal das Talent, mich überall zu finden."
"Ja, aber offenbar als Schreckgespenst, so entsetzt, wie du bei meinem Anblick hochgefahren bist." Mit diesen Worten schloß Winnie die Tür. "Was machst du überhaupt noch hier, wo du doch schon angezogen am Tisch sitzt?" fragte sie.
"Ich schreibe, wie du siehst; oder sagen wir besser, ich schrieb, bis du aufgekreuzt bist", sagte Christina und klappte ihren Schreibblock zu.
"Diese Freude, mich wiederzusehen; ich bin gerührt. Aber immerhin erkenn' ich dich darin wieder."
Christina überhörte den Spott und entgegnete: "Du hast dich äußerlich sehr verändert. Braungebrannt und so erwachsen im Kostüm, mit Hut und Tasche ..."
"Seit wann trage ich einen Hut? Dieser Teller hier ist eine Baskenmütze", fiel Winnie ihr ins Wort. "Übersieh bitte nicht, was darunter ist: eine Dauerwelle."
Zu Winnies unverkennbar ihrer eigenen nachgeahmten Frisur schwieg Christina jedoch. "Jedenfalls hast du dich in den USA herausgemacht."
"Machen müssen, denn ich hatte meine Anstandswauwaus dabei. Meine Eltern und Günther. Gefall ich dir wenigstens?" fragte Winnie, und ihre beigefarbene Handtasche unter den Arm geklemmt, drehte sie sich einmal um sich selbst. "Na?"
Ihre Grazie ließ immer noch zu wünschen übrig, aber das sportliche Kostüm aus hellgrünem Leinen, die gleichfarbigen Pumps und die kecke beige Mütze, gefielen Christina. "Schick", sagte sie lobend.
"Nicht wahr." Eine andere Kritik hatte Winnie nicht erwartet und zufrieden setzte sie sich in den Sessel. "Und die ganze Ausstattung kommt nicht mal aus einem feinen Modesalon, sondern nur aus einem großen Kaufhaus in Los Angeles. Sag' mal, von wem weißt du überhaupt, daß ich in den USA war?"
Leicht verärgert sagte Christina: "Im Vergleich zu manch anderem hier lautet meine Diagnose nicht Gedächtnisschwund!"
"Christina, so habe ich das nicht gemeint, ganz bestimmt nicht", sagte Winnie entschuldigend.
"Schließlich hast du mir doch so oft vorgeschwärmt: 'Mit meinem Abitur ist mir eine Reise nach Kalifornien sicher'. Und daran habe ich nie gezweifelt. Ich gratuliere dir übrigens noch nachträglich, du Glückliche!" sagte Christina mit ehrlicher Freude, denn sie wußte, daß Winnie von der Paukerei die Nase voll hatte.
"Danke. Ja, ich fühle mich richtig glücklich. Ob ich mal studiere, weiß ich noch nicht.
131

Vielleicht mache ich es so wie Inga, sie hat auch zwei Jahre gewartet", sagte Winnie.
"Ich glaube, sie wartet noch ein Jahr", sagte Christina. "Sie ist nämlich für einige Monate am Tegernsee, weil ihre Großmutter krank ist."
"Das wußte ich nicht. Inga ist weg, Gerlinde ist nicht mehr hier, und ich war auch verreist. Da hattest du ja gar keinen Besuch, außer von deinen Angehörigen natürlich", stellte Winnie bedauernd fest.
"Keinen ist gut!" lachte Christina und lehnte sich im Sessel zurück. "Besuch hatte ich genug. Gerade vorhin war ein alter Freund aus München da."
"Von früher, vom Chor?" fragte Winnie erstaunt.
"Ja, da staunst du, was? Außerdem besuchten mich auch noch einige andere Freunde."
"Mit anderen Worten: Winnie, du bist überflüssig", sagte Winnie resigniert.
Christina lenkte um des lieben Friedens willen ein. "Quatsch! Natürlich freu ich mich über deinen Besuch, ich meinte damit nur, daß ich hier nicht als einsames Mauerblümchen hocke. Außerdem werde ich in drei Tagen entlassen."
"Christina, das ist ja großartig!" rief Winnie erfreut. "Du kennst ja meinen Bruder, den komischen Knirps. Er hat nie großen Wert auf Geburtstagsfeiern gelegt, aber jetzt, zu seinem siebzehnten, will er auf die Pauke hauen. Ich bin mal gespannt, wie das aussehen soll."
"Das bin ich auch", sagte Christina.
"Wirklich? Es wird ja immer besser!" Übermütig sprang Winnie auf und sagte feierlich: "Hiermit gebe ich bekannt, daß Christina Gessler, geborene Hoppe, der geladene Ehrengast dieses gewaltigen Ereignisses ist. Darüber hinaus wurde ich ausdrücklich darauf hingewiesen, zu betonen, daß die Geladene im Falle einer Entlassung meinen Bruder nicht enttäuschen möge."
"Ich soll ihn nicht enttäuschen?" lachte Christina. "Er scheint sich in meinem Alter zu irren. Wenn ich jetzt auch Witwe bin ... "
"Oh Christina", unterbrach Winnie sie bestürzt. "Ich habe gestern sofort nach meiner Rückkehr bei deiner Mutter angerufen, und sie bat mich, deinen Mann nicht zu erwähnen. Darum habe ich bisher nichts gesagt."
"Das brauchst du auch weiterhin nicht", erwiderte Christina.
"Das versteh ich nicht. Ich meine, das klingt ein bißchen verwirrend." Winnie schaute sie fragend an.
"Eine etwas kurzfristige Einladung, findest du nicht auch?" sagte Christina ruhig.
Winnie begriff: Themawechsel. "Ja, vielleicht", antwortete sie, "aber du wirst ihn nicht enttäuschen?"
Christina überlegte. Eigentlich wollte sie mit einer glaubhaften Ausrede die Einladung ablehnen. Andererseits, dachte sie, wäre es auch eine gute Möglichkeit für sie, ihr Selbstvertrauen wiederzugewinnen. Würde sie diesen Besuch bei Zieglitzens überstehen, brauchte sie in der Öffentlichkeit keine Hemmungen zu haben. "Wer sind die anderen Ehrengäste?" fragte sie.
"Ehrengast bist du, die anderen sind Nebengäste. Günthers Freund Mücke kommt, das ist der mit der Nickelbrille und den Säbelbeinen. Dann mein Cousin Zwickel und meine holde Cousine Lila, beide sind zur Zeit bei uns zu Besuch", erklärte Winnie.
"Deine Bezeichnungen! Mücke, Zwickel, und weiter?" fragte Christina lachend.
"Was heißt weiter? Meine eigene Wenigkeit, mein Vater, meine Mutter, meine Großmutter."
"Mit denen will Günther also auf die Pauke hauen", sagte Christina amüsiert.
"Das sind doch nur große Worte bei dem. Also, wie ist es? Bitte sag nicht nein, mein Bruder wäre tief enttäuscht. In drei Tagen wirst du doch sowieso entlassen, da tun dir ein paar Stunden Ausgang vorher bestimmt gut. Du hast keine Verträge, die Sonne scheint, die Antwort ist also ja!" entschied Winnie schnell.
132

Christina gab sich geschlagen. "Was kann man da noch sagen?"
"Nichts. Ich hab doch schon alles gesagt. Morgen nachmittag um drei Uhr holt Herr Hinrichsen dich ab."
"Morgen schon?" fragte Christina verblüfft. Jetzt verstand sie auch, warum Winnie von ein paar Stunden Ausgang gesprochen hatte. "Nein", sagte sie, "so ohne weiteres geht das nicht, schließlich bin ich dann noch nicht entlassen."
"Ich rede mit deinem Arzt", bot Winnie sich eifrig an.
"Um Gottes willen", rief Christina entsetzt, "überlaß das mir und erzähl mir jetzt von deiner Reise."
133

DIENSTAG, 4.9.1956
Der Besuch bei Zieglitzens verlief mit einigen Überraschungen. Bei der Ankunft hatte Christina den entsetzten Gesichtern der Erwachsenen entnommen, daß die Einladung Winnies Idee gewesen war, ohne die Eltern um Erlaubnis zu fragen. Und jetzt erlebte sie im Eßzimmer einen überschäumenden Streit zwischen Winnie und Lila mit. Begonnnen hatte er mit Meinungsverschiedenheiten über Lappalien an der Kaffeetafel. Frau Zieglitz und Frau Eggert bemühten sich, die Gemüter wieder zu beruhigen.
Diskret zog Christina sich nach nebenan ins Wohnzimmer zurück, das mit eleganten Chippendale-Möbeln eingerichtet war. Hier, fern von den Auseinandersetzungen und doch nicht fern genug, um nicht noch einige Wortfetzen zu hören, nahm sie auf dem Sofa Platz. Bei ihrem ersten Besuch vor über vier Jahren, hatte sie genau hier gesessen, erinnerte sich Christina. Unendlich viel war in der Zwischenzeit geschehen, und vieles davon hatte ihr Ansehen bei Zieglitzens sicher nicht gesteigert. Wie deutlich sie das spürte! Aber Winnie hatte sie nun mal in diese Falle gelockt, und nur Günthers wegen war sie bereit gewesen, eine kurze Zeit zu bleiben. Doch mittlerweile hatte sie ihren Entschluß längst bereut, denn die Jungen waren nach dem Kaffeetrinken sofort auf Günthers Zimmer verschwunden.
Christina war bemüht, die lauten Stimmen aus dem Nebenzimmer zu überhören, aber es war vergeblich. Wie sehr sich die beiden Cousinen im Temperament glichen! stellte sie fest. Doch Lilas Art, sich zu kleiden, gab ihr einiges zu bedenken: der fast bis zur Hüfte reichende Schlitz ihres enganliegenden Rockes und die zu tief ausgeschnittene grasgrüne Spitzenbluse zum Beispiel. Die gleichfarbigen Stöckelschuhe und die mit einer grünen Schleife hochgesteckten roten Haare fand Christina hingegen recht kokett. Lila hatte eine gute Figur, und würde sie sich ein bißchen dezenter kleiden und die Sommersprossen mit etwas Make-up bedecken, wäre sie sogar eine kleine Schönheit, mußte Christina ihr zugestehen. Ja, und ausgerechnet der Mutter dieser Lila sollte sie ähnlich sehen? Christina erinnerte sich an die Behauptung, die Winnie einmal gemacht hatte.
Plötzlich stürmte Winnie herein. "Du bist alleine? Wo sind die Jungs?" rief sie.
Ihr gereizter Ton verriet die Verliererin, und als Christina ihr mitteilte, die seien oben mit den Briefmarken beschäftigt, zischte Winnie:
"Diese Bengels! Aber eine sind wir erst mal los. Sie hat sich ihren Mantel geschnappt und ist prominieren gegangen." Wütend ahmte sie Lilas Trippelschritte nach, so daß Christina lachen mußte.
"Bestimmt, genauso geht diese Vogelscheuche", rief Winnie aufgebracht. "Und immer soll ich nachgeben, nur weil sie bei uns zu Besuch ist. Wenn ich bei ihnen bin, hör ich von meiner Tante nie, daß Lila nachgeben soll. Nein, da heißt es nur: 'Winnie, Liebes, du bist so viel jünger, das verstehst du noch nicht.' Dabei ist es nur ein Jahr, ein einziges Jahr, Christina, das diese rote Lila älter ist als ich." Trotzig warf Winnie den Kopf in den Nacken und ließ sich, die Hände in den Taschen ihres Kleides vergraben, auf einen Sessel neben Christina fallen.
"Was hat sie von ihrer Mutter geerbt?" fragte Christina vorsichtig. "Lila ist nämlich gar nicht schlecht gebaut."
Entsetzt starrte Winnie sie an. "Jetzt sag bloß noch, du findest die Kuh hübsch!"
"Das habe ich nicht gesagt. Aber ein Bild der Mutter würde mich schon interessieren", sagte Christina.
"Die sehen sich ... " Winnie hielt inne. "Ach so, jetzt versteh ich. Wozu versteckst du dich hinter Lilas nicht vorhandener Schönheit? Es ist deine Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, die
134

du sehen möchtest, nicht wahr?"
Christina fühlte sich ertappt, aber Winnie war gleich aufgesprungen und hinüber zum Sekretär gelaufen. Sie kam mit einer kleinen Aufnahme zurück, die sie Christina gab.
"Hier, nimm erst mal mit dieser vorlieb. Oben haben wir ein großes Foto in Farbe, auf dem sie jünger ist. Da erkennt man die Ähnlichkeit besser."
Christina betrachtete das kleine Porträt von Winnies Tante, aber eine direkte Ähnlichkeit stellte sie zu ihrer größten Zufriedenheit nicht fest. "Das feingeschnittene Gesicht könnte Lila von ihrer Mutter haben, sonst aber ähnelt sie ihr tatsächlich nicht", kommentierte Christina die Aufnahme.
"Das hab ich doch gesagt", rief Winnie kopfschüttelnd.
"Hast du dich noch nicht beruhigt?" fragte die Großmutter, die in diesem Moment das Wohnzimmer betrat.
"Wegen Lila?" entgegnete Winnie schnippisch, während sie das Foto wieder zurückbrachte. "Die ist keiner weiteren Worte wert, selbst wenn sie sich in ihrem Aufzug eine Lungenentzündung einhandeln würde."
"Wie ungezogen von dir", sagte Frau Eggert verärgert.
Zu gern hätte Winnie sich noch weiter über ihre heißgeliebte Cousine ausgelassen. Sie unterließ es aber, denn Frau Zieglitz kam mit einem Krug Kirschsaft in der Hand herein.
Plötzlich kam es Christina vor, als säße sie auf einem Vulkan, der jeden Moment auszubrechen drohte. Frau Eggert hatte im Sessel zu ihrer Linken Platz genommen, und schweigend betrachtete Christina die würdevolle Haltung der alten Dame. Ihr graues Haar war sorgfältig hochgesteckt, und sie trug ein schlichtes, schwarzes Seidenkleid. Christina konnte sich an ihre Erscheinung nicht mehr recht erinnern, denn sie hatte Frau Eggert nur das eine Mal am Dieksee gesehen. Frau Zieglitz hingegen hatte sie von ihrem ersten Besuch in dieser Villa noch gut in Erinnerung behalten. In ihrem cremefarbenen Wollkleid war sie genauso elegant wie damals. Ja, sie ist eine bewundernswert anmutige Frau, dachte Christina, während sie von Winnie ein Glas entgegennahm. Das würde sie noch leeren und dann gehen, nahm sie sich vor.
"Prost, Christina, auf deinen Besuch, und auf das Geburtstagskind", rief Winnie, obwohl sie wußte, daß Günther es in seinem Zimmer nicht hören konnte. Übermütig hob sie das Glas in die Höhe.
Frau Eggert überhörte Winnies Worte, während Frau Zieglitz, die sich nun ebenfalls zu ihnen gesetzt hatte, nachsichtig ihr Glas erhob und mit einem wohlgefälligen Lächeln Winnie zunickte.
"Ja, auf eine gute Zukunft für ihn", schloß Christina sich an und nahm einen möglichst großen Schluck.
Interessiert wandte sich Frau Zieglitz ihr zu und fragte: "Hast du schon eine Ahnung, Christina, wie es bei dir nach der Entlassung aus der Klinik weitergeht?"
Christina horchte auf. Wollte Frau Zieglitz mit dieser überaus freundlichen Frage etwa herausbekommen, wie lange sie sich noch in Kiel und damit in Winnies Nähe aufhalten würde? "Ja", antwortete Christina ruhig, "ich werde eine längere Ruhepause bei meinen Eltern einlegen."
"Die paar Wochen nennst du eine längere Ruhepause?" wunderte sich Winnie.
"Also wollen Sie sich schon bald wieder von Ihrer Tochter trennen?" fragte Frau Eggert mit einem deutlichen Ausdruck von Mißbilligung.
"Großmama" rief Winnie böse und kam damit ihrer Mutter zuvor, die sich in gleicher Weise, jedoch verhaltener, äußerte.
Christina aber antwortete mit ruhigen Worten: "Meine Tochter, Frau Eggert, liebe ich über alles, falls Sie das bezweifeln. Die kommende Aufgabe hilft mir aber zur Zeit über manches hinweg. Ich werde ein lustiges Waisenmädchen spielen, das sich mit Tanz und
735

Gesang die Herzen erobert." Plötzlich mußte sie lachen. "Manchmal glaube ich sogar, daß ich mich selbst spiele, besonders in bezug auf das Waisenmädchen. Aber das wurde nicht aus Kiel zu Frau Haberland nach Hamburg abgeschoben, so wie ich."
Winnie starrte sie fassungslos an. "Ins Waisenheim? Christina, du willst doch nicht im Ernst sagen, daß du ..."
Frau Zieglitz' starrer Blick und Frau Eggerts zusammengepreßte Lippen zeigten Christina, wie unerwünscht ihre große Offenheit gewesen war. Aber was hatte sie zu verlieren? Das Entsetzen der beiden Frauen bereitete Christina sogar eine gewisse Genugtuung, und freimütig antwortete sie Winnie: "Ja, ich will damit sagen, daß ich adoptiert bin."
"Christina, du scherzt", entgegnete Winnie.
"Warum sollte ich? Nur weil das bisher nicht bekannt ist? Mir scheint die Freude auf die neue Aufgabe die Zunge gelockert zu haben. Ich hoffe aber, daß es nicht weiter an die Öffentlichkeit dringt" fügte sie vorsichtshalber noch hinzu, damit der mit der Mutter vereinbarte Termin eingehalten würde.
"Durch uns wird ganz bestimmt nichts bekannt", versicherte ihr Frau Eggert.
Winnie hatte sich von der Verwirrung erholt und fragte: "Nicht möglich, Christina! Also sind Hoppes gar nicht deine richtigen Eltern?"
"Sagen wir, sie sind nicht meine leiblichen Eltern, aber sie haben die tiefe Lücke zu füllen gesucht, die entstand, als ich von meinen Wurzeln weggerissen wurde. Deshalb achte und liebe ich sie."
"Das ist die Hauptsache", bemerkte Frau Eggert daraufhin in einem Ton, der deutlich ausdrückte, daß sie das Thema damit für beendet hielt.
Aber Winnie konnte diese Sensation noch nicht auf sich beruhen lassen. Aufgeregt fragte sie: "Und deine leiblichen Eltern, Christina, leben die nicht mehr?"
"Eleonore, hör auf mit deinen indiskreten Fragen", tadelte Frau Eggert ihre Enkelin und erhob sich. Gemessenen Schrittes wandte sie sich zum Gehen.
Auch Frau Zieglitz schien Winnie etwas sagen zu wollen, doch auf Winnies, mit größter Unschuldsmiene hervorgebrachte Frage: "Ist was?", antwortete sie dann: "Nein, nein, ich werde mal nach dem Abendessen sehen."
"Wieso denn jetzt schon? Wir haben doch gerade erst Kaffee getrunken", erwiderte Winnie. Doch sie erhielt keine Antwort mehr, die Mutter war Frau Eggert gefolgt und hatte das Zimmer bereits verlassen.
Endlich waren sie allein, dachte Winnie und wollte Christina schon mit weiteren Fragen bestürmen, als diese sagte:
"Deiner Mutter scheint es nicht gutzugehen."
"Ach, immer das gleiche. Sie ist blutarm", antwortete Winnie mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Nun, was immer es auch sein mochte, Christina saß allein mit Winnie im Wohnzimmer und konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen: "Heute wird aber lebhaft auf die Pauke gehauen."
"Du bist selber schuld. Du hättest Günther kein Briefmarkenalbum schenken sollen", sagte Winnie, streifte sich die Pumps ab und zog die Beine hoch. "Bis zum Abendessen werden sich alle wieder eingefunden haben."
"Nein, Winnie, ich möchte gern zur Klinik zurück, und zwar sofort."
"Wie, um Gottes willen, kann man Verlangen nach einer Klinik haben", fragte Winnie verständnislos. "Ich hätte jetzt viel mehr Lust auf ein Gläschen Kakaolikör."
"Genieß es, sobald ich fort bin", sagte Christina und stand auf. "Falls Herr Hinrichsen nicht da ist, rufst du mir bitte eine Taxe." Und mit diesen Worten hatte sie das Wohnzimmer bereits verlassen.
136

DONNERSTAG, 6.9.1956
Die Sonne flutete in das Zimmer, und Christina fühlte sich so unternehmungslustig wie schon lange nicht mehr. Jeden Moment würden die Eltern sie abholen, also mußte sie sich noch schnell von Dr. Markus verabschieden. Sie zog ihre Kostümjacke an, die genau wie der enganliegende Rock marineblau war, schwang sich die weiße Tasche über die Schulter und nahm ihre Lederhandschuhe. Entschlossen verließ sie das Zimmer und lief dabei fast Frau Zieglitz in die Arme, die gerade an die Tür klopfen wollte.
"Sie?" Das war alles, was Christina in ihrer Verblüffung sagen konnte.
Frau Zieglitz jedoch reichte ihr mit einem Lächeln die Hand und sagte: "Guten Tag, Christina. Blendend siehst du aus, ich hoffe, daß du dich auch genauso fühlst."
"Ja, ganz genauso; voller Schwung und zu neuen Taten aufgelegt", erwiderte Christina, die sich vom ersten Schreck erholt hatte. Sie deutete auf den Koffer in ihrem Zimmer: "Ich wollte mich gerade von meinem Arzt verabschieden."
"Dann will ich dich nicht lange aufhalten", sagte Frau Zieglitz lächelnd.
Höflichkeitshalber bat Christina sie also, einzutreten und Platz zu nehmen. In der Ruhe jedoch, mit der Frau Zieglitz ihre Handschuhe auf dem Tisch ablegte und dann ihren leichten, weißen Wollmantel aufknöpfte, sah Christina nicht die geringsten Anzeichen, daß sie sich beeilen wollte.
"Da haben Sie mich gerade noch erwischt", versuchte sie noch mal indirekt auf ihre knappe Zeit hinzuweisen.
Mit unveränderter Ruhe fragte Frau Zieglitz: "Du wunderst dich sicher über mein Kommen?"
"Ja und nein", antwortete Christina ungeduldig aber freundlich. "Reden wir nicht länger um den heißen Brei herum, Frau Zieglitz. Ich weiß, daß Sie sich Sorgen machen, daß Winnie zu oft mit mir zusammentrifft." Frau Zieglitz wollte etwas einwenden, aber Christina ließ sich nicht unterbrechen. "Und glauben Sie mir, auch ich bin es leid, noch länger mit vielen gutgemeinten Ratschlägen Winnies ältere Schwester zu spielen."
"Schwester?" fragte Frau Zieglitz.
"Ja, Schwester." Im stillen amüsierte sich Christina über ihren entsetzten Gesichtsausdruck. "Wie Sie bereits wissen, Frau Zieglitz, nehme ich meinen Beruf wieder auf; vielleicht gelingt es Ihnen, Winnie dann von mir fernzuhalten."
"Christina,... ", versuchte Frau Zieglitz, sie zu unterbrechen.
"Ja, ich bitte Sie sogar darum, damit wäre mir nämlich genauso gedient, wie Ihnen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich übrigens noch kurz auf etwas anderes hinweisen", sagte Christina unbeirrt. "Ich möchte nicht um Verständnis bitten, das habe ich nicht nötig, aber was meine Tochter anbetrifft, oder überhaupt mein Leben: es gibt wohl kaum einen Menschen, der ohne Probleme durchs Leben geht, nur schütteln einige sie leichtfertig von sich, und andere versuchen, sich mit ihnen auseinander zu setzen. Und dabei kann man den Halt verlieren, wie ich zum Beispiel. Ich weiß es, aber dank meines Arztes und meiner verständnisvollen Angehörigen steh ich endlich wieder mit beiden Beinen fest auf dem Erdboden."
"Darüber freue ich mich aufrichtig für dich, Christina" sagte Frau Zieglitz, die jetzt endlich auch zu Wort kam. "Ja, das hast du sehr richtig gesagt, daß jeder mal Probleme hat, schwere und weniger schwere. Deshalb bin ich auch hier. Du weißt, Christina, daß meine Mutter schon alt ist, und ältere Leute haben mitunter so ihre kleinen Eigenheiten, und zeitweise sind sie auch ein wenig schwierig. Darum möchte ich mich für ihr Verhalten vor
137

zwei Tagen entschuldigen."
"Entschuldigen?" fragte Christina ungläubig. Frau Zieglitz entschuldigte sich für ihre Mutter? "Danke, aber nötig war das nicht", wehrte sie höflich ab.
"Doch, das ist das wenigste, was ich tun kann. Ich mußte mich leider beizeiten zurückziehen, aber was du von deiner Adoption erzählt hast, war übrigens sehr interessant."
Wie scheinheilig, dachte Christina. "Das war unbeabsichtigt, eine impulsive Reaktion wegen meiner Freude über die neue Filmpartie, die ein bißchen meinem Leben gleicht, wohlbemerkt nur ein bißchen."
"Auch mit Adoptiveltern und Geschwistern?" fragte Frau Zieglitz.
"Mit Adoptiveltern ja, aber nicht mit Geschwistern."
"Du selbst hast überhaupt keine leiblichen Geschwister?"
"Nein", antwortete Christina, ohne zu erröten.
Frau Zieglitz schaute sie an und meinte: "Es hätte ja sein können, denn oft werden Geschwister in solchen Fällen getrennt, manchmal sogar Zwillinge."
Christina stutzte. War das wirklich nur eine zufällige Äußerung? Sie holte tief Luft und stimmte dann möglichst gelassen zu: "Ja, so etwas passiert. Das Heim, in dem ich war, wurde im Krieg zerstört und zur Grabstätte der Kinder, die noch dort waren. Ich selbst hätte vielleicht auch dazu gehört, wenn mich meine Adoptiveltern nicht zu sich geholt hätten." Ungeduldig sah Christina nun auf ihre Armbanduhr. "Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen möchten, Frau Zieglitz, meine Eltern werden jeden Moment hier sein, und ich möchte mich noch von meinem Arzt verabschieden."
Für seine Mühe und Hilfe verdiente Dr. Markus ihren Dank. Christina brauchte nur einen Augenblick auf dem Korridor zu warten, bis er aus seinem Behandlungszimmer kam.
Erfreut begrüßte er sie: "Selten habe ich mein Frühstück und meine Zeitung so sehr genossen, wie an diesem Morgen, Frau Gessler."
"Etwa, weil ich entlassen werde?" wunderte sich Christina.
"Nein", lachte Dr. Markus, "sondern weil ich einen derartigen Erfolg in meiner Praxis noch nie zu verzeichnen hatte. Ihre hier geschöpften Energien und Ihr Unternehmungsgeist sind wirklich bewundernswert. Hoffentlich überschätzen Sie Ihre Kraft und Ihre finanziellen Mittel nicht, denn mein Vorschlag beruhte auf einer bescheideneren Basis."
"Herr Doktor, Sie wissen davon?" fragte Christina verdutzt.
Dr. Markus zog einen Zeitungsausschnitt aus der Tasche seines weißen Kittels und las mit feierlichem Tonfall: "Christina Gessler wird heute ... und so weiter; daß Sie halt entlassen werden. Aber hier ist es: Christina Gessler beabsichtigt, unter Mithilfe erfahrener Kräfte, einen Kieler Kinderchor zu gründen. Das Schul- und Wohnheim, in dem zunächst etwa dreißig Kinder eine gründliche Ausbildung erhalten werden, soll bis Ende April nächsten Jahres fertiggestellt sein. Und so weiter."
"Das kann nur mein Onkel gewesen sein", sagte Christina. "Wissen Sie, er ist ein lieber Mensch, nur ab und zu möchte man ihm Klebstoff zwischen die Lippen streichen. Ich habe deshalb nichts gesagt, Herr Doktor, weil ich Sie mit dem fertigen Bau überraschen wollte."
"Dann seien Sie jetzt mir zuliebe Ihrem Onkel nicht böse, denn auf diese Weise darf ich nun in der Vorfreude leben. Ihr Entschluß ist wirklich großartig!" sagte Dr. Markus begeistert.
"Frau Gessler, Ihre Eltern sind da", unterbrach Schwester Olga das Gespräch.
"Ja, danke. Dann kann ich mich auch gleich von Ihnen verabschieden, Schwester Olga. Dabei möchte ich Ihnen ans Herz legen, daß Sie ja auch weiterhin Ihre Injektionen mit so viel Schwung geben, wie bisher. Dann behält Sie jeder in guter Erinnerung", lachte Christina.
Schwester Olga errötete heftig, und mit einem flüchtigen Händedruck verabschiedete sie sich schnell und eilte pflichtbewußt davon.
138

"Ich glaube, ich habe ihr wieder auf den Fuß getreten", bemerkte Christina mit einem spitzbübischen Lächeln, und auch Dr. Markus konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Dann fragte er:
"Wollen Sie sich jetzt noch von unseren kleinen Patienten verabschieden?"
Christina schüttelte den Kopf. "Das fällt mir zu schwer. Ich werde sie nicht vergessen. Jetzt möchte ich Sie aber nicht mehr länger vom Dienst abhalten, Herr Doktor. Wenn ich mal wieder Hilfe benötige ... "
"Dann kommen Sie zu mir. Und zu allem, was Sie sich vorgenommen haben: Toi, toi, toi", wünschte ihr Dr. Markus und bekräftigte es mit einem langen Händedruck.
"Vielen Dank. Der erste Auftritt des Chores ist für Sie" versprach Christina und wandte sich zum Gehen.
"Daran werde ich Sie zwischendurch erinnern", rief er ihr noch lachend nach.
139

Fünfter Teil
DONNERSTAG, 30.5.1957
Auch wenn Onkel Eduard oft zu viel plauderte, seine zuverlässige Arbeit schätzte Christina sehr. Er hatte nicht nur den Bauplan für sie entworfen, sondern auch die Bauarbeiten strengstens überwacht. Die Eltern, Kurt und Gerhard hatten anschließend die Innenausstattung in die Hände genommen.
Dank dieser Hilfe stand nun inmitten ihres von einem hohen Eisengitter umzäunten Grundstücks ein einstöckiges Wohn- und Schulgebäude aus Beton und viel Glas, in der Form eines stumpfen Winkels. Eine vorgebaute Eingangshalle mit einer offenen Terrasse im ersten Stock verband die beiden gleich langen Gebäudeflügel miteinander. Nicht alle Tannen waren dem Bagger zum Opfer gefallen, und Herr Mommsen hatte bereits große Flächen mit Rasen besät und den Rand der Auffahrt mit einer Buchsbaumhecke bepflanzt.
Der angesetzte Termin für die Aufnahmeprüfung der Chorkinder konnte eingehalten werden. Von nun an lag die Verantwortung bei Alois Vierärpel, Toni Wechselberger, Christina und dem weiteren Personal.
Längst hatte Christina die Angst vor eventueller Kritik an ihrer früheren Lebensweise verloren. Mit ihrer neuen kurzen Lockenfrisur, wirkte sie noch reizvoller, selbstbewußt und auch etwas reifer. Die Beliebtheit beim Publikum war ihr erhalten geblieben. Das hatte auch dieser Morgen gezeigt; man brauchte mehr Zeit als anfangs geplant war, um die Stimmen der vielen Neun- und Zehnjährigen zu prüfen.
"Halb soviele Kinder wären mir lieber gewesen", stöhnte Christina, als sie Vierärpels Büro betrat.
Er saß am Schreibtisch und war in seine Notizen vertieft. Nur ungern ließ er sich dabei stören, wie ihr sein Gesichtsausdruck deutlich verriet. Leicht verärgert lockerte er seine Krawatte und erwiderte: "Je mehr Kinder, je größer ist die Auswahl."
"Und um so mehr Enttäuschungen."
"Du meine Güte, Christina, deine Sorgen möchte ich haben. Wir suchen schließlich nicht nur gute, sondern sehr gute Stimmen. Toni und ich werden darum noch verschiedene Schulen der Umgebung besuchen."
Dann aber nichts wie raus mit der Sprache, dachte Christina beisich. "Ich bin eigentlich wegen Elke Jansen, der Kleinen aus Wellsee, zu dir gekommen. Sie hat zwar nicht gerade die kräftigste Stimme, das ist mir klar, aber daran ließe sich noch arbeiten ... "
"Ausnahmen?" unterbrach Alois sie.
Christina trat dicht an seinen Schreibtisch heran und blickte ihm fest ins Gesicht. "Nur eine, Alois. Ich beabsichtige nicht, unseren Grundsatz, einen gleichwertigen Chor wie den Münchener zu gründen, umzuwerfen. Aber deshalb sollte man trotzdem ein bißchen menschlich handeln."
Und das sagt Christina? wunderte sich Alois. Sie, die genau wissen müßte, daß es bei einem erfolgreichen Chor in erster Linie auf die Qualität der Stimmen ankommt? Er suchte aus seinen Papieren Elkes Prüfungsunterlagen heraus. "In zwei Monaten wird sie zehn", bemerkte er nachdenklich.
"Vor drei Jahren verunglückten ihre Eltern tödlich, der Großvater starb vor einem Jahr. Da ist zwar noch eine Tante, die sich aber nicht um Elke kümmern möchte. Die Großmutter ist also die Alleinversorgende, eine Frau von dreiundsiebzig Jahren. Sollte ihr in den nächsten vier Jahren etwas zustoßen, wäre Elke hier gut untergebracht", erklärte Christina ihm.
140

"Untergebracht? Wir eröffnen doch hier kein Waisenheim", wandte Alois empört ein.
"Also, wenn du jetzt auch noch ihre Konfession beanstandest, sehe ich in dir Fräulein Bittrig vor mir."
"Ich bitte dich, ausgerechnet die ... ! Aber auch wenn wir an Elkes Stimme arbeiten, dürfen wir keine hohen Erwartungen stellen", versuchte er noch mal seine Bedenken darzulegen. Ihr Einvernehmen erwartend, schaute er sie bittend an.
"Na?" fragte sie, so als hätte sie überhaupt nicht gehört, was er gesagt hatte.
Unwillig gab Alois schließlich nach, unter der Bedingung, noch mit Toni zu sprechen, den man bei dieser Entscheidung nicht übergehen sollte.
"Keine Sorge", sagte Christina zuversichtlich, "den krieg ich auch klein. Schließlich wollen wir ja Hand in Hand arbeiten."
"Mit anderen Worten, dieses Hand-in-Hand-Arbeiten bedeutet, daß du künftig sämtliche Entscheidungen selbst triffst?" fragte Alois.
"Das bedeutet, daß ich mich von den Aufnahmeprüfungen in Zukunft ganz fernhalte", antwortete sie und lächelte versöhnlich.
Diesen Entschluß begrüßte Alois im stillen. Ihr Lächeln erwidernd sagte er: "Du bist einfach zu weich, um den Kindern abzusagen und sie enttäuscht zu sehen."
"Da hast du recht. Weißt du, Alois, mir gefällt die Kleine. Sie macht einen aufgeweckten Eindruck, und die Großmutter ist eine liebe Frau. Also dank dir schön, Alois. Bis nachher", sagte Christina erleichtert. Als sie an der Tür war, drehte sie sich noch mal um. "Fast hätte ich es vergessen. Pastor Krause ist bei mir im Büro und unterhält sich mit Elke und ihrer Großmutter. Es wäre nett, wenn ich dich mit ihm bekanntmachen dürfte?"
Bereitwillig zog Alois sich seine Krawatte wieder zurecht.
"Übrigens, laß dich nicht von seiner Körperfülle täuschen, er ist vitaler als mancher Zwanzigjährige", fügte sie noch hinzu.
Alois wußte, daß Christina bemüht war, den pensionierten Pastor gegen Unterkunft und Verpflegung für die Kindererziehung zu gewinnen. "Hast du ihm das Angebot gemacht?" fragte er.
"Schon vor einiger Zeit. Da versprach er mir nur, daß er heute vorbeikommen wollte; du siehst, was er verspricht, das hält er. Nach seinem Entschluß habe ich noch nicht gefragt, vielleicht ergibt sich nachher die Gelegenheit dafür."
In der gemütlichen Atmosphäre von Christinas großem, mit Rosenholzmöbeln und hellen Teppichen eingerichteten Wohnzimmer, ergab sich schon bald die Gelegenheit. Auf der breiten Fensterbank standen viele Blumen. Sie waren Geschenke zur Einweihung des Heims. Christina wußte, daß der Pastor Blumen liebte, und sie kannte auch seine kleine Schwäche für ein Gläschen Benediktiner, zu dem er sich gern seine Pfeife anzündete, und sie hatte an alles gedacht. Bevor sie sich nun zu ihm an den Tisch setzte, schob sie dem Pastor den Aschenbecher näher und stellte neben das Likörglas noch einen offenen Pralinenkasten.
Endlich fand sie den Mut, sich nach seiner Entscheidung zu erkundigen.
"Mit meinen Sechsundsechzig Jahren ... ", sagte der Pastor schmunzelnd.
"Aber, Herr Pastor, sagt man nicht: Es ist mitunter erquickender, siebzig Jahre jung zu sein, als vierzig Jahre alt? Außerdem haben Sie Kinder so gern; die Kleinen merken das schnell und werden für ihren Pastor durchs Feuer gehen", sagte Christina eifrig.
Vergnügt zog er an seiner Pfeife und blies genießerisch den Rauch aus. "Du verstehst es, einem alten Großvater zu schmeicheln. Übrigens war die Freude der alten Frau Jansen und ihrer Enkelin vorhin rührend."
"Nicht wahr? Ich möchte gerne so vielen helfen und Freude bereiten, vielleicht läßt sich durch den Chor später einiges davon verwirklichen, durch Konzerte in Altersheimen und
141

Krankenhäusern. Musik erfreut doch die meisten Menschen."
"Das ist anerkennenswert, aber konzentrier dich zunächst ausschließlich auf das Nächstliegende, damit dir nicht plötzlich die finanziellen Mittel ausgehen. Ich weiß, daß ihr viel Unterstützung habt, aber die Instandhaltung dieses Prachtbaus verschluckt auch allerhand. Bitte versteh mich recht, Christina, ich befürchte nur, daß du deine eigene Kraft ein bißchen überschätzt. Damit möchte ich euch nicht euren lobenswerten Optimismus nehmen", sagte der Pastor. Nach einem Schluck Likör zwinkerte er ihr durch seine große, dunkelrandige Brille zu und fuhr fort: "Ein sympathischer Mensch, dieser Vierärpel."
"Ja, das ist er", stimmte Christina ihm zu. "Die Chorkinder in München nannten ihn immer das Bierferkel."
In diesem Moment zeigte sich ein brauner Lockenkopf in der offenstehenden Tür. "Stör ich?"
"Inga!" rief Christina und sprang auf. "Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein!" Sie schloß ihre Freundin voller Freude in die Arme. "Fast neun Monate haben wir uns nicht gesehen."
"Du sagst es. Und gut siehst du aus!" stellte Inga lachend fest. Höflich begrüßte sie den Pastor und schaute sich dann verwundert um. "Dieses Wohnzimmer und dieses Haus! Zu schade, daß ich nicht mehr zehn bin, dann hätte ich mein Glück hier auch noch versucht."
Christina lachte. "Da hättest du keine Chance gehabt. Der Prüfungsausschuß ist sehr streng, sag ich dir."
"Na und, bei meiner Opernstimme ..."
"Oh entschuldige bitte gnädigst meine Unterschätzung. Komm, setz dich zu uns. Hat deine Großmutter sich wieder erholt?" fragte Christina.
"Ja, habe ich dir denn geschrieben, daß ich wegen ihrer labilen Gesundheit zu ihr gefahren bin?" fragte Inga verwundert.
"Nein, aber deine Mutter erzählte es mir."
Pastor Krause zog noch einmal an seiner Pfeife und klopfte sie dann im Aschenbecher aus. "Ihr habt euch so lange nicht gesehen ... "
"Herr Pastor, Sie wollen doch nicht schon gehen?" Besorgt dachte Christina daran, daß die Frage seines Einzugs noch nicht geklärt war.
"Nicht sofort, ich mache noch einen Rundgang durchs Parterre", entgegnete er.
"Dann darf Frau Mommsen Ihnen bei der Gelegenheit vielleicht doch das für Sie vorgesehene Zimmer zeigen? Es liegt zusammen mit den Räumen der Lehrkräfte in diesem Flügel unter meiner Wohnung. Es ist bloß schade, daß die Sonne nicht scheint, dann wirkt es nämlich besonders gemütlich."
Pastor Krause war aufgestanden und zu Christina getreten. Mit einer väterlichen Geste klopfte er ihr auf die Schulter. "Na gut, weil du es bist", sagte er mit einem Lächeln. Was hatte er schon zu verlieren? dachte er. Als Witwer hier draußen in der Natur zu leben, war bestimmt angenehmer als in der Stadt.
"Das ist wirklich ein Freudentag!" rief Christina und strahlte über das ganze Gesicht. "Sie bleiben doch bis zum Mittagessen?"
"Leider kann ich nicht, denn meine Tochter erwartet mich, und ich kann meine Enkelkinder nicht versetzen", sagte der Pastor.
"Natürlich. Meine Sekretärin, Frau Knickeberg, muß nachher auf die Post. Ich werde sie bitten, Sie zu Ihrer Tochter zu fahren." Mit diesen Worten ging Christina zur Tür.
Nachdem sie hinter Frau Mommsen und dem Pastor die Wohnungstür geschlossen hatte, blickte Christina glücklich den langen Flur entlang, wo aus einem der hinteren Zimmer fröhliche Kinderstimmen durch die offene Tür drangen. Angelika spielte mit ihrer Cousine Annelie. Sobald auch Inga gegangen sei, würde sie sich eine Weile mit den Kindern beschäftigen, nahm Christina sich vor. Dann ging sie ins Wohnzimmer zu ihrer Freundin
142

zurück, die am Fenster stand und hinüber zu den Feldern und Wiesen jenseits des Kanals schaute.
"Hier sehe ich auch gern hinaus", sagte Christina. "Bald werden dort unten auf dem freien Platz die Chorkinder tollen und Sport treiben."
"Das ist alles wirklich phantastisch, aber sag mal, was ist aus deiner früheren Einrichtung geworden", wollte Inga wissen, da sie kein einziges Möbelstück wiedererkannte.
"Die Sachen gehörten größtenteils der Schwester meiner Schwiegermutter. Aber, Inga, du wirst kaum glauben, wer Erichs große Villa in Wiesbaden geerbt hat, die ihm seine Tante vermacht hatte."
So, wie die Ehe zwischen Christina und ihrem Mann gestanden hatte, dachte Inga sofort an Frau Kunze, wagte jedoch nicht, es auszusprechen. "Es ist besser, du sagst es mir."
"Ich", lachte Christina. "Kaum zu glauben, was?"
"Immerhin warst du seine Frau, wieso also nicht? Was wirst du damit machen?"
"Verkaufen. Das Geld kann ich gut gebrauchen", und damit war für Christina das Kapitel Erbschaft beendet. "Inga, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, mein eigenes Reich zu haben. Der ganze erste Stock hier im Südwestflügel ist meine Wohnung. Meine und Angelikas. Dank aller, die mitgeholfen haben. Meine Mutter zum Beispiel, hat alle Gardinen genäht. Und weißt du, wem ich besonders dankbar bin? Doktor Markus. Er hat einen anderen Menschen aus mir gemacht."
"Das scheint ihm allerdings wirklich gelungen zu sein", sagte Inga voller Überzeugung. "Du wirst dich künftig also ausschließlich Angelika und dem Chor widmen?"
"Ausschließlich meinem Beruf."
"Oh, Christina, nicht schon wieder! Wie du eben selbst sagtest... "
"Bleibt mir zunächst leider noch nicht viel Zeit für Angelika und den Chor", unterbrach Christina sie. "Ja, in gut einer Woche geht es wieder ins Filmatelier." Daß sie viel lieber jetzt mit ihrer Tochter ihr neues Heim und den Aufbau des Chores genießen würde, verschwieg sie. Ihre Gefühle wollte sie niemandem preisgeben, auch Inga nicht. "Genug von Möbeln, Häusern, Arbeit", sagte sie entschlossen. "Sprechen wir von etwas anderem, von dir. Darf man immer noch nicht zur Verlobung gratulieren?"
Inga senkte ihren Kopf. "Es ist aus", sagte sie fest.
"Aus? Ihr hattet doch bereits Heiratspläne", sagte Christina überrascht.
"Und trotzdem ist es aus. Ja, die Liebe ..." seufzte Inga.
"Die empfand Erich für meine Gagen", entgegnete Christina bitter. "Ach, die Männer, sie sollten mit einem Fragezeichen auf der Brust geboren werden."
"Auch Doktor Markus?" fragte Inga, um von Klaus abzulenken. "Deine Mutter sagte mir, er hätte dich sehr beeindruckt."
"Lediglich als Arzt", wies Christina die Andeutung lachend zurück. "Und ob auch er ein Fragezeichen tragen sollte? Nein, er nicht, wir brauchen auch solche, die die kümmerlichen Fetzen wieder zusammensetzen, sonst würde die Menschheit rapide abnehmen. Ach Inga, mir tut es leid, daß ausgerechnet du in der Liebe enttäuscht werden mußtest." Tröstend drückte Christina ihr die Hand.
"Erzähl von dir, Ablenkung ist momentan für mich die beste Medizin", bat Inga.
Christina überlegte; ihr das Geheimnis von Gerlinde zu erzählen, wäre bestimmt aufmunternd, aber sie hatte der Mutter versprochen zu schweigen. Schließlich sagte sie mit einem Seufzer: "Wenn ich Kurt wäre, dann würde ich dir jetzt die Karten legen."
"Wie bitte?"
"Karten legen, die Zukunft voraussagen. Ich hatte mal die Idee, Frau Martin und Gerlinde in München zu besuchen, und da wollte Kurt mir die Karten legen, um mir eine großartige Zukunft zu prophezeien."
"Hast du Gerlinde dann besucht?" fragte Inga.
143

"Ach was, das war nur so eine Schnapsidee. Ich rufe sie aber oft an, genau wie Kurt; er bezahlt ihr das Studium", erklärte Christina.
"Kurt? Er überrascht mich immer mehr."
"Ja, die Liebe! Vielleicht singt ihnen eines Tages der Kinderchor ein Hochzeitsständchen. Sicher ist jedenfalls, daß Gerlinde studiert, ohne zu wissen, daß Kurt ihr das Studium bezahlt; das würde sie nämlich nicht annehmen."
"Kurt und Gerlinde, also", sagte Inga lächelnd.
"Kurt und Gerlinde, oder mehr Kurt als Gerlinde, das weiß ich nicht."
Frau Knickeberg trat, mit einem weißen Umschlag in der Hand, herein. "Entschuldigen Sie die Störung, Frau Gessler, aber in der heutigen Post war wieder einer der bewußten Briefe."
"Der kommt ja wie gerufen!" meinte Christina aufgeregt und eilte ihrer Sekretärin entgegen.
Die junge, leicht untersetzte Frau wunderte sich: diesmal so enthusiastisch, ohne den Inhalt überhaupt zu kennen. Mit einem kurzen Gruß verließ sie wieder das Zimmer.
"Wollen wir doch mal sehen, was wir hier haben, Inga. Auf alle Fälle etwas, was dich ablenken wird." Christina zog einen sauber beschriebenen Bogen aus dem Umschlag. "Äußerst interessant!" sagte sie belustigt. "Jetzt werde ich schon von jemandem zur Tochter seiner früheren Nachbarin gekürt, die eine Affäre mit einem Friseur gehabt hat. Na, was sagst du dazu?"
Inga hatte sich aufs Sofa gesetzt und sagte erst mal gar nichts.
"Glaub bloß nicht, dieser Brief hier sei der einzige." Christina ging zum Wohnzimmerschrank und holte zwei weitere Briefe, die sie vor Inga auf den Tisch legte. "Hier, die habe ich einem Reporter zu verdanken, der vor etwa zwei Monaten von meiner Adoption erfahren hatte und sie als Sensation breittrat', erzählte sie, als wüßte Inga nicht längst davon. "Bitte, lies nur."
Das ließ Inga sich kein zweites Mal sagen. "Weißt du eigentlich, durch wen er es erfahren hat?" fragte sie, während sie die Briefe nahm.
"Ich habe eine vage Vermutung", sagte Christina und dachte dabei an Elfie Kunze, die es vielleicht von Erich wußte. "Jedenfalls habe ich neuerdings genügend Mütter zur Auswahl, und Väter in allen Positionen. Bei einer bin ich ein Mitbringsel aus dem Urlaub, ein Souvenir, das nach häuslichem Skandal auf schnellstem Weg fortgeschafft werden mußte. Bei der anderen war ich ein Geschenk vom verheirateten Chef, die häusliche Wirkung war die gleiche."
"Den Brief lese ich gerade", unterbrach Inga sie, "du kannst deine Phantasie also ein bißchen zügeln."
Christina lachte. "Vielleicht ist dir inzwischen auch aufgefallen, daß meine Mütter alle unschuldig sind; die Verbannung verdanke ich fast ausschließlich den Großeltern. Und mein Geburtsdatum, das erwähnt die eine erst gar nicht, das scheint sie vergessen zu haben. Dem anderen Brief nach bin ich einige Wochen älter. Ach Inga, es ist zum Lachen und zum Heulen zugleich" sagte sie. Sie hatte sich mittlerweile gesetzt und wartete nun auf eine Äußerung ihrer Freundin. Doch Inga ließ sich Zeit. Sorgfältig studierte sie erst den einen, dann den anderen Brief.
In dem großen Wohnzimmer herrschte jetzt Stille, nur in der Ferne war das Signal eines Schiffes zu hören. Nachdenklich schüttelte Christina den Kopf. "Ja, wie Schiller sagt: 'Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang'. Glaub mir, Inga, ich hätte Angelika niemals hergegeben, aber ich hätte mich ihretwegen auch nicht Hals über Kopf in die Ehe flüchten sollen."
Inga sah auf und entgegnete kopfschüttelnd. "Vergiß nicht, du hattest verständnisvolle Eltern."
"Ja, und hätte ich sie nicht gehabt, dann hätte ich einen anderen Ausweg gesucht. Glaub
144

mir, ich hätte ihn gefunden."
Das bestritt Inga nicht. Sie faltete den zweiten Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück.
Christina sagte: "Ich finde die Briefe jedenfalls - mit Vorbehalt wohlbemerkt - amüsant."
"Darüber bin ich wirklich froh, denn ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Die Zeit in der Klinik ... Gerade diese Erfahrungen aber sollten dir bewiesen haben, daß der Mensch mitunter in seiner Hilflosigkeit katastrophale Entschlüsse fällt. Vielleicht war es bei einer deiner angeblichen Mütter genauso. Denk' mal ein bißchen darüber nach, bevor du alle über einen Kamm scherst" erwiderte Inga mit ernster Miene.
"Amen! Oder geht deine Moralpredigt noch weiter? Ohne die hätte ich regelrecht etwas vermißt", sagte Christina scherzhaft. "Bei dir regiert nun mal die Vernunft, bei mir in erster Linie das Gefühl. Du kennst meine Ansicht."
"Leider nur zu gut", stöhnte Inga. "Und bevor ich mich wiederhole, ist es besser, ich verabschiede mich für heute."
"Deswegen?" fragte Christina erstaunt.
"Ach was", Inga erhob sich mit einem Ruck, "ich war nur auf einen Sprung vorbeigekommen. Du hast heute doch alle Hände voll zu tun."
Für diese Einsicht war Christina ihr dankbar. "Wenn du willst, kann Frau Knickeberg auch dich eben nach Hause fahren, vorausgesetzt, sie ist nicht schon weg", bot sie Inga an.
"Nein, danke, die frische Luft wird mir guttun. Ich möchte eine Weile allein sein."
Plötzlich klingelte es an der Wohnungstür.
"Bestimmt noch mehr Blumen", prophezeite Christina. "Übrigens habe ich noch etwas anderes bekommen." Sie öffnete die Schiebetür zum Zimmer nebenan, in dessen Mitte auf spiegelglattem Parkett ein schwarzer Konzertflügel stand. "Ein Geschenk von einem heimlichen Verehrer."
"Christina!" rief Inga erfreut. "Darauf spielst du mir noch etwas vor, und dann gehe ich."
Es klingelte ein zweites Mal, und mit den Worten: "Das mache ich wirklich gern, nur entschuldige bitte einen Moment, ich muß kurz öffnen, es scheint niemand mehr da zu sein", ging Christina zur Tür.
Inga lehnte sich an die Schiebetür und betrachtete den Flügel. Ein so teures Geschenk, dachte sie, konnte nur ein Zeichen von Liebe sein, und deshalb würde der heimliche Verehrer bestimmt nicht lange unbekannt bleiben. Plötzlich stutzte sie; hatte Christina gerade 'Frau Zieglitz' gesagt? Vom Korridor her waren die Begrüßungsworte deutlich zu hören gewesen, sie konnte sich nicht irren. Aber Winnies Mutter? Was wollte ausgerechnet diese Frau hier, fragte sich Inga verwundert, nach allem, was sie über sie gehört hatte. Aber egal, Christina hatte Besuch bekommen, und das Klavierspiel hatte bis zum nächsten Mal Zeit. Inga nahm ihre Schultertasche vom Sofa und trat auf den Flur hinaus.
Es war wirklich Winnies Mutter, mit der Christina sie sogleich bekannt machte. Frau Zieglitz' Erscheinung entsprach genau der Vorstellung, die Inga sich von ihr gemacht hatte. Elegant, sehr charmant und tatsächlich eine Schönheit. An ihr wirkte nichts übertrieben, vom schwarzen Samtkäppchen und dem mit schwarzem Samt besetzten Pepitakostüm, bis zum dezenten Parfüm. Frau Zieglitz machte den Eindruck einer sympathischen Frau, aber was hatte ihr Besuch zu bedeuten?
Der kurzen Begrüßung schloß Inga gleich ihren Abschiedsgruß an, und als sie bereits im Treppenhaus war, rief Christina ihr noch nach: "Da fällt mir ein, falls wir uns vor meiner Abreise nicht mehr sehen sollten, vergiß bitte nicht, zu meinem Geburtstag zu kommen. Meine Eltern haben nämlich eine ganz besondere Überraschung für den Tag!"
"Die werde ich mir nicht entgehen lassen! Mach's gut, Christina", rief Inga zurück.
Hoffentlich, dachte Christina, denn was wollte Frau Zieglitz nur von ihr? Freundlich und selbstbewußt bat sie ihren Gast ins Wohnzimmer.
145

An der offenen Tür stutzte Frau Zieglitz: "Erstaunlich, Christina, was du hier aufgebaut hast. Hast du keine Angst davor, die Verantwortung für so viele Kinder zu übernehmem?"
"Bei der Hilfe, die ich habe? Nein, im Gegenteil, ich sprühe vor Optimismus. Die Hauptsache ist, ich bleibe gesund", sagte Christina und bot Frau Zieglitz einen Platz an. Rasch entfernte sie Likörglas, Aschenbecher und die Briefe vom Tisch und legte sie auf den Teewagen, der daneben stand. "Pastor Krause besuchte mich vorhin", sagte sie erklärend.
"Heute scheint sich jeder sicher zu sein, dich zu Hause anzutreffen, aber du fährst ja schon bald wieder fort, wie ich vorhin gehört habe." Mit diesen Worten setzte Frau Zieglitz sich in einen der Sessel.
"Ja, die Pflicht ruft. Darf ich Ihnen ein Gläschen Benediktiner oder anderen Likör anbieten?" fragte Christina höflich.
"Das ist lieb von dir, Christina, aber nein danke, ich bin wirklich nur für einen Augenblick gekommen. Zum einen, um dir zur Gründung des Chores guten Erfolg zu wünschen, und zum anderen wegen des bewußten Artikels über deine Adoption; du weißt gewiß, welchen ich meine?" fragte Frau Zieglitz vorsichtig.
Dumme Frage, dachte Christina und nickte stumm.
"Winnie sagte mir nämlich, daß du nicht weißt, wer die Information dazu gegeben hat. Darum liegt mir besonders viel daran, dir zu versichern, daß sie nicht von uns stammt."
"Frau Zieglitz!" lachte Christina erleichtert auf. "Ich verdächtige zwar jemanden, das stimmt, aber an Sie habe ich dabei nicht gedacht. Außerdem wäre es an meinem Geburtstag sowieso bekannt geworden, dann wird nämlich noch weiteres verkündet."
"So? Das muß ein ganz besonderer Grund sein? Ein Geheimnis?"
"Sonst hätte man mich kaum bis zu meinem Einundzwanzigsten zappeln lassen. Mir ist allerdings bereits bekannt, daß ich etwas über meine Herkunft erfahren soll, denn meine Eltern wissen mehr, als ich ahne", umschrieb Christina ihr Geheimnis.
"Nein!" rief Frau Zieglitz erstaunt aus, und sehr zu Christinas Verwunderung, zerrte sie so nervös an ihrem schwarzen Lederhandschuh, daß er ihr zu Boden fiel. "Warum willst du unbedingt darüber noch mehr an die Öffentlichkeit bringen?" fragte sie eindringlich, während sie den Handschuh aufhob.
Christina war verwirrt über die Schroffheit, mit der Frau Zieglitz diese Frage gestellt hatte. Ruhig antwortete sie: "Und warum nicht?"
Frau Zieglitz schien immer nervöser zu werden, aber nach einer längeren Pause schüttelte sie schließlich den Kopf und meinte: "Aber bei einer Adoption werden doch grundsätzlich keine Informationen über die leiblichen Eltern herausgegeben, ich versteh das nicht."
Noch weniger wird sie wohl verstehen, daß ihr ehemaliges Hausmädchen auch Schlagzeilen machen wird, dachte Christina schadenfroh. "Um übrigens noch mal auf den Artikel zurückzukommen, Frau Zieglitz, schauen Sie, diese Briefe hier sind das Resultat jenes Artikels" sagte sie, nahm die Briefe vom Teewagen und ließ sie auf den Tisch fallen. "Die Anzahl meiner vermeintlichen Mütter und Väter wächst stetig."
Frau Zieglitz schaute sie nur an und sagte nichts. Ihr Blick berührte Christina seltsam. Langsam sammelte sie die Briefe wieder ein und sagte entschuldigend: "Bitte verzeihen Sie, Frau Zieglitz, aber manchmal reagiert man nun mal etwas übertrieben, um seinem Ärger einmal Luft zu machen."
"Ja, und gerade deswegen versteh ich nicht, daß du dir durch weitere Publicity noch mehr Verdruß bereiten willst", entgegnete Frau Zieglitz.
"Im Gegenteil, man wird sich mit mir freuen, denn was ich dann bekanntgeben werde, sind Fakten. Auf jeden Fall wäre es doch gut möglich, daß eine von diesen Frauen", Christina wies auf die Briefe, "meine leibliche Mutter ist."
"Nein", erwiderte Frau Zieglitz unwillkürlich.
146

Christina, die aufgestanden war, um die Briefe in den Schrank zu legen, drehte sich überrascht zu ihr um. "Was meinen Sie damit?" fragte sie und kehrte an den Tisch zurück.
"Deine Mutter", sagte Frau Zieglitz und schluckte schwer, "sie sitzt hier vor dir."
Wie vor den Kopf geschlagen setzte Christina sich langsam in den Sessel und fragte mit erstickter Stimme: "Sie?"
"Ja! Dein Geburtsdatum, dein Geburtsort, dazu die Familienähnlichkeit, besonders mit meinem Vater, dem übrigens auch meine Schwester sehr ähnlich sieht, und schließlich das Schlüsselwort: Frau Haberlands Heim. Es besteht kein Zweifel, Christina."
Sie also war das Mädchen aus gutem Hause? Diese Frau war ihre Mutter? Ein Schauder überkam Christina, und am liebsten wäre sie einfach fortgelaufen. Doch unfähig, zu reagieren, schloß sie die Augen. Sie sah das Foto von Lilas Mutter vor sich; wirklich ihr Ebenbild? Nein! Christina öffnete die Augen und schüttelte unwillig den Kopf. Könnte sie nur dieser Wirklichkeit entfliehen. Sie fühlte sich völlig hilflos.
Frau Zieglitz fühlte sich genauso, vor allem wegen Christinas abweisender Miene. Die stand im krassen Gegensatz zu der Freude, mit der sie vorhin über die baldige Aufklärung der Adoption gesprochen hatte. Frau Zieglitz war es unbegreiflich, und sie bereute ihre Unbesonnenheit sofort. Sie hätte Hoppes damit konfrontieren und zu der Einsicht bringen sollen, daß keine Details darüber an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Doch was passiert war, ließ sich nun nicht mehr rückgängig machen. Jetzt hieß es, die Situation zu retten, damit ein wohlgehütetes Geheimnis letzten Endes nicht doch noch ihrem Ansehen schadete.
"Christina, erinnerst du dich noch an deine Worte, daß Hoppes eine tiefe Lücke zu füllen versuchten, als sie dich adoptierten?" brach Frau Zieglitz mit bewegter Stimme die beklemmende Stille. "Darüber könnten wir zum Beispiel jetzt sprechen."
"Das ist nicht nötig", wandte Christina sich ab.
"Doch, Christina, bitte glaub mir, daß es der schwerste Entschluß meines Lebens war, dich abzugeben, ganz bestimmt", gestand Frau Zieglitz und trocknete sich mit ihrem Batisttaschentuch die Tränen.
Christina trat ans Fenster und kehrte ihr den Rücken zu.
"Du solltest wissen, Christina, daß dein Vater, ich meine halt deinen Vater Doktor Hellwege,..."
"Etwa der Gynäkologe?" unterbrach Christina sie. "Ausgerechnet er?"
"Ja", antwortete Frau Zieglitz so ruhig, wie es ihr nur möglich war. "Deine Geburt, oder sagen wir, das Verhalten meiner Eltern zu deiner Geburt, das möchte ich folgendermaßen erklären: ..."
"Da gibt es nichts zu erklären, das Resultat ist mir schließlich bekannt."
"Ja, leider. Alles nur, weil sich niemand meinem Vater zu widersetzen traute. Er war Oberst, und wie im Beruf, hatte er auch zu Hause immer das Sagen ... "
Abermals unterbrach Christina sie aufgebracht: "Sie alle hatten Herzen aus Stahl, und von mir erwarten Sie eines aus biegsamen Silber, nicht wahr?"
"Silber?" fragte Frau Zieglitz und sah sie verwirrt an. "Ich habe lediglich auf etwas Verständnis gehofft."
"Verständnis?" Christinas Wangen glühten vor Erregung. "Dafür, daß Sie mich auf so besonders feine Art und Weise abgeschoben haben?"
"So würde ich es nicht ausdrücken ... "
"Oh nein, man kann es sicherlich auch umschreiben, aber das Resultat ist das gleiche. In Ihren Kreisen muß die Fassade erhalten bleiben. Ihr Vater hatte mit meiner Geburt nichts zu tun. Sie, Frau Zieglitz, und nur Sie allein, haben mich zur Welt gebracht, und finanzielle Not lag bei Ihnen nicht vor; eher das Gegenteil. Aber zu viel Geld macht die meisten Menschen hart, formt das Herz zum Eisblock, wie bei Ihnen. Natürlich ist es für die eigenen Eltern ein Schock, oder glauben Sie etwa, meine Eltern hatten sich wegen meiner Schwangerschaft nicht
147

gegrämt? Über vieles waren sie unglücklich, ich weiß es genau. Aber trotzdem habe ich mich durchgesetzt. Und obwohl meine Eltern nicht mit allem einverstanden waren, haben sie mir nie ihr Herz verschlossen. Ja, das sind Hoppes, Frau Zieglitz, meine Eltern." Christina holte tief Luft, bevor sie hinzufügte: "Verzeihen Sie, Frau Zieglitz, aber mein Maß ist voll."
"Das hättest du mir nicht deutlicher sagen können", Frau Zieglitz tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
"Weiß Dr. Hellwege eigentlich von mir?" fragte Christina jetzt ruhiger.
"Von dir? Wir hatten seit damals keinen Kontakt mehr miteinander, aber er wußte von der Schwangerschaft."
"Nur nicht vom fertigen Produkt?"
"Nein, Doktor Hellwege führt mit seiner Familie sein eigenes Leben. Außerdem liegt das alles lange zurück", sagte Frau Zieglitz abweisend. Schon im nächsten Moment wurde sie wieder freundlicher: "Christina, ist es nicht möglich, daß du mir ein wenig vergibst? Daß sich zwischen dir, meinem Mann und mir, sagen wir, ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt?"
"Ich verstehe, die Fassade bewahren! Und deshalb sollen wohl Winnie und Günther nichts erfahren?" Christina stutzte. "Ach Gott, biologisch gesehen bin ich ja deren Halbschwester." Diese Erkenntnis löste ein eigenartiges Gefühl in ihr aus. "Nein, Frau Zieglitz, haben Sie keine Angst. Offengestanden möchte ich selbst nicht, daß die zwei es erfahren, schließlich brauchen beide eine Mutter, in der sie ein Vorbild sehen können."
Frau Zieglitz dankte ihr für diese Einsicht, hatte aber im stillen das Gefühl verspottet zu werden.
Christina spürte den Argwohn, mit dem Frau Zieglitz sie beobachtete. Dessen ungeachtet sagte sie: "Ich möchte übrigens auch meine Eltern mit dieser Nachricht verschonen."
"Du sagtest aber doch, daß sie dich an deinem Geburtstag aufklären wollen", erinnerte Frau Zieglitz sie erstaunt.
Mit einem Mal durchschaute Christina, Frau Zieglitz' Geständnis: die ewige Angst ums Prestige! Aber im Juli wird die Gnädigste schon noch zittern. "Ja, ich soll dann mehr über mich erfahren, aber was genau bekannt wird, weiß ich natürlich nicht."
"Ob du mir wohl eine Frage beantworten würdest, Christina? Sahen Hoppes ... "
"Sie meinen meine Eltern?" fiel Christina ihr ins Wort.
"Ja, entschuldige bitte. Also sahen sie einen bestimmten Grund darin, dich zu adoptieren? Ich meine, weil sie doch schon vier eigene Kinder hatten."
Zielt diese Frage etwa auf Gerlinde, überlegte Christina. Plötzlich hatte sie das Verlangen, Frau Zieglitz irrezuführen. "Ich soll ganz besonders niedlich ausgesehen haben", antwortete sie unschuldig.
Frau Zieglitz betrachtete sie nachdenklich. Nach einer Weile sagte sie schließlich: "Ja, du hast niedlich ausgesehen. Ich traf übrigens Frau Haberland einmal zufällig in Hamburg, und sie erzählte mir, daß du ein Zuhause gefunden hättest. Leider erfuhr ich nicht, wo und bei wem. Nur ... " Sie brach ab und zog sich mit fahrigen Bewegungen einen ihrer Handschuhe an.
"Nur, was?" fragte Christina.
"Nichts, ich dachte gerade nur an deine Geburt, die vor Mitternacht war, wie mir die Hebamme versichert hatte. Ich selbst war der Meinung, sie sei nach Mitternacht gewesen, aber vielleicht war das nur eine leichte Verwirrung nach den Strapazen", meinte sie entschuldigend und stand auf.
In diesem Moment schnappte die Wohnzimmertür ins Schloß, aber niemand war zu sehen.
"Das war bestimmt meine Haushälterin, die nicht stören wollte", erklärte Christina. Dann begleitete sie Frau Zieglitz hinaus.
148

An der Wohnungstür bat Frau Zieglitz mit unterdrückter Stimme: "Vielleicht, Christina, öffnest du mir eines Tages doch die Tür zu deinem Herzen, und wenn auch nur einen kleinen Spalt."
Wieder eine Höflichkeitsfloskel, mokierte Christina sich im stillen. Ohne eine Antwort verabschiedete sie sich von ihr, kühl und keinerlei Gefühlsregungen offenbarend. Leise schloß sie noch hinter Frau Zieglitz die Tür, und dann war es mit ihrer Beherrschung vorbei.
Vor Wut und Verzeiflung begann sie zu weinen und schnell zog sie sich in ihr Büro zurück, das dem Wohnzimmer gegenüberlag. Hier konnte sie ungestört allein sein. Sie setzte sich in ihren Schreibtischsessel und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Tür zu meinem Herzen öffnen ... Nein, nicht mal einen winzigen Spalt, Frau Zieglitz, begehrte es in Christina auf. Diese Frau ist voller Lug und Trug, und ausgerechnet sie ist meine Mutter. Und auch Gerlindes!
Diese Feststellung war wenigstens etwas tröstlich für sie, denn dann hatte sie eine Leidensgenossin. Sie trocknete sich die Tränen und wieder begann das Gedankenkarussell sich zu drehen. Christina überlegte, ob sie das alles Gerlinde jemals anvertrauen könnte. Sie hätte ein Anrecht darauf, es zu erfahren, aber sie müßte darüber schweigen können.
"Warum ausgerechnet die Zieglitz?" stieß Christina wütend aus und feuerte das Telefonbuch, das auf dem Schreibtisch gelegen hatte, durch den ganzen Raum. Mit einem dumpfen Aufprall landete es an dem Tischchen bei der Sitzecke. Und dann Frau Eggert! Diese feine, würdevolle Frau Eggert, sie war ihre Großmutter, erkannte Christina plötzlich.
Nein, sie konnte Gerlinde nichts davon erzählen. Nur sie selbst wußte es, und so müßte es auch bleiben. Schon aus Liebe zu den Eltern, denen sie schließlich alles verdankte, alles was sie hatte.
149

FREITAG, 31.5.1957
Nach wie vor war es Winnies Angewohnheit, Christina unangemeldet zu besuchen, und wie so manches Mal hatte Christina auch diesmal nicht sofort Zeit für sie. Mißmutig saß Winnie im großen Wohnzimmer und überlegte, wie sie die Zeit am besten verbringen könnte. Sie strich sich ihr elegantes rosa Wollkostüm zurecht. Schließlich zog sie Kamm und Spiegel aus ihrer weißen Tasche, ordnete sich ihr windzerzaustes Haar. Zufrieden wollte sie gerade die Sachen wieder verstauen, als eine Kinderstimme ihren Namen rief.
Es war Annelie, die neugierig ins Zimmer schaute. Winnie winkte sie sofort zu sich, denn besser eine Unterhaltung mit einem Kind, als gar keine, dachte sie. Erfreut schloß Annelie rasch die Tür hinter sich und stand im Nu mit einem artigen Gruß vor ihr. Neugierig beobachtete sie, wie Winnie nun den Kamm und den Spiegel in die Tasche steckte und dabei sagte:
"Ständig die Haare einrollen, ständig zum Frisör, du weißt gar nicht, wie gut du es hast, ohne all den Aufwand."
"Mit meinen kurzen Zotteln? Die hängen mir ständig im Gesicht, und darum hab ich jetzt auch diesen Wickel da", Annelie zeigte auf das schmale, um ihren Kopf gebundene Haarband.
"Das ist doch schick", entgegnete Winnie.
'Trotzdem möchte ich lieber deine Locken haben, die gefallen mir viel besser."
"Aber auch nur deshalb, Annelie, weil du das ganze lästige Drum und Dran noch nicht kennst."
Erstaunt fragte das Kind: "Du erinnerst dich noch an meinen Namen?"
"Na klar, genauso wie du an meinen. Ich weiß sogar noch mehr, nämlich daß du hier in der Nähe wohnst und deshalb deine Tante Christina leichter besuchen kannst."
Annelie strahlte vor Freude. "Jetzt wohne ich sogar drei Wochen hier, weil meine Eltern mit Oma und Opa im Schwarzwald sind. Die machen Ferien."
"Nein, das war mir nicht bekannt."
"Dacht ich mir. Ich weiß sogar noch mehr, was du nicht weißt", sagte Annelie eifrig.
Winnie mußte lachen. "Na mal sehen", überlegte sie, "zum Beispiel, daß du vor einem Monat sieben Jahre alt geworden bist, stimmt's?"
"Stimmt. Aber das meine ich nicht, also falsch geraten."
"Falsch? Dann gebe ich auf."
"Ich hab ja gesagt: Ich weiß was, was du nicht weißt", erwiderte Annelie geheimnisvoll und schaute sich zur Tür um, ob auch niemand da war.
"Dann verrat es mir doch endlich", forderte Winnie sie auf.
"Nee, denn ich sollte das bestimmt nicht hören. Aber gehört hab ich's trotzdem, dafür konnte ich nichts."
Winnie wurde neugierig: "Von wem und was gehört?"
Annelie zuckte verlegen mit den Achseln, und das schlechte Gewissen war ihr deutlich anzusehen.
"Das scheint ja was Gefährliches zu sein, da sollten wir am besten deine Tante zu Hilfe holen", meinte Winnie im Spaß.
"Tante Christina? Nein!" wehrte Annelie ab. "Ich wollte sie nämlich gestern zum Spielen holen, aber da konnte ich ja nicht wissen, daß deine Mutter hier im Zimmer saß."
"Meine Mutter?" fragte Winnie überrascht.
"Ja, genau hier in diesem Sessel, in dem du jetzt sitzt", versicherte Annelie
150

und nickte eifrig mit dem Kopf.
Warum hatte sie ihr das nicht erzählt, wunderte sich Winnie. Und was hatte sie überhaupt hier gewollt? Entweder ist das ein Irrtum oder ganz einfach dummes Dahergerede. Außerdem ...: "Annelie, du kennst doch meine Mutter überhaupt nicht."
"Aber sie war es; Tante Christina hat doch 'Frau Zieglitz' zu ihr gesagt, und sie war so blond wie du und ganz schick, mit Kostüm und kleinem schwarzen Hut", beschrieb Annelie Frau Zieglitz.
Winnie erinnerte sich, daß ihre Mutter gestern ein Kostüm und eine schwarze Samtkappe getragen hatte, als sie am Nachmittag ziemlich aufgelöst nach Hause gekommen war und unansprechbar eine Zigarette nach der anderen geraucht hatte. Also konnte es doch stimmen? "Dann darfst du mir jetzt verraten, was du gehört hast."
"Nein, das soll doch keiner wissen", erklärte Annelie.
"Und wieso binden sie das dann ausgerechnet dir auf die Nase?"
"Die haben mich doch gar nicht gesehen. Die Tür war nur einen winzigen Spalt offen, so winzig", sagte Annelie und zeigte mit den Fingern den Abstand.
"Ach so, und du hast mit so langen Ohren dahinter gestanden und gelauscht, stimmt's?" fragte Winnie. Insgeheim war sie wütend über so viel Hartnäckigkeit. Annelie schaute sie beleidigt an. "Na, stimmt's?" forderte Winnie eine Antwort.
Annelie aber drehte sich flink um und wollte aus dem Zimmer laufen, doch Winnie erwischte sie gerade noch am Arm.
"Halt, stop! Willst du dich feige verdrücken? Das kommt nicht in Frage. Außerdem hatte ich früher doch auch manchmal Elefantenohren", versuchte Winnie einzulenken.
"Wirklich?" Annelie sah sie skeptisch an.
"Wirklich! Und ich will dir sogar noch etwas verraten. Daß ich nicht wissen konnte, in welchem Sessel meine Mutter gesessen hatte, das ist ganz klar. Aber ich weiß, daß sie hier war", drehte Winnie den Spieß um, entschlossen, Annelie zu überlisten.
"Das glaub' ich dir nicht! Eben wußtest du doch gar nichts davon."
"Natürlich nicht, weil ich dir erst mal auf den Zahn fühlen wollte, ob du beim Lauschen wirklich etwas aufgeschnappt hattest."
Annelies dunkle Augen weiteten sich vor Staunen. "Wirklich?"
Winnie nickte voller Überzeugung. "Da bist du platt, was?"
Verlegen biß Annelie sich auf die Unterlippe. Doch rasch hatte sie die Niederlage überwunden und stützte ihre Ellenbogen auf die Sessellehne, um Winnie möglichst nah zu sein: "Wie findest du es, Tante Christinas Schwester zu sein?"
Winnie glaubte, nicht recht zu hören. Um ihre Verwirrung zu überspielen, bekam sie einen künstlichen Hustenanfall. Was Annelie sich da zusammengereimt hatte, hielt sie für totale Hirngespinste. Nein, wenn so eine Göre schon mal etwas aufschnappt ... Winnie war überzeugt davon, daß Christina ihr die nötigen Erklärungen dafür geben konnte.
"Fühlst du dich wieder besser?" fragte Annelie besorgt.
"Ja, ich sag dir, wenn's so im Hals kribbelt ... ", erklärte Winnie und putzte sich die Nase.
"Du hast mir noch nicht gesagt, wie das so ist, Tante Christinas Schwester zu sein."
"Ach ja, ganz toll ist das, genau, was ich mir immer gewünscht habe", improvisierte Winnie. Um keinen Preis wollte sie sich etwas anmerken lassen.
Annelie wurde nachdenklich. "Eigentlich finde ich das komisch, denn du solltest das doch gar nicht wissen."
"Ach, das hast du bestimmt falsch verstanden."
"Nein, ganz bestimmt nicht", wehrte sich Annelie, "ich weiß doch, was ich gehört habe."
Winnie überlegte, ob nicht vielleicht doch etwas Wahres an der Geschichte sein könnte. Plötzlich fiel ihr die Ähnlichkeit zwischen ihrer Tante und Christina ein. War Christina etwa
757

Lilas Schwester? Sie mußte erfahren, was das Ganze zu bedeuten hatte. Aber von Christina würde sie nur mit Diplomatie etwas erfahren, und gerade die war nicht ihre Stärke. "Du hast recht, Annelie", sagte sie schließlich. "Ich sollte es eigentlich nicht erfahren, aber die Erwachsenen wissen, daß sich so etwas nicht für immer verschweigen läßt. Aber jetzt haben wir genug darüber geredet, wechseln wir das Thema."
Dieser Entschluß kam gerade im rechten Augenblick, denn Christina kam herein, in flotten langen Hosen und einem bunten Rollkragenpullover. "Oh Winnie, du hast mir zu allem Überfluß heute noch gefehlt!" rief sie. Zu Annelie gewandt sagte sie: "Du gehst zu Angelika." Die ließ sich das kein zweites Mal sagen und verschwand schnell.
"Der übliche Jubelschrei, wenn du mich siehst. Oder sollen wir besser sagen: eine rauhe herzliche Begrüßung zwischen Geschwistern?" fragte Winnie scherzhaft, um auf Annelies Behauptung anzuspielen. Sie streckte Christina zur Begrüßung die Hand entgegen, die diese aber in ihrer Bestürzung übersah. "Dann nicht", meinte Winnie und zog ihre Hand wieder zurück. "Annelie und ich haben aus Spaß um die Wette gesponnen. Nun, ist ja auch egal, vergessen wir's. Wie geht es dir denn? Du hast jetzt wahrscheinlich überhaupt keine Zeit mehr, bist völlig eingespannt, und zu allem Überfluß kam gestern auch noch meine Mutter."
Winnie beobachtete, wie Christina verständnislos den Kopf schüttelte, aber nicht widersprach. Also war die Mutter hier gewesen. "Wie ich sehe, hast du den Schock überlebt, aber offenbar noch nicht ganz überstanden. Also setz' dich bitte, ein Befehl von deiner Schwester, du bist nämlich ganz weiß im Gesicht."
"Sag", Winnie, das weißt du?" fragte Christina mit schwacher Stimme.
Daß sie Cousinen waren? Bloß nicht fragen, ermahnte sich Winnie. So ruhig wie möglich antwortete sie: "Natürlich." Lässig schlug sie die Beine übereinander und setzte sich im Sessel zurecht. "Komm', Christina, du siehst mich an, als wäre ich der erste Mensch. Setz' dich doch erst mal hin."
Widerstandslos gab Christina der Aufforderung nach, denn sie fühlte sich tatsächlich etwas schwach. "Ich bin völlig überrascht, daß deine Mutter sich dazu entschlossen hat", bemerkte sie.
"Ich habe nicht gesagt, daß ich es von meiner Mutter weiß", entgegnete Winnie.
"Von wem denn?" drängte Christina.
"Muß ich das gestehen? Du hast mir doch eben mit deiner Frage: 'Das weißt du?' selbst bestätigt, daß alles stimmt."
"Meine Frage? Ach du meine Güte, Winnie, die war genauso bedeutungslos wie deine Begrüßung", sagte Christina.
Winnie schaute sie entschlossen an. "So? Nun, ganz wie du willst, dann setz ich halt meiner Mutter die Pistole auf die Brust."
"Nein!" entfuhr es Christina.
"So voller Gewissensbisse? Ist das so ein gewaltiges Geheimnis? Eine von euch wird mir die Wahrheit sagen, entweder du oder sie", sagte Winnie fest.
"Bitte laß deine Mutter aus allem heraus!" Christina konnte nur noch hoffen, weiteren Kummer durch Vernunft und Ehrlichkeit zu vermeiden. Seufzend sagte sie: '"Das weißt du?', Winnie, das sind drei bedeutende Worte, jedenfalls in meinem Leben. Genau diese Frage war es gewesen, die mein Bruder mir damals in München stellte, als er mich am Ende seiner Ferien noch einmal besuchte. Mein Heimweh war damals so groß gewesen, daß ich unbedingt wieder mit ihm zurückfahren wollte. Aber davon hatte er nichts wissen wollen, er hielt mir vor, die Eltern nicht enttäuschen zu können. Nun, um es kurz zu machen; in meiner Wut über sein Unverständnis platzte ich heraus: 'Ja, du und Gisela, es sind ja nur eure Eltern, aber nicht meine.' Das war dummes Dahergerede, weißt du, so, wie man es als Kind manchmal macht, wenn man sich von seinen Geschwistern benachteiligt fühlt. Und Kurt fragte: 'Das weißt du?' Diese unbedachte Frage verriet mir mit zehn Jahren bereits, was ich nicht wissen sollte. Und
152

ich habe geschwiegen, genau, wie mein Bruder es von mir verlangt hatte."
"Erwartest du das etwa auch von mir?" fragte Winnie erregt. Warum sollte sie ihre Tante für etwas in Schutz nehmen? Nein, dachte sie, jeder sollte wissen, daß Christina ihre Cousine war. "Erwartest du das?" fragte sie noch mal.
"Ja. Schließlich hat die Liebesaffäre deiner Mutter dir persönlich in keiner Weise geschadet", sagte Christina eindringlich. "Verzeih' sie ihr."
"Was? Wieso meine Mutter? Ich dachte, du bist meine Cousine." Winnie verstand überhaupt nichts mehr. Sollte etwa ihre Mutter eine Liebesaffäre gehabt haben, und das Resultat war Christina?
"Cousine? Du hast mich aber doch als Schwester begrüßt", entgegnete Christina verblüfft.
"Aus Spielerei", erwiderte Winnie hastig. "Das hab ich doch gleich gesagt. Wegen deiner Ähnlichkeit mit meiner Tante habe ich gedacht, daß wir Cousinen sind. Aber meine Mutter, ausgerechnet sie?" Winnie starrte nachdenklich vor sich hin, bis sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. "Also ist meine Mutter auch deine", stellte sie fest.
"Nur biologisch, im übrigen bleibt sie für mich Frau Zieglitz, unser Leben bleibt also wie bisher, und daran wird sich absolut nichts ändern", beugte Christina eventuellen falschen Hoffnungen vor.
"Und ich?" fragte Winnie plötzlich unter Tränen. "Ich bin deine Schwester, Christina, ist dir das klar?"
"Halbschwester", korrigierte Christina sie.
"Ja gut, aber nicht nur biologisch, nein, ich bin es. War nicht ich es, die all die Jahre unsere Freundschaft aufrechterhalten hat? Nicht aus irgendeiner verrückten Schwärmerei heraus, sondern weil ich in dir mehr als nur eine Freundin gesehen habe. Ich hab mir dich immer als eine größere Schwester vorgestellt, komisch, nicht wahr. Und meine Mutter? Die hat mich genauso betrogen wie dich, und da behauptest du, sie hätte mir damit nicht geschadet?"
Einen derartigen Gefühlsausbruch von Winnie hatte Christina bisher noch nicht erlebt. Aber sie konnte es verstehen, zumal sie sich an ihre eigene Reaktion vom Vortag erinnerte. Und heute mußte sie versuchen, diese verfahrene Situation zu retten. Von wem konnte Winnie nur davon erfahren haben? überlegte Christina. Frau Mommsen plaudert nicht, und außerdem war gestern niemand dabei gewesen. Oder doch? Ihr fiel ein, daß jemand an der Tür gewesen war. Und vorhin war Winnie mit Annelie allein gewesen. Ob vielleicht sie ...?
"Du nickst bloß, Christina, sag' endlich was" unterbrach Winnie ihre Gedanken. "Aber bitte nicht, ich sei nur biologisch deine Schwester, und Gisela sei deine richtige. Damit würdest du mich mit meiner Mutter auf eine Stufe stellen"
Entschlossen sprang Christina auf und ging hinüber zum Wohnzimmerschrank, wo sie das Barfach öffnete. "Welchen Likör magst du am liebsten?"
"Keinen!" rief Winnie verärgert. "Verstehst du nicht, ich möchte eine Antwort haben."
"Ich auch. Ich glaube, Kakaolikör, wenn ich mich recht an Günthers Geburtstag erinnere?"
"Ach Gott, Günther! Wenn er es wüßte!" Winnie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von der Wange, während Christina zwei Likörgläser füllte und ihr eines davon mit den Worten gab:
"Was ich mir gestern nach dem Besuch deiner Mutter ausgemalt habe, war deine Reaktion, wenn du es möglicherweise doch mal erfahren solltest, - nur nicht gerade durch mich." Mit einem aufmunternden Lächeln erhob Christina ihr Glas und sagte: "Auf die Ironie des Schicksals, auf dich, Winnie, und auf uns Halbschwestern. Prost!"
"Darauf?" Winnie war aufgesprungen und lachte unter Tränen. "Christina! Ich freue mich so und bin gleichzeitig so wütend. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Aber meine Mutter, die würde ich am liebsten in diesem Likör ertränken."
153

"Offen gestanden, dafür wäre mir diese Flüssigkeit zu schade", erwiderte Christina lachend.
"Stimmt. Begießen wir lieber damit unsere geheimen Wünsche, daß sie in Erfüllung gehen. Prost!" Nachdem Winnie ihr Glas geleert hatte, fragte sie: "Und dein wirklicher Vater?"
Christina schmunzelte, als sie sich setzte, denn sie hatte diese Frage bereits erwartet. "Der existiert für mich nicht und noch weniger für dich", gab sie zu verstehen.
"Also hat sie ihn verschwiegen?"
"Sie hat nichts verschwiegen, aber es ist so, wie ich sage: er existiert nicht, und dabei bleibt es. Einverstanden?"
"Einverstanden, aber wütend bin ich trotzdem. Hier mein Vater und da meine Mutter mit ihrem Romeo..."
"Zu einer Zeit, da sie noch unverheiratet war", unterbrach Christina sie. "Außerdem scheint dein Vater alles zu wissen."
"Alles? Und was ist mit Günther?"
"Ihn läßt du aus allem raus. Eure Mutter ist ihm das größte Vorbild; zerstör es ihm nicht, sondern sei vernünftig."
"Sei vernünftig", murrte Winnie, "das ist leicht gesagt. Warum hat sie das überhaupt getan? Ich meine, dich wegzugeben?"
"Da fragst du die falsche Person, und die richtige zu fragen, erlaube ich dir nicht. Ich bin sicher, Winnie, daß sie ihren gestrigen Besuch mittlerweile bitter bereut hat. Ach, was rede ich, quälen wird sie sich. Winnie, es ist wichtig, daß diese Angelegenheit ausschließlich unter uns bleibt. Denk an das Ansehen deiner Familie; ein Skandal könnte deinem Vater beruflich schaden", gab Christina ihr zu bedenken.
"Nun sag' mal, wie kann es zu einem Skandal kommen, wenn ich mit meiner Mutter allein spreche?"
"Das unterläßt du, verstanden?"
"Himmel, deine Rücksichtnahme! Hast du nicht einen fürchterlichen Haß auf sie? So eine richtige Stinkwut? Hoffentlich hast du ihr wenigstens mal so richtig die Meinung gesagt. Hast du?"
Christina nickte in Erinnerung an ihren Wortwechsel mit Frau Zieglitz. "Also denk dran, Winnie, über alles zu schweigen, oder sagen wir, daß es eine Anordnung deiner Schwester ist, verstanden?"
"Von meiner Schwester", sagte Winnie lächelnd. "Hübsch hört sich das an. Christina, daß ausgerechnet du meine Schwester bist!" Sie sprang auf und umarmte Christina herzlich. "Deine jüngere Schwester wird gehorchen, obwohl sie es viel lieber der ganzen Welt verkünden würde. Aber meiner Mutter verzeihen?" Trotzig warf Winnie den Kopf in den Nacken: "Glaube ja nicht, daß ich ihr diese Trennung verzeihen werde."
"Und ich werde dir nicht verzeihen, wenn du mir nicht augenblicklich verrätst, wessen neugierige Ohren hier gespitzt waren."
"Ach Christina", sagte Winnie und sank in ihren Sessel zurück. "Ich habe ihr verziehen, und tu du es auch, sie ist noch so jung."
"Annelie, nicht wahr?" Christina erhielt auf ihre Frage keine Antwort, was ihr als Bestätigung genügte. "Ausgerechnet sie? So ein Lauscher. Wie, um Gottes willen stopft man einer Siebenjährigen den Mund?"
"Entweder durch eine Holzhammernarkose oder gar nicht", scherzte Winnie. "Weißt du Christina, eine solch phantastische Behauptung nimmt man einem Kind nicht so leicht ab, glaub mir."
"Fremde vielleicht nicht, aber meine Angehörigen", sagte Christina skeptisch.
"Na und? Vor denen brauchst du doch erst recht nichts zu verheimlichen, so vernünftig
154

und einsichtig, wie Hoppes sind. Vergiß Annelie und das, was nicht mehr zu ändern ist, und denke lieber an deinen Geburtstag, deinen einundzwanzigsten. Den werden wir feiern, Christina, so richtig als Geschwister! Komm, darauf füllst du noch mal die Gläser."
Christina erschrak. Dir Geburtstag war der Tag, an dem Gerlinde alles erfahren sollte. Wie würde Winnie das verkraften? "Nein, ich meine, ja", korrigierte Christina sich schnell. "Dein Glas füll ich dir gerne noch mal, nur was meinen Geburtstag anbetrifft: ich werde nicht hier sein." Schnell nahm sie das Glas und ging zum Schrank hinüber, damit Winnie ihr die Notlüge nicht vom Gesicht ablesen konnte. "Außerdem ist dies das letzte Glas, denn weitere könnten deine Zunge gefährlich lösen."
155

DONNERSTAG, 25.7.1957
Verärgert legte Christina den Telefonhörer auf. Dr. Markus hatte unverständlicherweise ihre Einladung zum Geburtstag abgesagt, und nun konnte sie ihn nicht erreichen.
Mißmutig öffnete sie das Fenster, aber die erhoffte frische Brise blieb aus. Draußen war es genauso drückend heiß, wie hier in ihrem Büro. Christina schlüpfte aus ihren weißen Pumps und schob die dreiviertellangen Puffärmel ihres weißbunten Organza-Kleides hoch. Am liebsten wäre sie jetzt im Bikini in der Ostsee, fern von all dem Festtagstrubel, auf den sie sich so lange gefreut hatte. Ihr einundzwanzigster Geburtstag! Endlich sollte es kein Geheimnis mehr sein, daß Gerlinde und sie Zwillinge waren, und dieses große Ereignis sollte vor allem auch Dr. Markus miterleben.
"Er fühle sich hier deplaziert", spottete Christina. "So ein Quatsch!" Sie schob zwei Kakteen auf der Fensterbank zur Seite und stützte ihre Ellenbogen auf, gerade als ein schwarzer Mercedes aufs Gebäude zufuhr.Es war Onkel Eduard mit Tante Helene.
Christina überhörte das Läuten an der Haustür. Erst als ihre Bürotür geöffnet wurde, wandte sie sich um.
Es war Frau Hoppe, die auf der Suche nach ihr war. "Was ist denn los, Christina, du wolltest dich doch nur umziehen. Draußen warten deine Gäste."
"Kannst du begreifen, wenn man jemandem eine freundliche Einladung schickt, um ihm den Chor vorzustellen, der noch dazu seine Idee gewesen war, und wenn derjenige daraufhin schriftlich antwortet: Er fühle sich beim Kinderchor deplaziert."
"Von wem sprichst du eigentlich?" fragte Frau Hoppe verwundert.
"Von wem wohl? Mutti, wie viele Ärzte haben mir geraten, einen Chor zu gründen?" antwortete Christina gereizt.
Frau Hoppe schloß rasch die Tür hinter sich. "Vielleicht darf ich die Absage mal lesen?"
'Tut mir leid. Fräulein Knickeberg zeigte sie Gisela, und die weiß nicht mehr, wo sie sie hingetan hat. Ich rief Dr. Markus in der Klinik an, aber er hat keinen Dienst. Wahrscheinlich steckt er im Tennisclub, und vielleicht spielt er gerade mit der gnädigen Frau Zieglitz einen Satz", fügte Christina mit plötzlicher Bitterkeit hinzu.
"Christina, ich bitte dich", wies Frau Hoppe ihre Tochter zurecht und setzte sich in den Schreibtischsessel. "Nun auch noch Frau Zieglitz, nur weil dir eine Laus über die Leber gelaufen ist."
"Du hättest Frau Zieglitz hier im Mai sehen sollen, als sie mich besuchte." Mit einer heftigen Bewegung schob Christina Notizblock und Bücher auf dem Schreibtisch zur Seite und setzte sich auf die freie Ecke.
"Aber das hast du mir inzwischen doch längst alles erzählt", beschwichtigte Frau Hoppe ihre Tochter. Sie hatte kein Interesse daran, gerade am heutigen Tag über diese Angelegenheit zu sprechen, zumal sie selbst noch nicht ausgerechnet Frau Zieglitz und Doktor Hellwege als Christinas leibliche Eltern akzeptieren konnte. "Außerdem sind deine Gäste bereits eingetroffen. Da fällt mir übrigens noch ein, daß Winnie angerufen hat, um zu fragen, wann du deinen Geburtstag zu feiern gedenkst."
Christina erinnerte sich an ihre Notlüge und fragte erschrocken: "Und was hast du ihr geantwortet?"
"Heute natürlich, was sonst?" fragte Frau Hoppe verständnislos.
"Ich hatte extra vorgebeugt, um ihr die Überraschung bei der öffentlichen Bekanntgabe, daß Gerlinde meine Zwillingsschwester ist, zu ersparen. Darüber wollte ich mit ihr nach dem Geburtstag persönlich sprechen."
156

"Seit wann ist Winnie eine zarte Mimose?" fragte Frau Hoppe.
"Du hast sie von ihrer sensiblen Seite noch nicht kennengelernt. Das Problem ist außerdem, daß Frau Zieglitz den Wunsch geäußert hat, über unsere Verwandtschaft zu schweigen, und ich habe es ihr versprochen."
Erstaunt sah die Mutter sie an. "Zu schweigen?"
"Ja, zu schweigen", bestätigte Christina ihr.
"Sag mal, glaubt diese Frau wirklich, daß du ihre Lügen auch noch unterstützt?" Frau Hoppe wurde es vor Ärger plötzlich ganz heiß. Sie öffnete die obersten zwei Knöpfe ihrer weißen Seidenbluse und fächelte sich mit einem großen Umschlag, den sie vom Schreibtisch genommen hatte, Luft zu.
"Es tut mir leid, Mutti, daß wir heute auch noch dieses heiße Thema ansprechen. Nur ist es keine Lüge, wenn man über etwas schweigt."
"Nein, aber du siehst selbst, wie gerade dadurch alles noch verfahrener wird. Sagt Frau Zieglitz A, dann soll sie gefälligst auch B sagen und zu ihrem Verhalten stehen. Du bist für nichts verantwortlich, auch wenn Winnie kommen sollte."
Und die wird kommen, dachte Christina besorgt. Andererseits leuchtete ihr ein, was die Mutter gesagt hatte. Entschlossen sprang sie auf und gab der Mutter einen Kuß. "Du hast vollkommen recht, die Karre wird nur noch verfahrener."
"Ich weiß ja, daß die ganze Angelegenheit nicht leicht für dich ist, mein Kind", sagte Frau Hoppe liebevoll.
Christina stimmte der Mutter zu: "Dein Kind, das bin ich, wenn auch inzwischen ein recht großes. Siehst du?" Sie schlüpfte in ihre Pumps und streckte sich. "In dieser Länge stecken einundzwanzig Jahre."
Gerührt schaute Frau Hoppe ihre Tochter an, ihre Jüngste. "Ein so schönes Alter ist das", sagte sie mit erstickter Stimme.
"Weißt du, manchmal wundere ich mich über mein eigenes Spielgelbild; daß ich nicht älter aussehe. Meinem Gefühl nach bin ich alles andere als erst einundzwanzig", sagte Christina.
"Weil du schon viel hinter dir hast. Gerade darum bin ich so froh, daß ihr, Gerlinde und du, ab heute endlich als Schwestern leben könnt."
"Gerlinde, mein Gott, was wird sie dazu sagen? Die große Überraschung! Worauf warten wir noch?" rief Christina aufgeregt.
"Ja, worauf eigentlich?" Nichts begrüßte Frau Hoppe mehr in diesem Moment. Sie stand auf, legte den Umschlag auf den Schreibtisch zurück und sagte: "Vorher aber läßt du mich noch dein neues Kleid richtig anschauen."
Bereitwillig zog Christina ihre Ärmel zurecht und tastete prüfend nach der weißen Seidenblüte in ihrem Haar. Zufrieden drehte sie sich anmutig einmal um sich selbst, wobei der weite Rock ihres Kleides über dem Petticoat schwang.
Mit stillem Stolz bewunderte Frau Hoppe die Schönheit ihrer Tochter und lobte anerkennend das Kleid.
"Ja, Gisela gefällt es auch", sagte Christina. "Ich hab es mir selbst zum Geburtstag geschenkt, und weißt du was? Ich habe zwei gleiche Kleider gekauft. Das andere, für Gerlinde, zeigte ich Gisela mit der Ausrede, es sei ein Geburtstagsgeschenk von Freundin zu Freundin, du verstehst schon ... Gisela wird ganz schön überrascht sein."
"Du nachher auch, schließlich ist es dein Geburtstag", meinte Frau Hoppe und klopfte ihr liebevoll auf die Schulter. Dann drängte sie zum Gehen.
Auf dem Korridor duftete es bereits verlockend nach Kaffee, und durch die offenstehende Wohnzimmertür drangen ihnen lebhafte Stimmen entgegen. Christina hielt im Schritt inne und faßte die Mutter am Arm: "Übrigens, noch etwas anderes, ich habe einen neuen Filmvertrag, und diesmal aus den USA. Was hältst du davon?"
157

Frau Hoppe schaute sie entsetzt an. "Du meine Güte, nun schon aus den USA! Aber du bist nun mal auf Verträge angewiesen."
"Ja, nächstes Jahr geht's auf nach Hollywood. Das ist neben Gerlinde 'das' Geburtstagsgeschenk", erwiderte Christina mit einem glücklichen Lächeln.
"Nun, wenn's so ist, dann herzlichen Glückwunsch."
Christina bemerkte plötzlich Angelika, die aus dem Wohnzimmer schaute und im gleichen Moment wieder verschwand. "Lassen wir sie nicht länger warten", meinte sie entschlossen.
"Du holst aber erst noch Gerlinde aus ihrem Zimmer, sie wartet dort nämlich auf dich", sagte die Mutter. "Ich glaube, sie wollte sich umziehen."
"Na gut. Und du, Mutti, schließt trotz der Hitze lieber den Knopf an deiner Bluse." Scherzend fügte Christina noch hinzu: "Es könnte sonst gefährlich für dich werden."
Frau Hoppe sah an sich herab. Belustigt lachte sie auf und gab ihrer Tochter einen liebevollen Klaps.
An der Wohnzimmertür trennten sie sich, und Christina ging weiter den Korridor entlang. Bei der weit offenstehenden Tür des Musikzimmers stutzte sie und hielt im Schritt inne. Ist das etwa Dr. Markus? fragte sie sich. Ihr den Rücken zugewandt, stand ein Mann in einem hellgrauen Anzug, der zusammen mit Frau Mommsen den Flügel betrachtete. Christina war sich sicher; der vertraute Klang der Stimme, das graumelierte Haar, es bestand kein Zweifel. Aber was hatte nach der unfreundlichen Absage seine Meinung geändert? Was auch immer, Hauptsache, er war hier, dachte Christina und trat zu den beiden ins Musikzimmer.
Erst jetzt sah sie, daß er sich darum bemühte, den richtigen Platz für einen auf dem Flügel stehenden Strauß langstieliger rosa Rosen zu finden. "Was für ein herrlicher Strauß!" entfuhr es ihr.
Dr. Markus wandte sich um. "Frau Gessler!" rief er erfreut. Seine blauen Augen strahlten, als er mit ausgestreckter Hand auf sie zukam. "Ich weiß gar nicht, wozu ich Ihnen zuerst gratulieren soll, zum Geburtstag, zu diesem herrlichen Haus, zur Gründung des Chores oder zu ihrem blühenden Aussehen. Genau, wie Ihr Onkel mir sagte: 'Sie blüht, wie eine Rose'."
"Ach, mein Onkel" winkte Christina verlegen ab. "Wieder mal er! Er übertreibt immer, stimmt's, Frau Mommsen?"
"Die Getränke!" sagte die Haushälterin plötzlich sehr geschäftig. "Entschuldigen Sie bitte, aber ich muß mich schnellstens darum kümmern."
"Ohne eine Antwort auf und davon, typisch Frau Mommsen", versuchte Christina ihre plötzliche Verlegenheit zu überspielen, dennoch froh, einen Augenblick mit dem Arzt allein sein zu können. "Ich freue mich jedenfalls, Herr Doktor, daß Sie trotz Ihrer Absage noch gekommen sind, zumal..."
"Absage?" fiel er ihr überrascht ins Wort.
"Ja, haben Sie etwa nicht ... ?" Verblüfft unterbrach Christina sich. "Da hat sich wohl jemand einen Scherz erlaubt."
"Und das scheint dem- oder derjenigen auch voll gelungen zu sein. Nein, Frau Gessler, wie könnte ich Ihre Einladung ablehnen? Sie ist mir eine Ehre, und ich habe mich sehr darüber gefreut. Alles, was Sie hier aufgebaut haben ..."
"...habe ich nur Ihnen zu verdanken", beendete Christina seinen Satz.
"Geben Sie derjenigen die Anerkennung, der sie gebührt. Ihnen selbst. Auch wenn ich nicht gewesen wäre, dann wären Sie jetzt hier auf Ihrem hübschen Grundstück, nur vielleicht nicht mit einem Kinderchor", meinte Dr. Markus.
"Sehen Sie? Und gerade der macht mich so glücklich. Ich freue mich, daß Sie endlich Gelegenheit haben, sich alles anzusehen. Außerdem, Herr Doktor, wird es am heutigen Tag noch eine ganz besondere Überraschung geben."
158

"Vielleicht ein Chorkonzert?" fragte Dr. Markus.
"Eine Kostprobe? Die bekommen Sie selbstverständlich sowieso", lächelte Christina verschmitzt. "Immer noch gespannt?"
"Sehr. Darf ich raten?"
"Ja, warum nicht, aber ich helfe Ihnen ein bißchen nach. Zum Beispiel: Geben Sie nachher nicht dem Sekt die Schuld, wenn Sie mich doppelt sehen."
Ein kleines Spiel also, dachte Dr. Markus erleichtert. Für einen kurzen Moment hatte er befürchtet, daß Christina vielleicht die Verlobung mit diesem Vierärpel bekanntgeben würde. Schmunzelnd sagte er: "Hat die junge Dame, die ich vorhin flüchtig auf dem Flur gesehen habe, und die das gleiche Kleid trug, wie Sie, vielleicht etwas damit zu tun?"
"Was? Dasselbe Kleid?" fragte Christina verwundert. "Da müssen Sie mich gesehen haben."
"Mit rötlichem Haar? Nein!" antwortete Dr. Markus kopfschüttelnd.
"Da haben Sie allerdings recht. Dann war es Gerlinde, aber wieso..." Christina war es unbegreiflich, daß Gerlinde das Kleid bereits angezogen haben sollte.
"Gerlinde, sagten Sie?"
"Ja, das Mädchen mit den rötlichen Haaren, die Überraschung. Wir werden beide einundzwanzig, das heißt Gerlinde eigentlich erst nach Mitternacht. Leider sehen wir uns nicht ähnlich, darum weiß auch bisher kaum jemand davon", sagte Christina.
Deutlicher brauchte sie nicht zu werden; Dr. Markus hatte verstanden. "Nicht zu glauben, da wünsche ich Ihnen viel Glück", sagte er.
Plötzlich wurde die Schiebetür zum angrenzenden Wohnzimmer ein Stückchen aufgeschoben, und Alois steckte seinen Kopf herein. "Oh, Entschuldigung", sagte er, als er die beiden sah.
"Schon gut, Alois, komm nur herein, dann kann ich dich mit meinem Lebensretter bekannt machen", bat Christina ihn.
"Falls du Dr. Markus meinst; wir beide haben uns bereits unterhalten, und zwar über..." Alois brach mitten im Satz ab und entschuldigte sich für einen Moment. Es dauerte nicht lange, bis er, mit einem Geschenk unter dem Arm, wieder zurückkehrte. "Hier ist es, über den Inhalt dieses Päckchens haben Dr. Markus und ich uns unterhalten. Was glaubst du wohl, Christina, was das ist?"
"Das?" verlegen zuckte sie mit den Schultern. "Vielleicht ein Spiel, ein sehr großes? Oder ein Bild? Nein, ich weiß es nicht."
"Natürlich nicht", meinte Alois lachend. Vorsichtig legte er das Päckchen auf den Flügel, um genügend Platz zum Auspacken zu schaffen.
Gespannt tastete Christina über das bunte Papier und sagte: "Wenn das kein Bild ist!"
"Ja, aber was für eins?"
"Alois, dein Grinsen erinnert mich an deine Lausbubenzeit, dieses Bild vielleicht auch?" Mit dieser Frage hatte Christina das Papier bereits entfernt und beim Anblick der eingerahmten, farbigen Vergrößerung einer Aufnahme, die sie und Alois als Hansel und Gretel zeigte, rief sie erfreut aus: "Ja, habe ich es nicht gesagt!"
"Mein Onkel machte damals mehrere Aufnahmen", erklärte Alois ihnen, "und diese hier war meine Lieblingsfotografie. Du, Christina, und ich Hand in Hand, singend im Wald."
"Glauben Sie ja nicht, Herr Doktor, daß ich auch privat mit diesem Lausbuben Hand in Hand durch den Wald gelaufen wäre", fügte Christina hinzu, um eventuellen falschen Vorstellungen vorzubeugen. "Weißt du, wo sie hingehört, Alois? Unten in die Halle, und zwar so, daß sie jedem, der hereinkommt, sofort ins Auge fällt."
"Eine großartige Idee, Frau Gessler", pflichtete Dr. Markus ihr bei.
"Nicht wahr?" Christina freute sich, daß er gleicher Meinung war. Sie bat Alois, der mit ihrem Vorschlag auch einverstanden war, das Foto sofort aufzuhängen, und dann mit allen
159

Gästen gemeinsam in der Halle zu warten. In ungefähr fünfzehn Minuten wollte sie nachkommen.
"Ja gut", sagte Alois. "In der Zeit können wir viele Löcher in die Wand bohren.
Hell auflachend gab Christina ihm das Bild zurück. "Außerdem vergeßt bitte nicht, einige Sektflaschen und Gläser mit nach unten zu nehmen. Wir stoßen auf das Bild an, dazu haben wir mit Dr. Markus zusammen allen Grund", sagte Christina. "Und jetzt kümmere ich mich um etwas anderes sehr Wichtiges. Also bis gleich." Verstohlen blinzelte sie Dr. Markus zu und verließ das Musikzimmer.
Allein auf dem Flur, strahlte sie vor Glück. In Gedanken zitierte sie Goethe: 'Seiner Rede Zauberfluß, sein Händedruck und ach ...', nein, sein Kuß fehlte, seufzte sie, leider.
Als sie Gerlindes Tür erreicht hatte, klopfte sie kurz an und trat sofort ein. 'Tut mir leid, Gerlinde, daß ich ... ", Christina stutzte: beide standen sich tatsächlich in den gleichen Kleidern gegenüber. "Und du bist auch hier?" fragte sie Gisela, die hinter Gerlinde stand.
"Wie du siehst", antwortete Gisela vergnügt, während sie die weiße Seidenblüte auffing, die aus Gerlindes kurzer Lockenfrisur rutschte, einer neuen Frisur, die Christinas sehr ähnlich war.
"Ja", seufzte Christina, "und eigentlich sollte mich das nicht wundern."
"Bist du erstaunt, weil ich das Kleid anhabe? Gisela sagte, es sei ein Geschenk von dir."
"Für deinen morgigen Geburtstag, aber daß du es heute schon trägst, das ist eine gelungene Überraschung."
"Siehst du, Gerlinde, was habe ich gesagt?" meinte Gisela und steckte ihr die Blüte wieder ins Haar.
"Wie kommt es, du Eulenspiegel, daß aus deinem Eigenlob leichte Gewissensbisse klingen?" fragte Christina streng.
"Vielleicht, weil du dir das einbildest, Schwesterherz? Gerlinde wollte sich umziehen, und da dachte ich mir, warum überraschen wir dich nicht gleich richtig? Das war alles. Außerdem hast du zum Umziehen ziemlich lange gebraucht."
"So? Darüber solltest du eigentlich froh sein, denn offenbar seid ihr auch eben erst fertig geworden." Mit einem prüfenden Blick ging sie um Gerlinde herum, dann nickte sie zufrieden. "Wir beide im gleichen Aufzug, Gerlinde, da werden alle aber staunen."
"Jetzt siehst du, warum ich so voreilig war." Mit diesen Worten schlüpfte Gisela rasch aus dem Zimmer, im Vorbeigehen noch eine Praline aus der Packung auf der Frisierkommode stibitzend.
"Weißt du, daß ich noch nie ein so schönes Kleid besessen habe? Und noch dazu das gleiche wie du", erklärte Gerlinde ihr voller Freude. "Gibt es vielleicht einen bestimmten Grund dafür?"
"Zum Beispiel?" fragte Christina schelmisch.
"Das frage ich dich."
Mit einem Lächeln hob Christina die Schultern. "Ich kaufte mir dieses Kleid halt zum Geburtstag, und glücklicherweise war es zweimal vorhanden. Und wenn ich uns jetzt so anschaue, möchte ich fast sagen: Es ist schade, daß wir uns nicht ein bißchen ähnlicher sehen, vielleicht hätte man uns dann sogar für Zwillinge gehalten. Wäre das nicht ein Spaß gewesen?"
"Warum müssen Zwillinge sich immer ähnlich sehen?"
Christina stutzte. "Meinst du das nur allgemein?"
Diesmal war es an Gerlinde, sich zu wundern. Sorgfältig ihre Worte abwägend, fügte sie hinzu: "Sagen wir, manche Menschen besitzen eine ungewöhnliche Begabung fürs Kartenlegen, verbunden mit gewissen hellseherischen Fähigkeiten. Hast du das schon mal bei jemandem erlebt?"
"Ja, natürlich", lachte Christina. "Unser sogenanntes Naturtalent, befähigt durch seine
160

scharfen Ohren, für die selbst die dicksten Wände nicht dick genug sein können. Daß ich auch nicht eher an meinen holden Bruder gedacht habe! Der hat dir also davon ..."
Gerlinde konnte ihre Freude nicht mehr verbergen. "Mit anderen Worten, Christina, du weißt es?" fragte sie aufgeregt und mit leuchtenden Augen.
Wie von einer Last befreit, trat Christina auf sie zu und drückte sie für Sekunden fest an sich. "Seit meinem Klinikaufenthalt."
"Und ich weiß es seit vergangenem Jahr, als ich Kiel verließ", gestand Gerlinde ihr.
Christina starrte sie an und rief: "Nein, das ist doch nicht wahr!"
"Kurt hat mir geraten, bis zum einundzwanzigsten Geburtstag zu warten, weil du es dann auch erfahren solltest."
"Wenn man schon mal Kurts Rat befolgt!" meinte Christina kopfschüttelnd. "Dabei habe ich mir nichts sehnlicher herbeigewünscht, als diesen Augenblick. Was glaubst du wohl, warum ich dich so oft in München angerufen habe? Da tappen wir fast ein Jahr lang auf Zehenspitzen umeinander herum. Gerlinde, ich kann nur noch sagen, du bist mein schönstes Geburtstagsgeschenk." Erneut drückte sie Gerlinde fest an sich. Den Arm um ihre Zwillingsschwester gelegt, nahm Christina sie mit sich zu der gepolsterten Sitzbank in der Fensterecke. "Komm, ein paar Minuten haben wir Zeit. Weißt du, mich erstaunt, daß du meinem Bruder so ohne weiteres geglaubt hast."
"Dem Hiobsboten?" Gerlinde wischte sich die Freudentränen aus dem Gesicht, während sie sich vorsichtig setzte, um ihr Kleid nicht zu zerdrücken. "Nein, da vergewissert man sich doch, und zwar umgehend. Ich wußte, daß meine Mutter Frau Beese immer alles anvertraut hatte."
"Und sie hat es dir gestanden?" fragte Christina aufgeregt.
"Sagen wir, daß sie keine andere Wahl hatte. Sie machte es sich wirklich schwer, denn nach wie vor gilt für sie die Schweigepflicht", sagte Gerlinde.
"Ich weiß", warf Christina ein.
Erstaunt sah Gerlinde sie an. "Von wem?"
"Meiner Mutter."
"Ich sprach doch vorhin mit deiner Mutter, aber sie erwähnte nicht, daß du von mir weißt", sagte Gerlinde.
"Und mir sagte sie nichts von dir, als sie eben bei mir im Büro war. Aber jetzt versteh ich, Gerlinde. Sie wird mit Gisela gesprochen haben, und deshalb auch jetzt schon das Kleid und unser Alleinsein. Kein Wunder, daß Gisela nicht mehr abwarten konnte. Ach, all das wäre uns erspart geblieben, hätten deine Eltern uns nicht getrennt", meinte Christina.
"Ja, als hätte es im Heim keine Einzelkinder gegeben", entgegnete Gerlinde, und zum ersten Mal klang bitterer Vorwurf in ihrer Stimme. "Und glaub mir, seit ich es weiß, kommt mir das ganze wie ein Puzzle vor, zu dem mir noch unendlich viele Teile fehlen. Auch Frau Beese konnte mir die nicht geben."
"Zum Beispiel, wer unsere leiblichen Eltern sind, nicht wahr?" fragte Christina vorsichtig.
"Ja, aber mehr noch interessiert mich, warum wir überhaupt abgegeben wurden."
"Wegen Geld und Ansehen", sagte Christina mit Nachdruck. "Du schaust mich so verwundert an?"
"Das ist ja wohl verständlich. Sag, kennst du sie?"
"Und ob! Du übrigens auch", fügte Christina hinzu, "vielleicht nicht ihn, aber sie."
Gerlinde bekam plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. "Ist sie etwa hier?", fragte sie angstvoll.
"Nein, keine Angst."
"Gott sei Dank! Aber ich merke schon, daß du mir so manche Frage beantworten kannst.Doch heute, Christina, sollten wir uns nur auf uns beide konzentrieren. Einverstanden?" fragte Gerlinde.
161

"Das wäre ich nur allzugern, wenn nicht ausgerechnet Winnie nachher aufkreuzen würde. Mir genügt nämlich, wenn nur eine von euch im Beisein der Gäste aus allen Wolken fällt, und das wird sie", erklärte Christina. "Winnie ist unsere Halbschwester, Gerlinde, so unwahrscheinlich es auch klingt."
"Was? Das bedeutet doch, daß Frau Zieglitz ... Christina, das kann nicht wahr sein." Ungläubig schüttelte Gerlinde den Kopf. Einen Moment lang bheb sie regungslos sitzen, dann sprang sie plötzlich auf, nahm ihre Kleidung von der Reise, die auf dem Bett lag, über den Arm, doch dann überlegte sie es sich wieder anders. Sie legte die Sachen zurück und hängte sie statt dessen Stück für Stück nacheinander mit großer Geschäftigkeit in den Schrank. Nach einem prüfenden Blick schloß sie die Schranktür. Dann ging sie zur Frisierkommode und räumte Kamm und Bürste in eines der Schubfächer.
Christina beobachtete sie mit einiger Verwunderung. Sie dachte an ihre eigene Reaktion nach dem Geständnis von Frau Zieglitz: lähmendes Entsetzen, verworrene Gedanken und zum Schluß Tränen vor Wut. Wie verschieden doch jeder Mensch reagierte. "Schade, daß im Moment kein Hausputz anliegt", meinte sie scherzhaft, um Gerlinde abzulenken. Eigentlich gab es nichts mehr zu tun, aber Gerlinde suchte und fand weitere Beschäftigung.
Sie prüfte das Wasser in der Vase mit den weißen Freesien, die auf dem Nachttisch stand, und zupfte die Bettdecke ein bißchen zurecht, bevor sie sich doch wieder zu Christina setzte.
"Frau Zieglitz also, das ist eine ganz beachtliche Schreckensbotschaft", meinte Gerlinde nachdenklich. "Genauso wie vor einem Jahr die Nachricht, adoptiert zu sein. Weißt du, Christina, daß ich eine ganze Zeit gebraucht habe, um das zu akzeptieren?."
Wem sagst du das, hätte Christina am liebsten geantwortet, aber sie nickte nur stumm, denn sie wollte sie nicht unterbrechen.
"Und daß ausgerechnet du meine Schwester sein solltest, versteh mich bitte nicht falsch, aber alles zusammen klang so unglaublich. Und nun, von all den Frauen, die in Kiel leben, ist auch noch ..." verständnislos schüttelte Gerlinde den Kopf.
"Genau das habe ich mir auch schon so oft gesagt", flüsterte Christina.
"Woher weißt du überhaupt, daß ausgerechnet sie es ist?" fragte Gerlinde.
"Durch die gnädige Frau höchst persönlich, mein Geschenk von ihr zum Einzug in dieses Haus."
"Du meinst, sie kam selbst bei dir beichten?"
"Ja, so unwahrscheinlich es auch klingen mag", erwiderte Christina.
"Das klingt wirklich unwahrscheinlich, denn sie und Frau Eggert waren doch nun nicht gerade begeisterte Fans von dir."
"Wie reizend umschrieben!" lachte Christina. "Und du, Gerlinde, ein Hausmädchen, welche Ehre für Oma und Familie."
"Ach ja, das ehemalige Hausmädchen, Christina,... "
"Das plötzlich zur Gnädigsten 'Mutti' sagt", platzte Christina heraus. Doch schnell hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Entschuldigend legte sie ihren Arm um Gerlindes Schultern und sagte: "Nein, keine Sorge, von dir wissen sie noch gar nichts."
"Ich denke, wir sind Zwillinge, was theoretisch bedeutet... " sagte Gerlinde verwundert.
"Daß sie denkt, ich weiß nichts von einer Zwillingsschwester, die sie deshalb auch nicht erwähnt hat", unterbrach Christina sie rasch.
Gerlinde strich sich ihre kurzen Locken aus der Stirn. "Ich finde für alles keine Worte mehr. Was mich wundert ist, wie sie es überhaupt erfahren hat. Soviel ich weiß, herrscht bei einer Adoption gewöhnlich Schweigepflicht."
"An Günthers letztem Geburtstag hat sie es indirekt durch mich erfahren", erklärte Christina. Ausführlich schilderte sie ihr die Szene, die sich an jenem Nachmittag in der Zieglitz-Villa abgespielt hatte. "Frau Zieglitz schien wirklich einer Ohnmacht nahe",
162

schloß sie ihre Erzählung ab.
Das konnte sich Gerlinde lebhaft vorstellen. "Sie scheint gesundheitlich recht labil zu sein", meinte sie.
"Sie ist eine gute Schauspielerin, das ist alles. Da sieht man mal wieder den untrüglichen Instinkt, Gerlinde, denn meine Abneigung gegen Frau Zieglitz habe ich früher oft selbst nicht verstanden, weil gerade sie der Typ von Frau ist, den ich eigentlich bewundere: hübsch, elegant, selbstsicher. Sie macht sogar einen intelligenten Eindruck."
"Sie ist intelligent", sagte Gerlinde überzeugt.
"Raffiniert ist sie, verwöhnt und egoistisch. Hätte sie es sonst zugelassen, daß man uns Schwestern trennt?" rief Christina wütend. "Sie haben wahrlich genug Geld, so daß sie nicht dazu gezwungen waren."
"Vergiß nicht Frau Eggert, die hat das Sagen. Ich kenne sie!" gab Gerlinde zu bedenken.
"Ich auch, und wie! Oma hat uns aber nicht in die Welt gesetzt."
'Trotzdem glaube ich, daß inzwischen jeder Beteiligte auf eigene Weise seinen Kummer hat."
"Weißt du, Gerlinde, deine Nachsicht ist wirklich bewundernswert, aber vergiß bitte nicht, daß Frau Zieglitz brausende Feste feierte, während du Not und Elend kennenlerntest: die Flucht, den Verlust der Eltern, nie ein richtiges Zuhause ... "
"Christina, laß es erst mal gut sein", unterbrach Gerlinde sie.
Christina, die erst jetzt spürte, wie schwer es ihr wirklich gefallen war, Gerlinde mit der ganzen Wahrheit zu konfrontieren, atmete erleichtert auf und sagte: "Gern, machen wir jetzt Schluß damit, Gerlinde. Außerdem gibt es gegen Wut und Verbitterung eine wirksame Medizin: Ablenkung. Und die finden wir, indem wir jetzt mit den anderen die Freude über unsere Wiedervereinigung teilen. Heute hier und morgen mit der ganzen Welt, dafür sorgen die Reporter bestimmt. Was meinst du, gehen wir?"
Kopfnickend stimmte Gerlinde ihr zu, obwohl sie nicht gerade ausgesprochen froh war über Christinas Bedürfnis nach Publikum und Öffentlichkeit. Sie trat noch einmal vor den Spiegel der Frisierkommode und sagte : "Komm', Christina, schauen wir uns zusammen noch einmal an."
Da standen sie nun, wie zwei Kinder, Hand in Hand. Christina feingliedriger, mit hübscher schlanker Figur und ein wenig größer als Gerlinde, die nach wie vor knabenhaft war, aber ein zartes, intelligentes Gesicht hatte. Waren sie auch grundverschieden im Aussehen und ihren Interessen, das beglückende Gefühl, neben der Zwillingsschwester zu stehen, empfanden beide mit gleicher Intensität.
"Und bald gehört Winnie mit zu unserer Runde, außer daß sie vorher noch völlig ausflippt. Aber für den Fall haben wir ja den Spezialisten Dr. Markus zur Stelle."
Gerlinde räusperte sich und fragte schmunzelnd: "Nur für den Notfall?"
"Hoffentlich nicht nur", entgegnete Christina.
"Also stimmt es, daß du ihn liebst?"
"Ja", sagte Christina mit einem verträumten Lächeln. "Er hat einen breiten Oberkörper an dem man sich geborgen fühlen kann. Das war mir übrigens schon in der Klinik aufgefallen, aber da hing leider sein weißer Kittel zwischen uns, der eine gewisse Distanz forderte. Heute aber, in seinem Anzug, und dazu seine Würde und das selbstbewußte Auftreten, Gerlinde,..."
"Du hast ihn also schon gesehen?" unterbrach Gerlinde sie.
"Und ob! Ach du meine Güte", rief Christina und schaute auf ihre Armbanduhr, "nichts wie los, ich hatte versprochen, in fünfzehn Minuten unten zu sein. Die wundern sich sicher schon, wo wir bleiben."
Damit hatte Christina vollkommen recht, denn trotz der angeregten Unterhaltung, und trotz des Sekts, den sich einige inzwischen zu Gemüte führten, trat fast jeder mehr oder
163

weniger ungeduldig von einem Bein auf das andere. Alle standen in der hell und großzügig angelegten Eingangshalle, denn lediglich neben der Treppe gab es eine kleine Bank, auf die sich aber niemand zu setzen wagte. Also blieb sie leer, bis Frau Mommsen schließlich ein Tablett mit Gläsern und einem Krug mit eisgekühltem Saft darauf abstellte.
Wiederholt wanderten die Blicke zur Treppe hinauf, bis Gerhard schließlich keinen Hehl mehr aus seiner Ungeduld machte. Kopfschüttelnd schaute er auf die Uhr: "Fünfzehn Minuten? Wer sich da aufgehängt hat, ist bereits beerdigt."
Kurt klopfte seinem Bruder beruhigend auf die Schulter: "Geduld, mein Lieber, Geduld, an einem Tag wie diesem klappt verständlicherweise nicht alles auf die Sekunde."
"Junge, Junge, seit wann regiert denn bei dir die Vernunft?" fragte Herr Hoppe erstaunt.
"Weißt du etwa nicht, daß Liebe wahre Wunder bewirken kann?" mischte Onkel Eduard sich ein, während er sich den Schweiß von der Stirn rieb. "Jetzt geht mir übrigens ein Licht auf, Kurt. Erwartet uns hier vielleicht die Verkündung deiner Verlobung? In dem Fall scheint Christina es schwer zu haben, die Glückliche zum Runterkommen zu bewegen. Hoffentlich hat sie es sich nicht zuletzt noch anders überlegt", meinte er neckend, wofür er von seiner Helene einen diskreten Tadel hinnehmen mußte.
Gerlinde und Kurt, das also war die Überraschung, dachte Inga, die das Gespräch schweigend mitverfolgt hatte. Auch Dr. Markus hatte zugehört und amüsierte sich im stillen über Eduard Hoppes Unwissenheit.
Kurt allerdings reagierte lediglich mit einem überlegenen Grinsen, als Alois plötzlich Toni, der am Ende des Korridors vor der offenen Tür der Aula stand, das verabredete Zeichen gab. Daraufhin begann der Chor mit Offenbachs 'Barkarole', denn in diesem Moment erschienen oben an der Treppe Christina und Gerlinde, auf die sich sofort alle Blicke richteten.
Christina hielt Gerlinde an der Hand zurück, um diesen Augenblick richtig zu genießen, zumal sie Winnie nirgendwo sah. Außerdem wollte sie dem Vater die Gelegenheit geben, seine Rede zu beginnen.
Mit erhobenem Glas trat er ihnen an der untersten Stufe entgegen und rief: "Da sind sie ja! Erheben wir unser Glas auf Christina und Gerlinde, unsere Zwillinge!"
Durch die kleine Geburtstagsgesellschaft drang ein Raunen der Verwunderung.
"Mein lieber Friedrich, es ist zwar heiß, aber nun wiederum auch nicht so heiß", sagte Onkel Eduard verständnislos.
Herr Hoppe ließ sich nicht beirren. "Ich schulde wohl denjenigen, die das Ganze für unfaßbar halten, eine kurze Erklärung. Und obwohl es nicht meine Stärke ist, Reden zu halten, bin ich über diese Aufgabe sehr glücklich. Also, Christina kam vor Mitternacht zur Welt, und Gerlinde danach, was dennoch nichts an der Tatsache ändert, daß sie Zwillingsschwestern sind."
"Und daß ich die Ältere bin", neckte Christina vergnügt ihre Schwester und winkte dabei charmant nach unten, wo Gisela mit der Kamera stand. Indirekt galt ihr Lächeln aber Dr. Markus, der neben Gisela stand und ihr strahlend zunickte.
Gerlinde beobachtete sie; Auftritte und Publikum gehörten zu Christinas Beruf, das wurde ihr nun sehr deutlich. Plötzlich ließ Christina den winkenden Arm sinken und flüsterte ihr zu: "Ich glaube, jetzt gibt es ein Donnerwetter." Sie hatte Winnie erblickt, die durch den Haupteingang hereinkam, festlich gekleidet und mit einem kleinen Bündel Hund unter dem Arm. "Komm, es ist besser, wir gehen runter zu meinem Vater", schlug Christina vor, und sprach damit Gerlinde aus tiefster Seele.
Auch Inga hatte Winnie bemerkt; mit einem unguten Gefühl ging sie ihr sofort entgegen. Ihr Gefühl sollte sie nicht getäuscht haben, wie Winnies Gruß ihr bereits bewies.
"Ich kann nicht glauben, was ich da oben sehe. Was bedeutet das?" fragte Winnie verstört.
164

"Ganz genau das, was du siehst: zweieiige Zwillinge" erklärte Inga.
"Was? Und das sagst du so ruhig?"
"Ich bin genauso platt wie du, und sicherlich kommt gleich eine Erklärung dafür."
"Die brauche ich nicht, aber auf den Schreck ein Glas von deinem Gesöff da. Oh Mutti,....", stieß Winnie leise aus.
"Mutti?" wiederholte Inga zweifelnd. "Hier, nimm erst mal mein Glas, du scheinst es nötiger zu brauchen, als ich. Nebenbei bemerkt, das Gesöff ist Sekt und aufs gute Wohl der Zwillinge zu genießen."
"Als hätten die es so nötig, wie wir", rief Winnie entrüstet, und in Sekundenschnelle hatte sie das Glas geleert.
"Pst", zischte Inga ihr zu.
"Was heißt hier Pst?"
"Daß du deine Stimme dämpfen darfst."
"So, glaubst du etwa, meine Mutter würde bei dem Anblick nur flüstern? Ach Gott, die nun auch noch..." rief Winnie beim Anblick von Annelie, die ihr ausgerechnet in diesem Moment, begeistert in die Hände klatschend, entgegenlief.
"Nun habe ich noch eine Tante, zu schick, was?" sagte sie aufgeregt.
"Ja, die fallen plötzlich alle vom Himmel", antwortete Winnie wütend. "Darauf muß ich unbedingt noch einen Schluck von diesem Wasser trinken."
Mittlerweile waren die Gäste ungeduldig geworden, denn die angekündigte Erklärung ließ auf sich warten.
"Friedrich, wir warten!" rief Tante Helene, die sich sonst immer zurückhielt.
"Winnies Erscheinen hat offenbar selbst Vater aus dem Konzept gebracht", flüsterte Frau Hoppe Kurt zu.
Der hatte die Szene mit Inga beobachtet, und mit der Meinung, Sekt wäre jetzt eine gute Medizin für Winnie, nahm er ein volles Glas und ging zu ihr hinüber. "Zum Aufmuntern", sagte er.
"Dann darfst du mir dieses gleich auch noch füllen", entgegnete Winnie und hielt ihm ihr soeben geleertes Glas entgegen.
"Nein", hielt Inga sie zurück, zumal sie auch Annelie mit einem Glas zurückkommen sah, die aber gerade noch rechtzeitig von Frau Hoppe abgefangen wurde.
"Ja, unsere Zwillinge", begann Herr Hoppe und legte seinen Arm um Christina, die ihm zuflüsterte: "Bitte mach's kurz, Vati".
"Also unsere Zwillinge, was gibt es da eigentlich noch zu erklären? Nur wenige Tage nach ihrer Geburt wurde der eine Zwilling bereits adoptiert und zog mit seinen Eltern nach Pommern. Zum Glück waren uns damals der Name und die Umstände bekannt geworden, und auch ein kleines Babyfoto von Gerlinde war zu der Zeit in unsere Hände gelangt. Für uns war es ganz selbstverständlich, daß die beiden später zusammengehören sollten. Nur sah es schon bald nicht mehr so selbstverständlich aus; der Krieg, die Flüchtlinge. Doch trotz dieser Tragik, und durch unbegreifliche Zufälle, wurde dieses 'später' heute doch noch zur Wirklichkeit", Herr Hoppe rieb sich gerührt die Augen trocken. "Gerlinde und Christina, ihr beiden, ich möchte jetzt auf euer Wohl anstoßen, mögt ihr von heute an euren Weg gemeinsam weitergehen."
Mit klingenden Gläsern, unter lautem Gelächter und mit großer Freude wurden die Zwillinge beglückwünscht, bis schließlich Kurt seiner Gerlinde mit einem Kuß ein Glas Sekt überreichte und Alois Christina endlich zu seinem Bild führte, das seinen Platz an der Wand erhalten hatte.
"Da hängen sie, die Gründer, als Kinder, Hand in Hand; mögen sie genauso ihren Chor ans Ziel führen!" rief Kurt. "Darauf einen Toast!"
"Richtig! Einen Toast!" rief Onkel Eduard und nickte Winnie zu, die neben ihm stand
165

und wieder ein neues Glas Sekt in der Hand hielt.
"Ja, vor allem auf diesen ereignisreichen Tag, an dem sicher noch einige andere mit einem Jubelschrei an die Decke hüpfen werden. Prost!" sagte Winnie und tupfte dem winselnden Bündel in ihrem Arm das Glas an die Schnauze.
"Was für eine ulkige Promenadenmischung ist denn das?" fragte Onkel Eduard.
"Die? Das ist ein Hund mit einem Kopf und vier Beinen, und auch alles andere stimmt."
"Ich hoffe, der Köter ist nicht für Christina, sie hat nämlich ihren Penny", gab Onkel Eduard zu bedenken.
"Ja und? Dann hat sie gleich noch einen Dollar dazu", entgegnete Winnie. Sie schaute verstohlen um sich, da sie Gerlinde und Christina noch nicht so bald über den Weg laufen wollte. Möglichst auffällig begann sie, von einem Bein auf das andere zu treten. "Herr Hoppe, ich muß diesen Ableger von unserer Plattschnut irgendwie unterbringen, bevor meine Mutter sich einschaltet, denn dann wandern die süßen Hundchen ganz woanders hin."
"Und mir scheint, du mußt auch mal dringend woanders hin", sagte Onkel Eduard amüsiert.
"Das stimmt, und zwar sofort", gestand Winnie.
"Hier unten ist eine, gleich rechts um die Treppe herum."
"Schon gut", winkte sie ab und drückte ihm Fräulein Plattschnuts winselnden Ableger in die Hand. "Die oben kenn ich, in der Wohnung, vierte Tür links."
Schnell lief Winnie die Treppe hinauf und verschwand in der Wohnung. Vor Christinas Büro blieb sie stehen und schaute aufmerksam um sich. Es war niemand zu sehen, und vorsichtig öffnete sie die Tür einen kleinen Spalt, um zu schauen, ob das Zimmer leer war. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, das keiner im Büro war, huschte sie flink hinein und schloß leise hinter sich die Tür. Zielstrebig ging sie zum Telefon und wählte die Nummer von zu Hause.
Sie brauchte nicht lange zu warten, doch trotzdem mußte Günther ihr ungehaltenes: "Endlich" hinnehmen, bevor sie hastig sagte: "Günther, sitzt du? Tu's lieber, falls dich Christinas Geburtstagsgeschenk umwirft. Du wirst es kaum glauben, aber sie hat eine Zwillingsschwester bekommen, und weißt du, wer das ist? Gerlinde Hoffmann! - Nein, ich spinn' überhaupt nicht. Nach Einzelheiten darfst du Mutti fragen, sie ist nämlich bestens über alles informiert. So, und nun möchte ich mit ihr sprechen, und zwar bevor du ihr irgendwelche Fragen stellst, verstanden? Beeil dich, ich bin angeblich auf der Toilette. - Daß du nichts kapierst ist wirklich nichts Neues und spielt im Moment auch keine Rolle, hol sie endlich, geh schon, avanti!"
Am anderen Ende der Leitung krachte es, wahrscheinlich war Günther der Hörer auf den Boden gefallen. Ungeduldig trommelte Winnie mit den Fingern auf den Schreibtisch. "Oh Mutti", sagte sie plötzlich in einem hochmütigen, süßlichen Ton, "diese Freude, einundzwanzig Jahre, herzlichen Glückwunsch zu deinen Zwillingen! - Hallo! Du sagst ja gar nichts. Hallo Mutti!" Winnie legte mit einem zufriedenen Grinsen den Hörer auf. Wahrscheinlich war ihre Mutter in Ohnmacht gefallen.
Befriedigt schlich Winnie sich wieder auf den Korridor hinaus, verließ die Wohnung und spähte um den Treppenpfeiler herum zur Gesellschaft hinunter. Christina, offenbar schon auf der Suche nach ihr, ging gerade fragend von Tante Helene zu Inga, die beide verneinend den Kopf schüttelten. Einen günstigen Moment abpassend, gelangte Winnie unbemerkt zu den Getränken.
Inga hielt inzwischen Christina mit den Worten fest: "Das war aber eine ganz schöne Überraschung."
"Ja, nach einundzwanzig Jahren." entgegnete Christina glücklich.
"Gerlinde? Die meine ich nicht, aber Überraschung ist dafür gar kein Ausdruck. Diese Neuigkeit muß ich langsam verdauen. Nein, im Augenblick meine ich eigentlich deinen heben
166

Arzt", flüsterte Inga, denn dieser befand sich in Hörweite; er unterhielt sich gerade mit Frau Hoppe.
"Inga, stell dir vor, er hat mir rosa Rosen geschenkt", flüsterte Christina ihr ins Ohr.
"Nur die Rosen?" fragte Inga.
"Die Vase gehört mir, soviel ich weiß."
"Der Flügel gehört dir auch, seit man ihn dir geschenkt hat."
Christina sah sie mit großen Augen an. "Du meinst..."
"Daß die Rosen ihren besonderen Platz nicht zufällig dort eingenommen haben."
"Meinst du wirklich?" fragte Christina aufgeregt. "Bist du dir sicher?"
"Nein, aber mein Instinkt sagt mir, daß du vielleicht mal bei Dr. Markus nachfragen solltest."
"Inga, stell dir vor, wenn ..." schwärmte Christina.
"Dann ist eine Verlobung für dich bald in Sicht."
"Nun bleib aber mit den Füßen auf der Erde", zügelte Christina sie. "Im Moment hätte ich lieber Winnie in Sicht."
"Keine Sorge, die ist da, wohin Onkel Eduard sie nicht begleiten konnte", warf Gerhard ein, der gerade zu ihnen getreten war.
"Du darfst Inga jetzt begleiten", ermunterte Christina Gerhard, "und zwar dorthin, wo es allemal erlaubt ist, zum Chor. Ich will ihn gleich mit dem Chorvater, Dr. Markus, bekannt machen."
"Mit Vergnügen, darf ich?" fragte Gerhard und reichte Inga seinen Arm.
Christina hielt sie noch schnell zurück und sagte: "Übrigens, unter uns Inga, Winnie ist Gerlindes und meine Halbschwester."
"Christina, wir haben nicht den ersten April, aber vielleicht erfindest du bis dahin auch für mich einen Platz in deiner Verwandtschaft", meinte Inga lachend.
Christina schob Ingas Arm in Gerhards und klopfte ihr zuversichtlich auf die Schulter. Eigentlich ein hübsches Paar, die beiden, dachte sie. Dann wandte sie sich um und stand plötzlich vor Gerlinde.
"Falls du Winnie suchst, die ist da drüben", sagte Gerlinde zu ihr. Sie wies zur Bank, von der Winnie sich eben ein weiteres Glas Sekt nahm. "Ihren Dollar hat Gisela."
"Was?" fragte Christina verblüfft.
"Den Dollar für deinen Penny, einen Ableger von Fräulein Plattschnut", erklärte Gerlinde ihr.
"Nein, das gibt's doch nicht. Komm Gerlinde, wir müssen Winnie sofort ins Gebet nehmen, bevor sie den gesamten Sektvorrat verbraucht hat."
Lächelnd bemühte Gerlinde sich, so gelassen wie möglich zu wirken, als sie nun auf Winnie zutraten, und sie mit einer kurzen Umarmung begrüßten. "Wir beide haben uns lange nicht mehr gesehen; nett siehst du aus", versuchte Gerlinde möglichst unbefangen das Gespräch zu beginnen.
Doch Winnie war für Nägel mit Köpfen und hatte die Heimlichtuerei endgültig satt. Entschlossen sagte sie: "Ihr braucht mir gar keinen Honig um den Bart zu schmieren. Sagt mal, ist meine Mutter ganz und gar von Gott verlassen?"
Gerlinde bekam ein flaues Gefühl in der Magengegend, und Christina raunte Winnie zu: "Pst! Sei doch still!" Schnell schaute sie sich nach Onkel Eduard um, der aber nicht in Hörweite stand, sondern sich mit den anderen Gästen zusammen gerade auf den Weg zur Aula machte. Nur Frau Mommsen und Frau Hoppe waren noch hier und besprachen etwas miteinander. Niemand schien Winnie gehört zu haben, aber ungehalten sagte Christina zu ihr: "Hast du's denn total vergessen?"
"Was? Ach so, ja", erwiderte Winnie mit einer Unschuldsmiene. Um schnell das Thema zu wechseln, zog sie ein kleines, hübsch verpacktes Geschenk aus ihrer Handtasche. "Das meinst du, dein Geschenk."
767

"Du weißt genau, was ich meine", sagte Christina gereizt, doch dann fügte sie in freundlicherem Ton hinzu: "Unser Geschenk bist du, Winnie."
"Ja?" Die Bitterkeit in Winnies Stimme war nicht zu überhören. "Und deshalb warst du dir im Mai auch so sicher, daß du heute nicht hier sein würdest, nicht wahr?"
"Es war so, daß es plötzlich anders kam, als ich damals dachte", versuchte Christina sich herauszureden.
"Und alle Gäste wurden schnell zusammengetrommelt", fiel Winnie ihr ins Wort. "Ja, ich hatte eine gute Spürnase."
"Wem sagst du das!" sagte Christina verlegen.
"Nur weiß ich diesmal nicht, ob ich die Nase für deine Geburtstagsfeier hatte, oder für die rapide anwachsende Familie." Ein Ton von Wehmut mischte sich in Winnies Stimme: " Ich wünschte, ich wäre jetzt du, Gerlinde."
"Hör zu, Winnie, ich hatte für uns drei eine kleine Nachfeier geplant, um mit dir ein paar vernüftige Worte unter sechs Augen zu wechseln, für die du leider jetzt keinen klaren Kopf mehr hast."
"Keine Sorge, mein Kopf ist immer klar", protestierte Winnie, besonders, weil Christina ihr nun auch noch das volle Sektglas aus der Hand nahm und es mit einem Glas eisgekühlten Orangensafts vertauschte.
Ihren Arm um Winnies Schultern legend, sagte Christina: "Wir drei Schwestern werden nun fest zusammen halten."
"Du meinst, zwischen eurer engen Zwillingsbindung ist noch ein Platz für mich? Wirklich, Christina? Ich bin glücklich für euch, für euch beiden und jetzt auch für mich, ganz bestimmt."
"Immerhin haben wir jetzt einen Anlaß zum Anstoßen", sagte Christina und holte nun auch für sich und Gerlinde je ein Glas.
"Also auf uns, das dreiblättrige Kleeblatt!" Die drei Schwestern stießen ihre Gläser aneinander, währen der fröhliche Gesang des Chores die Halle erfüllte.
168



Doris Goertz